Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Drittes Kapitel.

Der Zauber, dessen sich Julie rühmte: rings um sich her zufriedene Herzen und Gesichter schaffen zu können, wirkte heute entschieden nicht mit seiner vollen Kraft. Es sah fast so aus, als ob der verunglückten Kaffeeküche ein verunglücktes Abendbrot folgen solle. Waren die ausgezeichneten Leistungen jener nicht gewürdigt worden, weil sie für alle Welt ein paar Stunden zu spät kamen, so erschien dieses ebenso für alle Welt ein paar Stunden zu früh. In ihrer Sorge, abermals nicht zur rechten Zeit fertig zu werden, hatte Julie die Herrichtung der Tafel und was sonst an Vorbereitungen zum Abendbrot nötig war, übermäßig beeilt, und, wie bei der Kaffeeküche alles quer gegangen, so machte sich hier – zu ihrem eigenen und ihres Stabes Erstaunen – alles wie von selbst. In kürzester Frist waren die niedrigen Böcke in langer Reihe nebeneinander aufgestellt, mit breiten, eigens dazu abgepaßten Brettern belegt, die Bretter wiederum mit blendenden Tischtüchern bedeckt; das Herbeischaffen des diesmal reichlich vorhandenen Geschirrs, das Anrichten der fertig gehaltenen Speisen, endlich die Herrichtung der Sitze, die aus sehr großen, mit Stroh gestopften Säcken bestanden, über die man wollene Tücher breitete – eines folgte dem anderen mit solcher Schnelligkeit, eines paßte zu dem anderen mit solcher Genauigkeit – und da streckte sich, wie aus dem dichten Moose hervorgezaubert, die schier unendliche, für einige achtzig Personen ausreichende opulente Tafel; es fehlte, wie sich Julie an der Spitze ihres Stabes überzeugte, an nichts – nur an den Gästen.

Die aber herbeizuschaffen schien eine Unmöglichkeit, welche Mühe sich auch die Adjutanten gaben. Herrn Hinrichs Faß, berichtete Anton, sei noch zur Hälfte gefüllt, und solange ein Tropfen fließe, habe Herr Hinrichs erklärt, ließe er keinen von der Stelle. Die älteren Damen hatten ihre Promenaden, die jungen Leute ihre Spiele so weit ausgedehnt – man könnte ebensogut eine Schar hin und her hastender Ameisen einzeln auflesen, als die durch den ganzen Wald zerstreute Gesellschaft zusammenbringen – sagte Spatzing, sich das lockige Haar aus der schweißtriefenden Stirn streichend. Dasselbe bekundeten die Herren Lindblad und Benz; selbst Vadder Deep, der doch sonst zu allem Rat wußte, zuckte die breiten Schultern und murmelte etwas von Abwartenmüssen.

Aber die Kinder wollten nicht warten, und man mußte ihnen den Willen tun, schon um sie zu verhindern, die niedrige Tafel als einen besonders geeigneten Spielplatz weiter zu benutzen, wie es bereits einige wilde Buben zu Juliens Schrecken getan und dabei eine fürchterliche Verwüstung unter dem Geschirr und den Speisen angerichtet hatten. So fing denn an dem einen Ende die Kinderschar an zu schmausen unter der sehr mangelhaften Aufsicht ihrer Bonnen, zu denen sich zum Glück nach und nach einige Mütter und Tanten gesellten. Allmählich kamen auch einige Gruppen der jungen Leute von der Promenade oder den Spielplätzen und nahmen sofort, da sie doch einmal gerufen waren, an der Tafel Platz, welche, weil überall große Zwischenräume blieben, ein buntscheckiges, ganz und gar nicht festliches Aussehen bekam, um so mehr, als nur wenige mit dem vorlieb nahmen, was sie gerade vor sich fanden. Die anderen dagegen holten besonders leckere Schüsseln, die sie hier oder da bemerkt hatten, und verwandelten auf diese Weise die ursprüngliche Ordnung sehr bald in ein wüstes Durcheinander.

Zum wahren Entsetzen von Julien und zur höchsten Indignation von Frau Sallentin, die eben an der Spitze einer größeren Schar älterer Damen herankam und es für sehr unpassend erklärte, daß man, ohne auf sie zu warten, mit dem Abendessen begonnen. Julie entschuldigte sich, so gut sie konnte, und wurde dabei von Frau Suhr und Frau Fischer unterstützt, die, als Mütter zahlreicher Kinder, lebhaft ihre Partei nahmen, während Frau Bollmann und Frau Stut sich auf Frau Sallentins Seite schlugen. Es kam zu einem scharfen Wortwechsel, der damit endete, daß Frau Sallentin erklärte, in einer Gesellschaft, die denn doch schließlich ein Picknick sei, und in welcher man nicht die geringsten Rücksichten auf Leute nehme, die ebensogut ihren Teil beigetragen hätten, und denen man nebenbei, wie man sehr wohl wisse, sich zu großem Danke verpflichtet fühlen sollte, nicht länger bleiben zu können und das Anspannen befahl. Dieses Äußerste wurde nun freilich noch abgewendet, da Luising und Lindblad, die durchaus keine Lust hatten, so früh aufzubrechen, sich ins Mittel legten und den Zorn der Mutter und Schwiegermutter so weit besänftigten, daß der Befehl widerrufen werden konnte. Aber mit dem guten Einvernehmen zwischen den Damen war es zu Ende. – »Und das ist um so mehr schade«, sagte Anton zu Gerhard, »als zwischen den Herren bereits seit zwei Stunden ein Kriegsbeil nach dem anderen ausgegraben wird. Ich glaube, es liegt an dem unheimlichen Platze, und die alten hier begrabenen Berserker gehen unter uns spuken. Ich kenne das ja aus langjähriger Erfahrung, und daß sie sich in die Haare geraten, sobald sie etwas in ihren hohlen Schädeln spüren; aber so schlimm wie heute ist es nie gewesen. Besonders ist unser guter Zempin, sonst der einzige Mensch unter den Zyklopen, in einer wahrhaft polizeiwidrigen Stimmung. Weiß der Kuckuck, was er heute hat! Er muß während der letzten Tage sehr böse Erfahrungen gemacht haben und in verzweifelt schlechter Gesellschaft gewesen sein: man erkennt ihn gar nicht wieder. Er hat selbst mir ein paar Dinge gesagt, die ich um unserer alten Freundschaft willen vergessen und vergeben will; ich bitte dich, nimm dich vor ihm in acht: er schont heute weder Feind noch Freund!«

Gerhard war nur durch eine Rücksicht festgehalten worden: er wollte nicht fort, ohne Edith noch einmal gesprochen zu haben. Er wollte ihr sagen, daß die kurze Unterredung zwischen ihm und Maggie die bitteren Zweifel nicht aus seinem Herzen habe reißen können; daß, träfe Maggie auch in diesem Falle wirklich keine andere Schuld, als die unbegreiflichen Leichtsinns, doch sein Vertrauen zu tief erschüttert und in seinen Augen eine vertrauenslose Liebe eine Qual und ein Wahnsinn, und dieser Qual durch eine schleunige Abreise zu entfliehen sein fester Entschluß sei.

Und indem er so zu sich sprach, war er ehrlich genug, sich einzugestehen, daß ein einziges freundliches Wort, ein gütiger Blick von Edith genügen würden, diesen festen Entschluß umzustoßen.

Er meinte, daß sie ihm wohl dies Wort, diesen Blick hätte gönnen können; daß sie wohl etwas weniger eifrig Julie bei der Herrichtung der Tafel, bei dem Auspacken und Austeilen der Speisen hätte zu helfen brauchen; daß die Kinder, von denen sie fortwährend umgeben war, und in deren Mitte sie jetzt auch wieder an der Tafel saß, sie wohl auf ein paar Minuten losgelassen haben würden, wenn sie sich nur hätte losmachen wollen. Er galt ihr eben nicht so viel, wie er sich geschmeichelt; und sie würde ihn, wenn er nun auf der Stelle ginge, um nie wiederzukehren, vergessen – ein wenig langsamer vielleicht, wie die anderen, aber doch vergessen. Und so vergessen zu werden für all seine Liebe, für alles, was er um dieser einen willen an heiligsten Pflichten geopfert; für die Gewissensqualen, die ihn nun sein Leben lang verfolgen mußten – das würde das Ende vom Liede sein.

Mittlerweile waren die letzten aus dem Walde gekommen und hatten nicht ohne Mühe Plätze gefunden, nachdem die ersten von dem Raume, der im Überflusse vorhanden war, allzu freien Gebrauch gemacht. Noch schlimmer wurde es, als endlich auch die Herren von dem Weinfasse abließen und zu wissen wünschten, weshalb in aller Welt man sie denn gerufen, wenn man ihnen nicht einmal einen Sitz anzubieten habe? Juliens Adjutanten umliefen die Tafel und beschworen die Herrschaften, zusammenzurücken; man tat es widerwillig und ungeschickt, da man nicht getrennt werden wollte und sich doch trennen mußte, wenn der fortwährende Ruf nach »bunter Reihe« erfüllt werden sollte. Es gab überreiche Veranlassung zu allerhand Reibereien und Mißhelligkeiten, bis man sich wohl oder übel zurechtfand und Spatzing endlich der bis dahin verborgen gehaltenen Musik das Zeichen geben konnte, mit einer mächtigen Fanfare einzusetzen und dann ein, wie er wußte, in diesen Kreisen sehr beliebtes Musikstück folgen zu lassen. Diese gelungene Überraschung tat die beste Wirkung; man lobte allgemein den guten Einfall; die verstimmten Gemüter schienen sich in den Akkorden, welche die Waldeshallen gar prächtig durchrauschten, zu sänftigen, und nun wurde auch der armen Julie heute abend zum erstenmal für ihre unendlichen Mühen der gebührende Lohn. Denn kaum waren die letzten Töne verhallt, als sich Pastor Pahnk erhob und Damen und Herren aufforderte, diejenige leben zu lassen, der man alles in allem zu danken habe, daß man hier so herrlich und in Freuden lebte, und: ›Frau Julie Zempin soll leben, hurra, hoch!‹ erklang es von allen Seiten; die Musik blies Tusch und nochmals Tusch, und Julie erklärte ihrer Umgebung, daß dies der schönste Augenblick ihres Lebens sei.

Zu dieser Umgebung gehörte seit einigen Minuten auch Gerhard. Julie hatte ihn angerufen, als er von ungefähr vorüberstrich, und er hatte auf keine Weise ausweichen können, obgleich er nun, sehr gegen seinen Wunsch, unmittelbar an Juliens Seite zu sitzen kam. Denn Bagdorf, der bis dahin ihr Nachbar gewesen – auf der anderen Seite saß der Pastor – war sofort aufgestanden, um ›dem Würdigeren Platz zu machen‹, oder, wie Julie, nachdem er davongestürzt, lachend versicherte, um zu versuchen, ob er sich neben Emming Sallentin noch einschmuggeln könne. Denn sein armes Herz, sagte Julie, läßt ihm keine Ruhe, und seitdem ihm Maggie definitiv verloren ist, hat er sich darauf besonnen, daß Emming seine eigentliche, jedenfalls seine ältere Flamme war. »Ach! diese unseligen Flammen, lieber Baron! wie glücklich könnten die Menschen sein, wenn sie von diesen Flammen nicht zu leiden hätten! Ich meine natürlich euch jungen Leute; wir alten Frauen sind, Gott sei Dank! über diese Torheiten hinaus.«

Julie hatte durch den endlichen, kaum noch gehofften Erfolg ihre ganze gute Laune und Heiterkeit wiedergefunden, und Gerhard war gerade in der Stimmung, die unleugbaren Vorzüge der jungen Frau in dem besten Lichte zu sehen. Weshalb sollte er mit seinem Grame spielen, da ihm niemand Dank dafür wußte? weshalb der Stunden schönes Gut sich eigensinnig verkümmern mit Grübeleien, die zu keinem Resultate führten? Sollte er einmal entsagen, so wollte er es vollständig, auch auf die Gefahr hin, von Edith, die in keiner allzu großen Entfernung von ihm saß, für den neuesten Courmacher Juliens gehalten zu werden. Denn er hatte kaum mit ein paar höflich freundlichen Worten Julie zu ihrem Erfolge gratuliert, als sie ihn sofort, zur Gegengabe, mit jenen Liebenswürdigkeiten überschüttete, denen er so oft vorsichtig ausgewichen war; sich nur noch mit ihm unterhielt, nur noch für ihn Augen zu haben schien – alles, wie sie kichernd versicherte, um die Damen Sallentin und Stut zu ärgern, die ihnen schräg gegenübersaßen. Sie war dabei so witzig und drollig und trieb so anmutige Possen, daß Gerhard ihrem Übermut keinen Einhalt hätte tun mögen, wenn er es auch vermocht hätte. Sie versicherte ihm ein Mal über das andere, wie sie ja recht gut wisse, daß er sich nicht das mindeste aus ihr mache, und er deshalb für die Ruhe ihres Herzens weiter nicht zu fürchten brauche. Trotzdem begegnete Gerhard manchen Blicke aus den lebhaften grünlichen Augen, der ihn unter anderen Umständen gewarnt haben würde, und er konnte es zuletzt nicht mehr für einen Zufall halten, daß ihre glänzende Schulter heute so gar oft seine Schulter streifte und die zierlichen, allerdings immer überbeweglichen Füßchen so oft seinen Fuß berührten. In der inneren Aufregung, worin er sich befand, und die er durch eine gewaltsame Lustigkeit zu betäuben suchte, bemerkte er weder, daß er mehr als gewöhnlich Wein trank, noch daß Juliens kokettes Spiel und die Bereitwilligkeit, mit der er darauf einging, nicht nur von den gegenübersitzenden Frauen scharf beobachtet und mit hämischen Glossen begleitet wurden; bis jemand ihn von hinten berührte und er, sich umwendend, Anton erblickte, der ihm mit den Augen winkte. Er erhob sich unter irgend einem Vorwande und mit dem Versprechen, alsbald zurückzukehren, und folgte Anton, der ihn ein paar Schritte seitwärts führte.

»Nimm's nicht übel«, sagte Anton, »daß ich dich störe, aber es ist da oben, wo wir sitzen, eine verfluchte Stimmung, und jede Kleinigkeit ist hinreichend, die Kampfhähne wieder aneinander zu bringen. Und nun fängt der Hinrichs, der heute den Satan im Leibe hat, an, auf euch – ich meine dich und Frau Julie – zu sticheln. Zempin weiß ja, daß es dummes Zeug ist und Hinrichs ihn bloß ärgern will; aber es ist besser, wenn du dich anderswohin setzest, am liebsten mit zu uns kommst; sie sind schon empfindlich, daß du dich so wenig um sie bekümmerst. Ich weiß, daß du dich den Kuckuck darum scherst, aber tu es Zempin zuliebe!«

»Ich habe heute keine besondere Veranlassung, den Gefälligen gegen Herrn Zempin zu machen«, erwiderte Gerhard.

»Weiß, weiß!« sagte Anton, »aber man muß ihm heute etwas zugute halten. Höre! ich glaube jetzt auch, es steht in nervo rerum bei ihm nicht alles, wie es sollte; sie führen gar zu kuriose Reden. Und dabei trinkt der Hinrichs ihm immerfort zu, und, wenn Zempin auch einen Hieb vertragen kann, mit Hinrichs von Radebas möchte der Teufel nicht um die Wette trinken. Komm, ich bitte dich!«

Anton war, sehr gegen seine Gewohnheit, so dringend, und Gerhard hatte die peinliche Empfindung, daß sein Betragen während der letzten Stunde nicht ganz tadelfrei gewesen; so folgte er denn Anton, nachdem er sich von Julie beurlaubt, die ihn versicherte, daß sie seinen Platz jedenfalls freihalten werde.

Fast die ganze Zechgesellschaft hatte sich um das obere Ende der Tafel, von der sie eine Schar junger Leute vertrieben, geschart; auch das Faß war dorthin geschafft, weil Hinrichs erklärt hatte, daß Champagner nur ein Getränk für Frauenzimmer sei. Die meisten der Herren hatte Gerhard, als nächste Nachbarn von Kantzow, bereits wiederholt und manche sehr oft gesehen; von denen, die er nicht kannte, starrten ihn, wie er herantrat, einige mit der dumpfen Neugier halb oder ganz Berauschter an, während andere, ohne sich um ihn zu bekümmern, ihre lärmende Unterhaltung fortsetzten. Weder die Aufmerksamkeit jener, noch die Gleichgültigkeit dieser schien unbefangen, wie es zu sein pflegt, wenn in einem Kreise derjenige, über den man eben gesprochen, unvermutet erscheint. Anton hatte Gerhard auf den Platz gedrängt, den er selbst verlassen. Er war so zwischen Herrn Sallentin und Herrn Hinrichs zu sitzen gekommen; Herr Sallentin blickte nicht von seinem gehäuften Teller auf, sondern aß, in gewohnter Weise schmatzend, gierig weiter, während Herr Hinrichs ihm sogleich ein übervolles Glas entgegenhielt und auf ihn einschrie:

»Haben wir auch mal die Ehre! Das ist ja schön! na, dann trinken Sie mal eins! Nein, das ist nichts! aus! aus! hier bei uns wird immer ausgetrunken!«

»Ich bitte, bei meiner Gewohnheit bleiben zu dürfen«, sagte Gerhard.

»Aha!« schrie Hinrichs, »pfeifst du um die Ecke? dann haben Sie ja dieselbe Gewohnheit wie Ihr Herr Prinzipal!«

Ein rohes Gelächter, in das die meisten einstimmten, begleitete diese Worte. Gerhard blickte zu Herrn Zempin hinüber, dessen gerötetes Gesicht und blutunterlaufene Augen deutlich genug bewiesen, daß er sich in demselben Zustande befand, wie – den unermüdlich schmatzenden Sallentin ausgenommen – wohl so ziemlich die ganze Gesellschaft. Gerhard war entschlossen, sich sobald als möglich wieder zu entfernen, bis dahin aber den Tauben oder völlig Unempfindlichen zu spielen.

»Es ist doch nur in der Ordnung, wenn sich ein junger Volontär nach seinem Prinzipal richtet«, sagte er.

»Hört ihr«, schrie Hinrichs; »der junge Herr will sich nach seinem Prinzipal richten! na, da kann er's weit bringen! meinst du nicht, Christian?«

Herr Sallentin hatte nichts gehört und schmatzte weiter; auch von den anderen stimmten nur wenige in Herrn Hinrichs Lachen ein; der Witz hatte augenscheinlich keinen rechten Anklang gefunden.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Baron«, sagte Hinrichs höhnisch; »aber von uns Bauersleuten können Sie nicht den feinen Ton verlangen, wie bei dem Herrn Grafen. Wir können nicht alle Barone und Grafen sein, nicht war, Karl?«

Herr Stut schüttelte den Kopf; der Mitlacher war eine noch geringere Zahl, Herrn Hinrichs Stern schien im raschen Sinken; er stürzte ein volles Glas hinunter und rief ärgerlich:

»Meinetwegen! mir ist's recht, wenn die Herren Adligen zusammenhalten; wir haben diesmal nur den Vorteil davon. Denn ohne den Herrn Baron würden wir schwerlich hier sitzen; ich wette, er hat den Herrn Grafen herumgekriegt. Oder hast du zu guter Letzt doch klein beigegeben, Moritz, und pflichtschuldigst um Erlaubnis gebeten, daß wir uns auf deinem Grund und Boden amüsieren dürfen?«

Herr Zempin hob die zornigen Augen und sagte grollend:

»Das hast du nun schon sechsmal gefragt.«

»Aber ich habe sechsmal keine Antwort bekommen«, rief Hinrichs triumphierend; »und das ist doch kein Spaß, wenn man hier ruhig seinen Rotspon trinkt und dabei jeden Augenblick erwarten kann, daß der Förster kommt und sagt: Allons, marsch! zum Tempel hinaus!«

»Du weißt ebensogut wie ich, daß das nicht geschehen wird.«

»Den Teufel weiß ich! Woher denn? Ich denke, ihr habt euren Prozeß so gut wie verloren?«

»So warte, bis er verloren ist!«

»Bei dir muß man sich allerdings immer aufs Warten legen.«

Herr Zempin war mit einem dumpfen Wutschrei in die Höhe gefahren!

»Du brauchst nicht mehr lange zu warten, bis ich dir mein Glas an den Kopf werfe!«

»Hoffentlich nicht, bevor's so leer ist, wie deine Ta–«

Der Spötter konnte das Wort nicht beenden; der schwere Humpen sauste herüber, und wenn ihm auch nur der Kopf gestreift wurde, so war der Wurf so gewaltig, daß der starke Mann umsank, Herrn Sallentin auf die Schulter, der ruhig den Bissen, den er auf der Gabel hatte, in den Mund führte und dann, kauend, die plötzliche Last nur eben von sich wegdrückte. Aber schon war der halb Betäubte in die Höhe getaumelt, Zempin entgegen; Gerhard, Stude und ein paar andere warfen sich zwischen die Wütenden, und es gelang ihnen wenigstens, einen Kampf Mann gegen Mann zu verhindern, der für Hinrichs jedenfalls einen übelsten Ausgang genommen haben würde. Den Tobenden zerrten seine besonderen Freunde seitwärts, um ihm die glücklicherweise leichte Wunde mit Wasser zu kühlen – sehr gegen seinen Willen: er habe nun einmal die Wasserscheu; sie sollten ihm ein Glas Rotspon geben, das tue bessere Dienste! Die Freunde lachten nur und kehrten, da sie sahen, daß weiter kein Unglück angerichtet, zu ihren Plätzen zurück, die meisten hatten sich gar nicht die Mühe gegeben, aufzustehen. Bis auf einige Lücken, die nicht wieder ausgefüllt wurden, war nach wenigen Minuten die Physiognomie der Gesellschaft genau dieselbe, wie sie Gerhard vorgefunden.

Gerade diese an Stumpfsinn grenzende Gleichgültigkeit hatte ihn schmerzlich berührt. Wie tief mußte der Standpunkt der Moral einer Gesellschaft sein, wo eine solche Szene als etwas Alltägliches angesehen und behandelt werden konnte! eine Szene, die nicht unter übermütigen Jünglingen stattgefunden, sondern unter reifen Männern, Familienvätern, großen Grundbesitzern, Landstandsmitgliedern, von deren Einsicht und Entscheidung das Wohl und Wehe von Hunderten und aber Hunderten von Menschen abhing! War die scharfe Kritik des Grafen über die Lebensführung dieser Männer nicht völlig berechtigt gewesen? konnte er auch nur den Freund von dem allgemeinen Verdammungsurteil ausnehmen? Er war in brutaler Weise gereizt worden – sicherlich! aber war seine Handlungsweise weniger brutal? er mußte in seiner prekären, vielleicht verzweifelten Lage die plumpen Streiche des Gegners doppelt schmerzlich fühlen – leider! leider! aber hüllt sich ein verständiger Mann dann nicht um so dichter in das Gefühl seiner persönlichen Würde! geht ängstlich jeder Angelegenheit aus dem Wege, welche rohen und übelwollenden Menschen einen Einblick in sein Unglück, seine Verzweiflung gewährt? So war er eben der Gentleman nicht, für den er sich gab, für den er selbst den Mann noch immer genommen. Es war das letztemal, daß er dem Manne in den Weg getreten – mochte denn in Zukunft jeder von ihnen den eigenen Weg gehen!

Er hatte nach der Schneise gewollt, wo bei den Wagen zwischen anderen Reitpferden, auf denen einzelne jüngere Herren gekommen, auch sein Brauner von dem Buben des Schulten-Jochen gehalten wurde; aber er zögerte, als er den Rand des Festplatzes erreicht hatte. Er mochte sich nicht eingestehen, daß er nicht von dannen konnte, ohne ihr Lebewohl gesagt zu haben – Lebewohl für immer! Vielleicht war auch diese Liebe nur eine Täuschung und ein Traum; aber die Täuschung war so süß, der Traum so hold, und das Erwachen mußte so bitter und schmerzlich sein! Konnte er ihn denn nicht noch ein paar Stunden festhalten – ein paar armselige Stunden!

So stand er da, in trübstes Sinnen versunken, düsteren Auges auf das Treiben vor ihm starrend, das jetzt in dem matten Dämmerlicht des Abends einen höchst widerwärtigen Eindruck auf ihn machte. An der vielfach verwüsteten Tafel mochte etwa nur noch die Hälfte der Gäste sitzen; die übrigen schwärmten auf dem Platze umher, in der unsteten Weise von Leuten, die sich eben von einem stundenlangen, üppigen Mahle erhoben: wüstlautes Sprechen, Rufen, mißtönende Ansätze zu einem Gesange, der nicht über den ersten Vers des Liedes hinauskam; Quinquilieren der Musikanten, die nun zum Tanze aufspielen sollten, dazwischen Weinen übermüdeter Kinder, die nach Hause und ihren Bettchen verlangten. Von der Wagenburg her kam das Gejauchze und Gejohle betrunkener Kutscher und Reitknechte, das Wiehern und Stampfen der durch das lange Stehen unbändig gewordenen Pferde; und ob dem Haupte des Sinnenden als unheimliche Begleitung zu all dem Lärmen hier unten seltsame Töne in den Lüften: dumpfes Sausen und Heulen, Knacken, Knarren, langgezogenes Ächzen und Stöhnen der Riesenbäume, deren dichte Kronen wie aus eigenem Antriebe sich hinüber und herüber bogen, denn hier unten spürte Gerhard keinen leisesten Lufthauch in der drückenden Schwüle, und doch –

»Es wird in wenigen Minuten losbrechen«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm.

Gerhard wandte sich; es war der Förster – er hatte denselben während des ganzen Nachmittags nicht bemerkt.

»Ich bin immer hier gewesen«, sagte der Förster, wie zur Antwort auf Gerhards fragenden Blick; – »habe den Platz umkreist, wollte mich nicht einmischen und den Kinderchen die Freude verderben; aber der Sturm kommt vielleicht ohne Regen, oder der Regen, nachdem das Unglück geschehen ist; das Feuer zwischen den Steinen muß gelöscht werden.«

Das Feuer auf dem Herde der Kaffeeküche hatte man, so mancher wirtschaftlichen Zwecke wegen, weiterbrennen lassen und gerade jetzt wieder reichlich genährt; eine dicke Rauchsäule stieg von den Gräbern auf; die Flamme selbst sah man nicht, nur ihren matten Widerschein hier und da auf den mächtigen Stämmen. Das Schauerlich-Phantastische der Szene wurde noch vermehrt, als sich jetzt plötzlich hinter den Steinen der Gräber hervor dunkelrote und blaue Lichter zu gleicher Zeit nach verschiedenen Richtungen über den Festplatz bewegten.

Es war der Anfang der Illumination, die mit dem Tanze die letzte Nummer des Programms bildete.

»Sind die Menschen wahnsinnig?« rief der Förster.

»Ich habe genug dagegen gesprochen«, erwiderte Gerhard.

»Kommen Sie!« sagte der Förster.

Es klang wie eine Bitte und ein Befehl zugleich. Gerhard ging willig mit; die Stimme, die gestern und heute in seinem Herzen so laut den Förster verklagt, war für den Moment völlig verstummt; der merkwürdige Mann erschien ihm ehrfurchtsgebietender als je.

»Ich werde die Leute mit den Laternen aufhalten«, sagte er.

»Sehr wohl, obgleich ich eigentlich Ihre Gegenwart wünschte, wenn ich mit Herrn Zempin –«

»Ich bin sofort wieder bei Ihnen.«

Im Nu hatte Gerhard die ihm zunächst befindlichen Laternenträger – Dorfjungen, welche die Bäume erklettern und an vorragenden Ästen die Ballons befestigen sollten – eingeholt und ihnen die Kerzen auszulöschen befohlen. Die Jungen, die sich selbst auf den Spaß schon gestern gefreut, gehorchten nicht alsbald; Gerhard riß ihnen die Laternen fort, die Lichter ausblasend, einen Ballon, der bereits Feuer gefangen, mit dem Fuße austretend. Lindblad und der Studiosus, die diesen Teil der Illumination unter ihrer besonderen Aufsicht hatten, kamen herbeigestürzt und verlangten heftig zu wissen, was dieser Eingriff in ihre Rechte zu bedeuten habe? Gerhard sagte es ihnen in wenigen Worten, die bei der Eile, mit der er sprach, nicht höflich klangen. Die beiden Freunde, denen Gerhard vom ersten Augenblicke verhaßt gewesen, und die heute, wie gewöhnlich, zu viel getrunken, ergriffen eifrig eine so günstige Gelegenheit, ihrem Grolle Luft zu machen. Sie erklärten Gerhards Benehmen für provozierend und anmaßend, und daß sie sich seine Einmischung ein für allemal verbäten. Ein paar junge Herren, die den Wortwechsel hörten, eilten herbei und nahmen für die beiden gegen den Fremden Partei; Gerhard, der kostbare Minuten in unnützem Zanke verloren gehen sah, geriet in Zorn und machte die Sache dadurch nur schlimmer; man schrie von allen Seiten auf ihn ein; er mußte jeden Augenblick gewärtig sein, daß es zu Tätlichkeiten kommen werde, als plötzlich eine gewaltige Stimme, die nur aus einer Brust kommen konnte, den Lärmen um ihn her übertönte. Er durchbrach den Kreis seiner Angreifer und stürzte nach den Hünengräbern, von wo die gewaltige Stimme erschallte, und wo er wiederum erst einen Ring zu durchbrechen hatte, der sich aus Neugierigen gebildet, die sehen wollten, wie das zwischen Zempin und dem Förster ablaufen würde.

Der Förster stand mit dem Rücken gegen den hochragenden Stein, dessen kahle Fläche für ihn beschrieben war, das Gewehr halb im Anschlage – gegen Herrn Zempin, der wenige Schritte von ihm entfernt auf ihn eindonnerte: noch sei er hier Herr, und wer ihm auf seinem Grund und Boden entgegentrete, der tue es auf seine Gefahr!

»Die Gefahr ist auf Ihrer Seite«, rief der Förster mit starker Stimme; »ich bin hier im Namen des Gesetzes und fordere Sie zum anderen Male auf, meinen Anweisungen Folge zu leisten. Deep, der dort steht, wird mir bezeugen, daß ich den Herrn Landrat gebeten, das Nötige zu veranlassen, es ist nichts dergleichen geschehen; ich habe bereits die äußerste Nachsicht geübt; eine weitere Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Sag es ihm, Deep! dir wird er es glauben!«

Vadder Deep, der in unmittelbarer Nähe des Försters an dem Steine stand, so daß Zempin jene und den Stein vor sich hatte, zuckte die breiten Schultern und lächelte, während Zempin schrie: »Ich brauche Deeps Belehrung so wenig wie die Ihrige, Herr Förster. Zum letzten Male frage ich Sie, wollen Sie meinen Grund verlassen oder nicht?«

»Und ich Sie zum letzten Male: wollen Sie das Gesetz respektieren oder nicht?«

»Nun denn!« schrie Herr Zempin, »so werde ich mein Hausrecht wahren!«

»Zurück!« rief der Förster, »oder Ihr Blut kommt über Sie!«

Er hatte das Gewehr zur Wange gerissen; entsetzt stob die umstehende Schar auseinander.

Aber der Förster hatte wohl nur schrecken oder sich Raum schaffen wollen, oder besann sich erst jetzt, daß er in dem Gewimmel von der Schußwaffe keinen Gebrauch machen könne. Im Nu hatte er die Flinte hinter sich an den Stein gelehnt und seinen Hirschfänger herausgerissen, dessen vorgehaltene Spitze im nächsten Augenblicke des heranstürmenden Gegners gewaltige Brust durchbohrt haben würde, wenn Gerhard nicht mit Gefahr seines Lebens sich zwischen sie geworfen und dem Förster die Klinge in die Höhe geschlagen hätte, um dann Herrn Zempin entgegenzustürzen. Es schien ja Wahnsinn, den zornigen Riesen auch nur für kürzeste Frist aufhalten zu wollen, aber die Leidenschaft verdreifachte Gerhards Kraft. Der Förster hatte den Hirschfänger auf den Boden geschleudert, und indem er nun seinerseits die Kämpfer auseinander zu reißen suchte, waren die drei wie in einen Knäuel verwickelt, worin die in schweigendem Entsetzen Herumstehenden bei der tiefen Dämmerung nur noch durcheinanderzuckende Menschenleiber erkennen mochten.

Und so sah die Szene ein Mann, der, aus der Tiefe des Waldes kommend, zwischen den Steinen der Hünengräber, ein Hüne selber an riesiger Länge des Leibes und machtvollen Gliedern, vor wenigen Sekunden hervorgetreten war und nun bei den anderen stand, die er nicht sah, weil die großen Augen unter den buschigen Brauen auf die dunkle, unentwirrbare, kämpfende Gruppe starrten. Und plötzlich wurde die kahle Wand des Blockes, vor der sich der Kampf abspielte, und wurden die Kämpfer selbst von einem blutroten Scheine übergossen. Das Feuer auf dem nur wenige Schritte entfernten Herde schlug, nachdem es unendliche Massen frischer Tannenzweige, die man darauf geworfen, durchschwelt, in haushoher Flamme empor, und wie die rote Flamme die graue Dämmerung, so durchriß ein fürchterlicher Schrei die dumpfe Stille – ein Schrei aus der Brust des Hünen, der sich auf die Kämpfenden gestürzt, mit einer Kraft, die nicht mehr menschlich schien, den Förster gegen den Felsblock schleudernd und den riesigen Zempin zu Boden ringend. Im nächsten Moment hatte er sich wieder aufgerichtet und den atemlos taumelnden Gerhard an sich gerissen, ihn mit den gewaltigen Armen umschlingend, wie ein Vater den Sohn an sich reißen und pressen würde, den er aus Todesgefahr gerettet, mit fürchterlicher Stimme rufend: »Mörder! Mörder! den erwürge ich, der ihm ein Haar auf seinem Haupte krümmt! Schleich dich nur weg, Deep! Du Hund, ich kenne dich jetzt! – Garloff! Garloff! du! du! – wer ist der dritte, der sich da vom Boden hebt? Vater! Vater!«

Beide Hände vor sich streckend, die rollenden Augen auf den Bruder gerichtet, stand der Vogelsteller da mit gesträubtem Haare – ein Bild des äußersten Entsetzens, wie es die Menschenseele nicht erträgt, wie es den stärksten Menschleib, einer schwanken Binse gleich, knickt und bricht. –

Gerhard kniete an der Seite des völlig Ohnmächtigen, neben ihm Edith. Wie sie dorthin gekommen war, er wußte es nicht.

»Wir müssen versuchen, ihn nach dem Wagen zu schaffen«, rief er; – »wer hilft mir?«

Es war niemand da, der ihm hätte helfen wollen. Zempin war, sobald er in seinem übermächtigen Gegner den Bruder erkannt, wohl um sich vor sich selbst zu retten, wie ein Rasender davongestürzt; der Förster war nach der Feuerstelle geeilt, von der die Flamme, einer gewundenen Säule gleich, die oben in züngelnden Zacken ausstrahlt, von der Windsbraut haushoch emporgewirbelt wurde, mit jähem, gelbem Schein nach allen Seiten die Szene entsetzlicher Verwirrung beleuchtend: rufende Männer, jammernde Frauen, schreiende Kinder, hierhin, dorthin stürzend, umheult, umdonnert von dem Sturme, der die Kronen der Riesenbäume durcheinanderpeitschte, mächtige Äste abkrachte, Wolken von dürren Zweigen, Tannenzapfen, trockenen Nadeln auf die Geängsteten herabschleuderte; was noch von der Tafel übrig war, zusammenriß, die Laken aufrollend, zerfetzend, seitwärts, hoch empor gegen die Bäume werfend, mit allem, was in ihnen hängen geblieben.

Und wenn die Szene bereits im grellen Lichte der Flamme schauerlich gewesen, so wurde sie wahrhaft fürchterlich in der Dunkelheit, die nun folgte, nachdem es dem Förster gelungen, das Feuer auseinanderzuzerren und mit dem Wasser der Handeimer zu löschen. Freilich war es die höchste Zeit, denn schon hatte die Windsbraut die Flamme, die sie anfangs zusammengedreht, auseinandergerissen; flackernde Zweige, brennende Nadeln stäubten nach allen Seiten den Unglücklichen auf die Köpfe, auf die Kleider – es durfte als ein Wunder gelten, daß nicht schon namenloses Unglück geschehen war. Indessen währte das Dunkel, das im Gegensatze zu der tagesklaren Helligkeit, die nur eben noch gewesen, als völlige Finsternis gelten mußte, glücklicherweise nur wenige Sekunden. Dann wurde es abgelöst durch ein seltsames Flackerlicht, das von ober her, seitwärts durch die sturmgepeitschten Kronen der Tannen, durch die Stämme selbst zu kommen schien – das rotgelbe Licht so schnell einander folgender, ineinander verzuckender Blitze, daß man hätte glauben mögen, der Wald stehe ringsum in Flammen.

Und nun taten auch die von den harrenden Kutschern bereits vorher angezündeten Wagenlichter, die großen Stallaternen, mit denen sich manche versehen hatten, um sich von den Vorreitern durch den Wald nach Hause leuchten zu lassen, vortreffliche Dienste. Ja, es wäre ohne diese wirksame Hilfe völlig unmöglich gewesen, die durch den Lärm des Sturmes, das Flackern der Blitze, die herabschlagenden Äste und Zweige rasend gemachten Pferde zu bändigen, die aneinandergeratenen Wagen zu lösen, aus dem Gewirr herauszufinden und so weit zu bringen, daß die von den rufenden Vätern, Brüdern zusammengebrachten Familien einsteigen konnten. Es war freilich mehr ein Hineinstürzen, als Einsteigen, denn die geringste Verzögerung wurde von den Kutschern und Herren des nächsten Wagens übel empfunden und mit Fluchen und Schelten gerügt. Es sorgte eben jeder für sich und die Seinen, unbekümmert, was dabei aus den anderen wurde, im besten Falle hoffend, die anderen würden sich auch wohl zurechtfinden. Und man fand sich schließlich zurecht, da die Herren von frühester Jugend auf mit Wagen und Pferden so gut Bescheid wußten, wie ihre Kutscher und Knechte, und selbst die Frauen zu viel Abenteuer auf grundlosen Waldwegen in dunkler Nacht durchgemacht hatten, um völlig den Mut zu verlieren oder den verlorenen nicht wieder zu gewinnen, sobald sie nur erst mit den Kindern im Wagen saßen, und Jochen oder Karl, oder gar der eigene Gatte, Vater, Bruder auf dem Bocke oder im Sattel waren. So dauerte es denn kaum eine halbe Stunde, bis die tolle Flucht bewerkstelligt und Herr Zempin, dessen kommandierende Löwenstimme man fortwährend den Lärmen hatte übertönen hören, als der letzte den Platz verlassen konnte.

Wenigstens glaubte er, der letzte zu sein, und sagte so zu Anton Stude, der als treuer Adjutant an der Seite des manchmal völlig Rasenden geduldig ausgehalten und bei der Entwirrung des Fluchtgedränges mit gutmütigem Zureden und humoristischen Trostworten mehr genützt hatte, als jener mit allen polternden Befehlen. Er bestätigte, daß niemand mehr da sei. Beide hatten einen Wagen nicht bemerkt, der noch immer auf der Schneise an einer besonders dunkeln Stelle stand, und neben dem ein lediges Pferd von einem derben Jungen mühsam gehalten wurde. Auf dem Platze selbst war das Feuer längst erlöscht und das Flackerlicht der Blitze nicht hell genug, daß man die paar unbeweglichen Menschen zwischen den mächtigen Steinblöcken der Hünengräber hätte entdecken können, ohne den Platz abzusuchen.

Aber die ungeduldigen Pferde wollten sich nicht mehr halten lassen.

»Meinen Bruder hat wohl der treue Freund nach Hause geschafft?« fragte Herr Zempin grollend, als bereits der Wagen in Bewegung war.

»Er ist Ihnen nicht minder treu«; sagte Anton beschwichtigend.

Herr Zempin antwortete nicht.


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