Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Siebentes Kapitel.

Es war gut für den Braunen, daß er in Teschen überreichliche Zeit gehabt hatte, sich auszuruhen.

Und doch hatte Gerhard, wie er nun durch die Felder in den schwülen Abend hineinjagte, kein Ziel vor sich, und seine rasende Eile hatte keinen Zweck, nur daß er instinktiv fühlte, wie er nach der fürchterlichen Gewalt, die er sich angetan, die ungeheuersten seelischen Erregungen in sich zu verschließen, in einer großen physischen Anstrengung Rettung suchen müsse vor dem Sturm in seinem Innern, der sich nicht länger fesseln lassen wollte, und der, entfesselt, ihn zum Wahnsinn treiben konnte. Ja, auf diesem Wege lag Wahnsinn! wie mochte eine Menschenseele das fassen, ohne sich zu zerrütten! wie mochte ein Menschenherz das empfinden, ohne zu zerspringen! Wär's nicht eine Barmherzigkeit des Himmels gewesen, wenn die Gewitterwand da im Süden hinter ihm, anstatt zusammenzusinken, wie sie's nun schon alle diese Tage um diese Stunde getan, das gräßliche graue Haupt mit den blinkenden Hörnern emporgereckt hätte über ihn weg bis in den Nord und nach Ost und West, über den ganzen Horizont, und mit gnädiger Nacht ihm eine Welt verdeckt hätte, die ihn, wie sie so lieblich dalag im rötlichen Abendscheine, zu verhöhnen schien, daß er wisse, was er wußte, und doch weiterleben wolle, weiterleben müsse, daß es keinen Blitzstrahl für ihn gebe, der ihn zerschmetterte und erlöste von der unerträglichen Last und Qual eines ein für allemal zerstörten Lebens!

Dies konnte nie wieder heilen, nie wieder gut werden! Was bis dahin geschehen war und ihm die Sonne verdunkelt hatte – es waren nur Wolken gewesen, die vorüberzogen, vorüberziehen mußten, ja vielleicht in ihrem Schoße dennoch Segen bargen, ihre Flut nur herabschütteten, die Erde zu tränken, auf daß die junge Saat tausendfältige Frucht trage; die Windsbraut nur entfesselten, damit der junge Baum seine Wurzeln tiefer und tiefer treibe in den mütterlichen Boden. Maggies wunderbaren Reize hatte seine Phantasie entzündet und ihn glänzende Träume träumen lassen von einem Glücke, das nicht von dieser Erde schien, und doch so ganz irdisch, so von keinem Strahle gestreift war, der aus dem Himmel einer großen, echten, gotterfüllten Liebe fällt. Aber als die Zauberin ihm ihr wahres Antlitz zeigte, und wie tief er sich erniedrigt, und Scham und Gram ihn zu Boden drücken wollten, da hatte sich doch alsbald der Stolz aufgebäumt in dem kräftigen Herzen und hatte ihm mit eherner Stimme zugerufen: rüttle ihn ab, den dumpfen Alp einer Stunde, da deine Seele müde war! wache auf! und erhebe die Augen zu den ewigen Göttern, die dir verzeihen werden, daß du ihre Hoheit für einen Moment in den buhlerischen Reizen einer Circe zu finden geglaubt!

Und die Götter hatten ihm verziehen.

Und was er je an frommen Regungen und heiligen Gedanken in seinem Herzen, seiner Seele empfunden und getragen, was ihn je über ihn selbst und alles Kleinliche und Gemeine hoch erhoben – es hatte sich in dem einen Bilde gestaltet, es hatte sich in dem einen Namen zusammengefaßt: Edith!

Und von ihr, der Reinen, der Hohen, das Erdenleid abzuwehren, das um sie her in trüben Dünsten aufstieg – es war sein Sinnen und Trachten gewesen, bei Tag und bei Nacht. Vor diesem Gedanken war selbst die herzliche Teilnahme zurückgetreten, die er an dem Mißgeschick des Freundes nahm; ja, er hatte das schwere Gewitter, das über Kantzow stand, nur immer in Verbindung gesehen mit den schwarzen Wolken, die sich tief und tiefer auf Kosenow zu senken schienen; und hatte in seiner Seele Plan auf Plan gewälzt, wie er den Freund lösen könnte aus den Banden, in die er sich in seines Sinnes Torheit verstrickt, ein täppischer Löwe, und wie er den Vater des angebeteten Mädchens retten könnte aus den Schlingen, die ein hinterlistiger Schurke ihm gestellt und die sich nun über dem Haupte des Arglosen, Ahnungslosen zusammenzogen.

Und wenn es zum Schlimmsten kam, wenn das Verderben unaufhaltsam war und die Katastrophe hereinbrach – nun denn, der Löwe ist ein königliches Geschöpf und würde sich das Mitleid verbitten; und – durfte er sich's gestehen? – hatte er sich nicht mehr als einmal schon ertappt bei dem Ausmalen des Bildes: wie er zu der rührenden Gruppe der Tochter, die den blinden Vater führt, auf deren zarte Schulter sich der Wankende stützt, herantrat und bat: Laß mich dir helfen! vertraue mir den Vater! vertraue mir dich selbst! ich hätte nicht gewagt, mich dir, du Hohe, zu nahen, derweil des Glückes Sonne dir den Pfad erhellte; nun, da so tiefes Dunkel auf deinen Dornenweg fällt, nun, da du arm bist wie auch ich, dich nur auf dich selbst verlassen kannst wie auch ich – jetzt darf ich mich dir wohl zum Gefährten anbieten, zum treuesten der Diener.

Und vor dem Lichte, das von diesem Bilde ausging – trotzdem die zaghafte Hand kaum einen Umriß fest zu ziehen, kaum eine Farbe kräftig aufzutragen wagte – wie hatte sich das Dunkel gelichtet, wie war aus dem Dunkel eine rosige Dämmerung geworden, die Verkündigerin eines Tages voll von prächtigstem Sonnenschein!

Und nun! und nun!

In der Einsamkeit der Felder – allein mit sich und seinem namenlosen Leide – schrie Gerhard laut wie ein auf den Tod verwundetes Tier.

Das Mädchen, für das er jeden Blutstropfen seines Herzens freudig dahingegeben hätte, die Enkelin des Mannes, der seinen Großvater erschlagen! Der Freund, an dessen prächtige Gestalt sich seine junge Seele bewundernd angeschmiegt, wie eine Rebe an den Ulmenbaum, der Sohn des Mannes, der seines Vaters Vater ermordet! mit schnöder Hinterlist, mit feiger Grausamkeit, mit brutaler, entsetzlicher Schändung alles dessen, was selbst dem rohesten Wilden heilig ist! Und seine Helfershelfer! Mit welchem Mitleid hatte das herbe Los des einen ihn erfüllt! Wie hatte er sich gesorgt, es mochte den armen Mann zu all dem Leid, das er schon erduldet, nicht noch schlimmeres treffen! wie sich bemüht, ein Mittel zu finden, ihm das Leid abzuwehren oder den Schlag doch so zu wenden, daß er nicht allzu hart treffe! Und dieser Mann – es war nicht auszudenken! – Und jener andere, vor dem ihn vom ersten Moment eine innere Stimme gewarnt, in dem er mit jedem tieferen Blicke in die Verhältnisse der Menschen um ihn her den bösen Feind dieser Menschen, den planvollen Zerrütter und Zerstörer dieser Verhältnisse zu erkennen geglaubt – hatte er nicht bereits gehofft, dem Buben einen dieser Tage die dichte Maske von dem schändlichen Gesichte zu reißen! Und nun war dieser Bube so sicher vor ihm, als wenn er bereits nicht mehr die reine Luft mit jedem Atemzuge vergiftete und die Erde entheiligte überall, wohin ihn die plumpen, heimtückisch schleichenden Füße trugen.

So mußte der Liebe süßer Trank verschüttet werden, und den übervollen Becher des Hasses und der Rache durfte die gierige Lippe nicht berühren.

Ja, ja, er gierte nach Rache, nach Vergeltung! Was er da vorhin ausgesprochen von der Unsittlichkeit der Rache über ein Menschenalter hinaus – es war ja nicht sein wahres Gefühl, seine echte Überzeugung gewesen, und Schmach ihm, wenn es so gewesen, auch nur einen Augenblick! Hier war nicht eine persönliche Eitelkeit verdientermaßen gekränkt, oder auch ein schuldloses Herz tief verwundet, oder selbst ein Lebensglück zerstört. Das alles mag, das alles darf, das alles kann das Individuum in sich selbst verwinden oder auch nicht verwinden – es bleibt sein eigenstes Geschick. Hier war geschehen, was die Menschheit beleidigt und durch die Verzeihung des einzelnen, selbst wenn er verzeihen wollte und könnte, nicht aus der Welt geschafft wird, die solche Taten aus ihren Fugen treiben würden, ließe man sie ungestraft geschehen, blieben sie ungesühnt. Nichts verjährt! – er hatte es nicht verstanden, als der Mann es sagte – jetzt verstand er es. Und wenn Geringeres verjähren mochte – dies nicht – nicht dies! Oder was war's denn, was jetzt aus seinem Herzen aufquoll wie dunkles Blut aus einer Wunde, die man nicht oder kaum gefühlt, als sie uns geschlagen wurde in dumpfer Kindheit, und mit der man groß geworden, ohne der verblaßten Narbe zu achten – und die nun doch einen edleren Teil verletzt und nach langen, langen Jahren aufbricht zu unserem Entsetzen! –

Als er geboren wurde, war der Großvater schon seit sieben Jahren verschollen; als er heranwuchs, hatte er – wie wäre es anders möglich gewesen! – Partei genommen für den Vater, dem der Großvater so schweres Leid, so viel Verdruß, Kummer und Sorge als einziges Erbteil hinterlassen; er hatte ihn, den sein leiblich Auge nie erblickt, nur durch des Vaters grollendes, durch der guten Mutter weinendes Auge gesehen; – hatte ihn, dessen Schatten so schwer in seiner verehrten Eltern, in sein eigenes, in der geliebten Brüder Leben fiel, verabscheut und gehaßt wie einen bösen Dämon, wie den Vater der Finsternis, gegen dessen Übermacht die guten Dämonen, die Geister des Lichtes, vergeblich ringen. So war's gewesen vor ein paar Tagen noch, als er dem Freunde die Geschichte seiner Familie in Umrissen zeichnete und sich nicht entbrechen konnte, den Mann um einen Vater zu beneiden, der, ein einfacher Bauer, durch Geistes- und Willenskraft eine namenlose Familie zu einer so stolzen Stellung im Leben erhoben, während jener, sein Ahn, der hochgeborene Edelmann, ein altes, ruhmvolles Geschlecht durch maßlose Wüstheit in einen Abgrund von Kummer, Schmach und Gram gestürzt.

Und nun –

Wie hatten sich die Bilder verschoben! Wie hatten sie ihre Stellen gewechselt! Wie traten auf dem dunkeln Bilde hell und heller die großen Linien und prächtigen Farben hervor, während von dem anderen das trügerische Licht schwand, und es nun dastand – roh und plump, wie es in Wirklichkeit war, und geschändet mit schwarzen Flecken, die keine Kunst wegwaschen konnte! Wie königlich hob sich der Edelmann neben dem tückischen Bauer! Ein Dämon immerhin, aber in den verzerrten Zügen doch noch eine Ähnlichkeit mit den Söhnen des Himmels! Ein Wüstling gewiß, aber mit einem Stück vom Herzen noch, und dies Stück groß genug, um Raum zu haben für treue, aufopfernde Freundschaft, für die Bewunderung des Genius, für das Mitleid mit einem armen, verlassenen Knaben, für Scherz und tolle Possen unter des Henkers Beil! Ein Abenteurer zweifellos, aber ein Ritter, wenn nicht ohne Tadel, so ohne Furcht! Und der Ritter erschlagen von dem Bauer, nicht in offenem, ehrlichem Kampfe um die Güter der Erde, die der eine nicht lassen und auf die der andere nicht länger verzichten will – nein, wie ein Metzgerknecht den Stier erschlägt, nachdem er ihm mit plumper Schlauheit die unentrinnbare Schlinge um die starken Lenden, den mächtigen Nacken geworfen.

Das sollte ungestraft bleiben, ungesühnt?

Und gab es dafür keine Sühne, und gab es dafür keine Strafe im Sinne und nach dem Buchstaben des Gesetzes – so blieb die Rache, die kein Gesetz kennt, als ihr eigenes.

Und Rache! rauschte der Abendwind in den Wipfeln der Riesentannen, unter denen er dahinjagte; und Rache! blickte es mit finsteren Augen aus dem Dunkel des Dickichts, das die Sandhügel bedeckte, auf die er jetzt, weit abseits von der Straße, das keuchende Pferd hinauftrieb.

Nun hielt er oben auf der kahlen Höhe. Unter ihm lag im letzten Schein des Abends die reiche Küstenlandschaft; dort durch die breite Öffnung zwischen weißschimmernden Dünen blaute die See herein; in der Ferne rechts zwischen Dünen und Wiesen die Türme eines Städtchens; weit zerstreut auf den Feldern, von Baum und Busch umgeben, die stattlichen Höfe; gerade vor ihm auf mäßiger Höhe seewärts, und gewiß mit seiner Fronte das Meer beherrschend, ein großes, weißes Schloß, dessen lange Fensterlinie im Abendsonnenschein funkelte, der mit rotem Lichte auf den dichten Massen des Parkes lag, der den landwärts mählich absinkenden Hügel bedeckte.

Die Stelle, wo er hielt, mußte jener Aussichtspunkt sein, von dem in der Gesellschaft schon so oft die Rede gewesen, und den aufzusuchen ihn bis dahin nur die rastlose Arbeit abgehalten hatte. Wie würde sein empfängliches Auge sonst sich an der so einfachen und doch charakteristischen Schönheit dieses landschaftlichen Bildes, das noch dazu eben in der günstigsten Beleuchtung stand, ergötzt haben? Was war es ihm nun? Ja, konnte er ohne tiefste Bitterkeit das weithin glänzende Schloß betrachten? Nicht, weil sie dort weilte, die ihm Treue geschworen, die ihm zum Symbol seiner Treue den Ring vom Finger gezogen? Was war sie ihm jetzt? Der Ring mahnte ihn nur an jenen, den sein Großvater wehmütig betrachtet, als der Vicomte in den Saal trat, jenen Ring, mit dem er sein Testament untersiegelt, den Widerruf des Vertrages, den der Wilde, Leichtlebige mit dem Erbvetter geschlossen – den Widerruf, der, wenn er zur rechten Zeit zur Stelle gewesen wäre, den Vachaschen Prozeß entschieden, ja unmöglich gemacht, und das Vachasche Erbe in den Besitz des Vaters, in seinen Besitz, in den Besitz der Brüder gebracht haben würde.

Und wenn es sich noch fände, das kostbare Dokument?

Der Widerruf war an keine Zeit gebunden gewesen. Das war in dem Vertrage ausdrücklich bemerkt, und gerade das hatte ja den Prozeß in endlose Länge gezogen. Wenn er sich noch fände, geschrieben von des Großvaters Hand, von ihm unterzeichnet, von ihm untersiegelt, beglaubigt durch die Unterschriften des Vicomte und seines Dieners, deren Echtheit wiederum durch den Brief des Vicomte gegen allen Zweifel geschützt war – wenn es sich noch fände, das unschätzbare Dokument? Was war unmöglich, wenn dies andere möglich gewesen, wenn das schnöde, so klüglich verhüllte Verbrechen in schwere Decke so vieler Jahre von sich geschleudert und im Lichte des Tages herumging, den klugen Augen der gänzlich unbeteiligten Gräfin deutlich sichtbar, nur, weil sie die Augen nicht schloß vor dem, was jeder sehen konnte, der sehen wollte! Und durfte er nicht sehen wollen? konnte er die Augen schließen, ohne drei andere Augenpaare zuzudrücken: die leuchtenden Augen des jungen Malers in Rom? die klugen, sinnigen Augen des Jünglings, der da in Bonn über die Pandekten gebückt saß? des fröhlichen Knaben, dessen helle Blicke jetzt über die weite Wasserwüste des Ozeans schweiften? Hatte er nicht der sterbenden Mutter geschworen, den dreien Vater zu sein, nach bestem Wissen und Gewissen, mit allen seinen Kräften! Was würde an seiner Stelle der Vater getan haben – der stolze, strenge Mann, der lieber verhungert wäre, als von dem, was er für sein gutes Recht hielt, auch nur eines Strohhalmes Breite preiszugeben? –

Er hatte längst das Pferd den Hügel hinabgelenkt auf einen schmalen, von tiefen Geleisen durchfurchten Weg, der an dem Rande des Waldes hinlief; dann bei der ersten Abbiegung links in den Wald hinein, ohne zu wissen, wohin der mit Gras und Lattich und Farrenkraut überwucherte Pfad ihn führte. Was kam's darauf an? Wollte, konnte er an die Stätte zurück, die ihm fast schon zur zweiten Heimat geworden? – zum Haus des Freundes, der nimmermehr sein Freund sein durfte? War er nicht wie der von seinem Zweifels- und Gewissenqualen umgetriebene Faust, ›der Flüchtling, der Unbehauste? der Unmensch ohne Zweck und Ruh‹? Unmensch, wenn er den Zweck nicht verfolgte, den er einzig und allein noch haben durfte! Unmensch, wenn er ihn verfolgte! ohne Ruhe so wie so.

Der Wald entließ ihn aus seinem schwülen Dunkel, ehe er sich's versah. Vor ihm lag ein großer Hof, über dessen Ziegeldächer ein Glasturm ragte – es konnte nur Kosenow sein; und dort, weiter rechts, blickte ja auch die oberste Fassade des Herrenhauses mit der Galerie der Sandsteingötter durch die Wipfel der Parkbäume.

Ein Schauer überrieselte ihn; er hielt den keuchenden Braunen an, der nur zu willig stand, und schaute lange, regungslos, starren Auges auf das friedliche Bild.

»Armes Mädchen!« murmelte er; »armes, armes Mädchen!«

Das Herz war ihm so schwer in der bang atmenden Brust, die starren Augen waren ihm so heiß – er hätte so viel darum gegeben, wenn er hätte weinen können.

Er lenkte das Pferd im Schritt an der Parkmauer hin, um die sich der Weg bog, der an der Mauerseite mit breitkronigen Platanen und Kastanien bepflanzt war, deren dichtes Gezweig ihm keinen Blick auf Park und Haus gestattete. Mochte es sein!

Und plötzlich ward ihm doch der Blick durch eine Lücke in den Bäumen, die für eine Pforte in der Mauer gelassen war: die Hinterseite des Hauses mit der vorgebauten Terrasse, die breite Treppe, der von hohen Taxuswänden eingeschlossene Blumenplatz, in dessen Mitte aus immergrünen Gesträuchen eine Flora ragte – alles getaucht in das schwermütige Licht, das der matte Widerschein der längst untergegangenen Sonne über die müde Erde hauchte. Die Fenstertür des Saales stand offen – des Saales, in dem er mit ihr jenes wunderbare Gespräch geführt, ohne zu ahnen, wie nah ihn jene Rätsel berührten, die nun – ach! für ihn keine Rätsel mehr waren; – ohne zu ahnen, daß jener zierliche Schreibtisch wohl derselbe, an dem der Abenteurer reuevoll den Ring einer verlassenen und doch geliebten Frau küßte; – daß jenes altertümliche Klavier dasselbe, über dessen Tasten seine Finger glitten, sich mit den Weisen seines Lieblingsmeisters über die trübe Schwere der Stunden wegzutäuschen; und daß jener kluge Vogel von ihm den Gruß gelernt, mit dem er über ein Menschenalter weg den Enkel empfangen, zu dem Enkel sagen sollte: es gibt Taten, die nicht verjähren, Taten, von denen, hüllten sie auch die Menschen in noch so kluges Schweigen, die unvernünftigen Tiere reden werden. –

Und doch, und doch! War's möglich, den Furien zu entrinnen, vor deren Rachegeschrei er wie im Wahnsinn durch Feld und Wald gejagt war – da, nur da konnte es sein in eben jenem Saale, wo sie weilte, die Gute, Schöne, die Schuldlose! Über die Schwelle, die ihr heiliger Fuß betrat, hätten sie ihm nimmer zu folgen gewagt, die scheusäligen Gestalten! Oh, daß er nicht dorthin durfte, nicht sich retten durfte zu ihr – zu ihr, deren engelgleiche Reinheit eine Welt von Verbrechen entsühnen mochte!

Und als hätte sie sein heißes Flehen herbeigerufen, trat die hohe, geliebte Gestalt langsam heraus auf die Terrasse und stand nun, dunkel auf dem hellen Grunde, regungslos nach dem Walde blickend, über dessen Wipfel die Wetterwand herüberdrohte. Und nun hob sie beide Arme, einer Betenden gleich, und ließ sie langsam sinken und schritt dann langsam in den Saal zurück.

Er hatte die Arme mit ihr erhoben; er hatte sie der Davonschreitenden sehnend nachgestreckt. –

Und als sie nun entschwunden, all sein Sehnen, sein Flehen sie nicht hatte halten können – die Stelle leer war, auf der sie gestanden, und die ganze Welt leer und entgöttert – da schwanden Haus und Garten wie hinter trüben Schleiern, die sich darüber breiteten.

Aber die Schleier waren Tränen, die ihm in die starren, heißen Augen traten.

Und dann hob sich krampfhaft die gepreßte Brust, die die Last nicht mehr ertragen konnte; den ersten qualvollen Tropfen folgten schnell und schneller mildere, schmerzlösende, und er weinte – weinte, wie er seit seiner Mutter Tode nicht geweint – das Haupt seitwärts an den Stamm der Platane gelegt, während das gute Roß niederwärts gebogenen Halses mit dem armen Herrn zu trauern schien.

Die breite Blätterkrone ob seinem Haupte durchschauerte raunend und murmelnd ein plötzlicher Abendwind; ein Schuhu, der dort gekauert, hob sich auf und brach raschelnd durch das dichte Gezweig – der Braune schnob – Gerhard fuhr sich über die Augen, griff nach dem Zügel und lenkte von der Parkmauer, über die er keinen Blick mehr werfen mochte, in den sandigen Weg –

Er ritt durch die stillen, heißen Felder, aus denen ein grauer Dunst aufstieg, die Gegenstände rings verdunkelnd und höher und höher den Horizont umhüllend.

Aber oben war der Äther noch rein; und in dem reinen Äther stand hellen Glanzes ein einsamer Stern.

Und Gerhard ritt dem einsamen Sterne entgegen.


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