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Nach der ersten Begrüßung, die von seiten des Grafen überaus verbindlich war, und nachdem er sich der Empfehlungen seiner Gemahlin an den liebenswürdigen Gast, der ihnen vorgestern einen so interessanten Nachmittag bereitet, entledigt, blickte er sich im Zimmer um und sagte:
»Verzeihen Sie, Herr Baron, wo befinden wir uns hier eigentlich?«
»In dem sogenannten Salon«, erwiderte Gerhard, »genauer: dem Empfangszimmer der Frau Zempin.«
»Sehr hübsch arrangiert – in der Tat! die Dame hat Geschmack, viel Geschmack – ich bitte nochmals um Verzeihung wegen meiner Frage. Ich habe Ihnen Dinge von Wichtigkeit, großer Wichtigkeit mitzuteilen und möchte versichert sein, daß wir völlig ungestört sind.«
»Völlig, Herr Graf. Herr Zempin ist seit heute morgen verreist; die Zimmer nebenan sind die besonderen Gemächer der Frau Zempin, die mich speziell gebeten hat, Sie hierher zu führen, und übrigens noch selbst mit der anderen Gesellschaft drüben ist.«
Der Graf schien von der Antwort nicht ganz befriedigt, nahm indessen mit einer Verbeugung auf dem Sofa, zu dem ihn Gerhard geleitet, Platz. Gerhard selbst war bei der Ankündigung des Grafen von wichtigen Dingen, die ihm mitgeteilt werden sollten, sehr erschrocken. Hatte der Mann nun doch eine verfolgbare Spur aufgefunden?
Eine längere Pause entstand, bis der Graf nach einem zerstreuten Blicke durch das Fenster, in dessen unmittelbarer Nähe sie saßen, auf die vom Winde hin und her gezausten Büsche des Bosketts, sich entschlossen zu Gerhard wandte und sagte:
»Lassen Sie mich sofort zur Sache kommen, Herr Baron! Ich hatte gestern abend einen Brief von Ihrem Herrn Vetter, dem Baron Odo. Der Brief ist unzweifelhaft – obgleich dessen keine Erwähnung geschieht, im Gegenteil ein subjektiv-gemütliches Motiv vorgeschoben wird – auf erneute Anregung des Prinzen geschrieben, der, wie mir aus allem hervorzugehen scheint, Ihnen überaus gnädig gesinnt ist und auf jeden Fall eine völlige Aussöhnung Ihrer respektiven Familienbranchen herbeiführen will. Nun hat Ihr Herr Vetter jedenfalls sehr gewichtige Gründe, den Wunsch und Willen seines zukünftigen Souveräns zu ehren und zu befolgen. Er wendet sich daher an mich, den er für ganz besonders geeignet halten mag, bei Ihnen eine vorläufige Sondierung in diesem zarten Punkte vorzunehmen, und glaubte, wie ja auch ganz richtig ist, zu diesem Zwecke mir eine genaue Darstellung des Vachaschen Familienstreites geben zu sollen. Aus dieser Darstellung nun –«
Der Graf, der bis dahin in einem ruhig geschäftsmäßigen Tone zu sprechen versucht hatte, unterbrach sich auf eine ungeduldige Bewegung, die Gerhard machte, und rief mit Lebhaftigkeit:
»Ich bitte Sie, lieber Baron, sagen Sie mir das eine: wie mochten Sie vorgestern auch nicht mit einer Silbe andeuten, in welcher schauerlich nahen Beziehung Sie selbst möglicherweise – ja, wenn mich nicht alles trügt, unzweifelhaft – zu dem entsetzlichen Falle stehen? Wie mochten Sie mit der Vermutung, mit der bestimmten Behauptung zurückhalten, daß jener deutsche Edelmann in der Gesellschaft des Vicomte nur Ihr Herr Großvater gewesen sein kann? Ja, mein Gott, bedachten Sie denn nicht, daß, wenn sich die Identität feststellen ließe, der authentische Brief des Vicomte vielleicht allein hinreicht, Ihren Erbstreit wieder aufzunehmen? Daß, wenn sich jenes Dokument der Kündigung des Vertrages, das im Beisein des Vicomte aufgesetzt und durch seine Unterschrift und die des Dieners beglaubigt ist, noch fände – und was findet man nicht, wenn man eifrig sucht! – der Erbstreit – ganz abgesehen von der Ihnen gewissen Huld und Gnade Ihres Fürsten – einfach aus rechtlichen Gründen zu Ihrer und Ihrer Herrn Brüder Gunsten entschieden werden müßte? Bedachten Sie denn das alles nicht?«
»Ich habe alles bedacht, Herr Graf«, erwiderte Gerhard mit einer Ruhe, die er weit entfernt war, wirklich zu empfinden; »und eben weil ich es getan – bereits vorgestern während der Lektüre des merkwürdigen Briefes und seitdem reiflicher nach jeder Richtung – habe ich geschwiegen und würde ohne Ihre gütige Teilnahme, die mich zu tiefstem Danke verpflichtet, mit keinem Worte auf eine Angelegenheit zu sprechen gekommen sein – wenn man anders die entfernteste Möglichkeit, die auch nicht die mindeste Wahrscheinlichkeit für sich hat, so nennen darf«
»Nicht die mindeste Wahrscheinlichkeit!« rief der Graf – »aber wie nennen Sie denn die unleugbare Tatsache, daß Ihr Herr Großvater 1812 nach Rußland gegangen – mit der französischen Armee – und seitdem spurlos verschollen ist? Die wunderbare Identität des Schicksals jenes deutschen Edelmannes und Ihres Herrn Großvaters: daß beide ihr Haus verlassen in Unfriede mit ihren Gemahlinnen, beide denselben Handel unter denselben höchst eigentümlichen Bedingungen mit ihrem Erbvetter über die Familiengüter abschließen? Lieber Herr Baron, das sind denn doch Wahrscheinlichkeiten, die für sich allein, in meinen Augen wenigstens, die Sache geradezu entscheiden; und ich begreife in der Tat nicht, wie Sie Ihre Augen, deren klaren Blick ich bewundere, gegen Gründe verschließen können, die selbst für den Unbeteiligten geradezu zwingend sind.«
»Für den Unbeteiligten!« rief Gerhard; »ich gebe es zu, Herr Graf, aber keineswegs für den Beteiligten; ich meine für den, der die Angelegenheit sofort auf ihre praktische Seite hin ansieht; der sich fragt und fragen muß: sind hier Resultate zu erzielen? werden diese Resultate im Verhältnis stehen mit der aufgewandten Mühe? werden sie nicht im besten Falle die Interessen anderer, die an dem ganzen Handel völlig unschuldig sind, mehr oder weniger schwer, vielleicht sehr schwer schädigen? werden diese Interessen – die heiligen Interessen der Familienehre, des Familienstolzes – nicht irreparabel geschädigt, selbst wenn das Resultat ein völlig negatives wäre, einzig dadurch, daß man an diese alten Geschichten rührt, die in Staub und Asche zerfallen, sowie man sie berührt? Nun, Herr Graf, ich habe mir diese Fragen vorgelegt, und wenn ich meine Antwort auf alle zusammenfassen soll, kann ich nur sagten: hier ist Schweigen, Fahrenlassen, womöglich Vergessen Pflicht – eine Pflicht nebenbei, die zu erfüllen mir, Gott sei Dank, nicht eben schwer fällt.«
»Seltsam!« erwiderte der Graf, »es scheint, daß hier die Rollen ausgetauscht sind! Ich, der Unbeteiligte, plädiere mit Eifer für die kräftige Verfolgung einer Angelegenheit, die Sie, der Beteiligte, gleichgültig, ja widerwillig von sich weisen. Aber – verzeihen Sie mir die Bemerkung, sollte hier der Unbeteiligte nicht den Vorzug des objektiveren, das heißt des richtigeren Blickes haben vor dem Beteiligten, der nur nach subjektiven Gründen entscheidet? Sie erinnern sich, wie ich selbst anfangs wenig geneigt war, den raschen Schlußfolgerungen der Gräfin zuzustimmen. Zwei Tage ruhigen Nachdenkens haben mich davon überzeugt, daß die vielverspottete Frauenlogik hier doch wieder einmal den richtigen Punkt getroffen hat. Wie ich die Sache jetzt ansehe, zolle ich zwar einigen Ihrer Gründe gern jeden schuldigen Respekt – billigen, gut, stichhaltig heißen kann ich zu meinem Bedauern keinen derselben. Sie fragen, ob hier Resultate zu erzielen sind? ich sage: ja, wenn man die nötige Mühe nicht scheut; und damit beantworten sich Ihre übrigen Fragen, die sämtlich die irrige Voraussetzung der Fruchtlosigkeit der aufgewandten Mühe zum Grunde haben. Gewähren Sie mir nur noch eine Minute freundlicher Aufmerksamkeit! Daß die in dem Briefe des Vicomte von seinem Begleiter und Freunde angegebenen Kennzeichen – wenn ich mich so ausdrücken darf – sämtlich auf Ihren Herrn Großvater passen, erscheint mir kaum zweifelhaft und kann, deucht mir, für Sie, der Sie doch jedenfalls durch Familientradition viel genauer über den seltsamen Mann unterrichtet sind, gar keinem Zweifel unterliegen. Der Name ist nicht genannt – allerdings; aber es gibt Indizien, die den Namen auch für den skrupulösesten Richter irrelevant machen, vielmehr: ersetzen. Ferner: wer sagt uns, daß wir nicht auch noch zu dem Namen gelangen, der sehr wahrscheinlich den Mördern bereits vor der Tat bekannt war, jedenfalls nach der Tat aus den vorgefundenen Briefschaften, Papieren et cetera bekannt wurde? Mit dem Namen zurückzuhalten, liegt, soviel ich sehen kann, für die Menschen keine Veranlassung vor, sobald sie erst einmal der Tat überwiesen sind. Sie behaupten: dieser Erweis ist unmöglich – ich sage wiederum: nein! Der eine der Täter: der alte Zempin, ist tot – wohl; aber die zwei anderen: der Deep und der Förster Garloff, leben noch. Sie hatten es leicht, sich zu verbergen und unbehelligt zu bleiben, solange kein Verdacht gegen sie vorlag; sie sind jetzt in das unbequem helle Licht eines entschiedenen Verdachtes gestellt, und den Effekt dieses Lichtes wollen wir doch einmal erst abwarten. Ich denke dabei noch gar nicht an die oft entscheidende Wirkung eines regelrechten Kreuzverhörs, vorläufig nur an eine genaue Beobachtung der Leute, an das sorgfältige Durchforschen ihrer Antezedenzien, an ein kluges Zusammenstellen von Äußerungen, die sie bei dieser, jener Gelegenheit gegen diesen, jenen getan haben – Äußerungen, die völlig harmlos schienen und doch vielleicht, richtig verstanden, äußerst gravierend sind. Dergleichen Recherchen, Beobachtungen können sehr weit führen. Und wer auf der Welt sagt uns, daß diese Menschen keine Mitschuldigen hatten, die ebenfalls noch leben? oder wenn keine Komplizen, so doch direkte oder indirekte Zeugen der Untat? Ja, spricht nicht die höchste Wahrscheinlichkeit für diese Annahme? gehe ich zu weit, wenn ich einen und den anderen solcher Zeugen bereits gefunden zu haben glaube? Erinnern Sie sich doch, lieber Baron: es ist in dem Briefe von einem Knaben des Zempin die Rede, der während der ganzen Dauer ihres Aufenthaltes in der Gesellschaft der Herren gewesen ist. Der Knabe wird sehr genau, so genau geschildert, daß Leute, die ihn damals gekannt haben, ihn nach der Schilderung wiedererkennen müssen, sich bei der Gelegenheit auch vielleicht des Umstandes der ansteckenden Krankheit in der Familie des Verwalters erinnern werden, welche die Absperrung des Knaben in dem Herrenhause notwendig machte. Das Alter des Knaben wird auf zehn bis zwölf Jahre angegeben. Nun habe ich bereits – übrigens unter einem anderen Vorwande – die Kirchenbücher in Zarnewitz, wohin Kosenow eingepfarrt ist, nachschlagen lassen. Das älteste Kind des Zempin war ein Mädchen, geboren 1799, gestorben im Januar 1813, also wahrscheinlich in eben jener Epidemie; das zweite ein Sohn: Johann, geboren 1800, noch am Leben; das dritte wieder ein Mädchen, ebenfalls 1813 gestorben; das nächste wieder ein Sohn, Moritz, noch lebend, aber erst 1805 geboren; dann folgt eine lange Schar Knaben, die uns nichts angehen, übrigens sämtlich später gestorben sind. Es kann sich also hier nur um jene beiden ältesten Knaben handeln, vielmehr um den einen, den zwölfjährigen, der von dem Wuchs eines achtzehnjährigen geschildert wird, was man doch unmöglich von einem siebenjährigen Buben sagen könnte, und der eben deshalb kein anderer als der jetzige Besitzer von Kosenow, Johann Zempin, gewesen ist. Auf ihn paßt das Alter, die Persönlichkeit, die Leidenschaft für Vögel – mit einem Worte: jedes Indizium. Ich höre, daß der Mann überaus wunderlich sein soll – einige sagen: nicht ganz zurechnungsfähig; aber eine Erinnerung jener Zeit muß er doch haben, besonders wenn man ihm die Einzelheiten ins Gedächtnis ruft. Bedenken Sie, was damit gewonnen wäre! Und das ist noch nicht alles. Aus den Akten über eine Person hier in Kantzow – es handelt sich um eine Blödsinnigkeitserklärung – ist mir erinnerlich – Sie sehen, wie man sich an alles mögliche erinnert, wenn man einmal einen Punkt fest ins Auge faßt – daß diese Person Wirtschafterin in Kosenow gewesen ist. Es hat unzweifelhaft sehr viele Wirtschafterinnen in Kosenow gegeben; aber die fragliche Person steht, wie ich mich ebenfalls genau erinnere, in höherem Alter, mithin liegt sicherlich die Möglichkeit vor, daß sie gerade die ist, die wir suchen, die wir brauchen. Habe ich nicht recht?«
»Es scheint so, Herr Graf«, erwiderte Gerhard; »aber scheint auch leider nur. Ich habe – eben auf Anregung jener Akten, die mir Herr Zempin zur Durchsicht gab und die sich noch in unserem Bureau befinden – jene Frau aufgesucht und mich überzeugt, daß sie, wenn auch eine harmlose Blödsinnige, aber ganz gewiß eine Blödsinnige ist. Wiederum hat eine Krankheit, die er als Knabe durchgemacht, dem Herrn Zempin in Kosenow vollständig die Erinnerung für alles geraubt, was in seiner Jugend vorgefallen. Das ist eine Tatsache, die ich aus dem Munde der Tochter habe, und die von vielen unverdächtigen Zeugen erhärtet werden kann. Fassen wir nun alles zusammen, Herr Graf, worauf wir uns zur Not stützen könnten, was haben wir: zwei Menschen, die, wenn sie die Täter waren, ihr zweiunddreißig Jahre lang gehütetes Geheimnis mit ins Grab nehmen werden; eine Blödsinnige, deren Aussage, falls hier überhaupt von einer solchen die Rede sein kann, kein Gericht der Welt akzeptieren dürfte; einen kranken Mann, dessen Gedächtnis für das, worauf es uns ankommt, völlig und hoffnungslos zerrüttet ist. – Sie sehen, Herr Graf, ich habe nichts zu erwägen vergessen. Sie werden mir zugeben müssen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn diese Erwägungen mich zu nichts geführt haben, als zu eben jenem negativen Resultat, welches Ihnen mitzuteilen ich bereits die Ehre hatte, und welches zu meinem Bedauern Ihre Billigung auch jetzt noch nicht zu finden scheint.«
»In der Tat«, sagte der Graf, »ich würde mich einer Unwahrheit schuldig machen, wenn ich es in Abrede stellte. Sie haben mich in keiner Weise überzeugt; unsere Ansichten gehen völlig auseinander. Ich gestehe, daß mich das in Verwunderung setzt, daß es mich schmerzt. Ich hoffte in Ihnen einen Bundesgenossen zu finden, der, wo ich nur eine Pflicht erfüllte, mit seinem ganzen Herzen, mit allen teuersten Empfindungen und Traditionen der Familie engagiert ist – und ich sehe mich einem Abweisenden, ja fast einem Widersacher gegenüber – für mich eine peinliche Situation, die ich aber annehmen muß, wie sie mir Verhältnisse, denen ich mich zu beugen habe, aufdrängten. Hier liegt ein Wunsch des Herrn Ministers, meines Onkels, vor, der für mich Befehl ist; Seine Majestät selbst hat wiederholt das lebhafteste Interesse für die Angelegenheit bezeigt – ein Interesse, das noch unendlich wachsen würde, wenn Seine Majestät wüßte, daß es hier sich auch darum handelt, den Sproß einer uralten deutschen Adelsfamilie in sein legitimes Recht wieder einzusetzen. Wenn das alles aber auch nicht wäre, es bleibt noch genug, was mich zum energischsten Vorgehen in dieser Angelegenheit zwänge: das Interesse des Staates, der durch den Raub jener Menschen auf das empfindlichste geschädigt wurde; die Wiederherstellung der so schmählich gestörten sittlichen Ordnung; der Schutz der so schwer bedrohten gesellschaftlichen Verhältnisse. Oder sollen wir ruhig zusehen, daß der Sohn eines unserer vornehmsten Geschlechter hierzulande die Tochter aus einem Hause zur Gemahlin erhebt, das nach meiner moralischen und juridischen Überzeugung mit dem schwersten Makel behaftet ist? dessen Wohlstand keine andere Quelle hat, als Raub und Mord? Ich bitte, ich beschwöre Sie, Herr Baron! versetzen Sie sich nur einen Augenblick in die Lage des Baron Basselitz! Nehmen Sie an, Sie ständen auf dem Punkte, eine solche entsetzliche Verbindung einzugehen, ohne eine Ahnung des wahren Sachverhaltes, was würden Sie von einem Manne – und nun gar von einem Edelmanne – denken, der diesen Sachverhalt gekannt und Sie nicht gewarnt, Sie ungewarnt in Ihr Verderben hätte rennen lassen? Ist der Umstand, daß Baron Bogislaf die Beleidigung vielleicht weniger tief empfinden wird, eine Entschuldigung? und dürfen wir nicht überzeugt sein, daß die Baronin, die trotz ihrer Abstammung, vielleicht gerade wegen ihr, in diesem Punkte sehr skrupulös ist, erführe sie nur ein Wort von dem, was wir hier verhandelt haben, die junge Dame, die sie jetzt mit mütterlicher Zärtlichkeit überschüttet, Knall und Fall nach Hause schickt? daß –«
Der Graf schwieg plötzlich.
»Verzeihen Sie; mir deucht, ich hörte in dem Zimmer nebenan ein Geräusch; wir befinden uns hier in so unbequemer Nähe der Tür –«
Gerhard, der unmittelbar am Fenster saß, gegen das der Regen fortwährend prasselte, und überdies von seinen Gedanken ganz in Anspruch genommen war, hatte nichts gehört, folgte aber dem Beispiele des Grafen, der sich erhoben hatte.
»Sie sehen«, sagte der Graf, »aus meiner Ängstlichkeit die Explosionsfähigkeit der Materie, die wir hier verhandeln.«
»Ich teile diese Ängstlichkeit vollkommen«, erwiderte Gerhard; »und so, denke ich, auch mit Ihnen die Überzeugung, daß tiefste Geheimhaltung der Angelegenheit für uns unverbrüchlich ist.«
Auf des Grafen Gesicht malte sich eine Verlegenheit, welche er hinter einer abweisenden, ja empfindlichen Miene nicht ganz verbergen konnte.
»Verzeihung!« sagte er, »ich war bereits in der peinlichen Lage, feststellen zu müssen, daß unsere Ansichten in dieser Sache divergieren. Sollte aus dieser Divergenz nicht auch für einen jeden von uns eine Verschiedenheit der Pflichten resultieren? Überdies vergessen Sie nicht: meine Frau ist vom ersten Augenblicke an in die volle Mitwissenschaft der Angelegenheit gezogen, deren nahe Beziehung auf Sie, Herr Baron, wir – meine Frau und ich – allerdings nicht ahnten. Hier entsteht für uns – ich gebe es zu – eine Rücksicht, die wir zu ehren wissen werden. Im übrigen aber möchte ich auf keinen Fall durch ein Versprechen, wie Sie es zu fordern scheinen, weder für mich noch für meine Frau Maßnahmen und Schritten präjudizieren, deren Notwendigkeit sich in Zukunft herausstellen sollte.«
»Ich bin weit davon entfernt, Herr Graf, Ihnen Versprechungen abzufordern oder gar Vorschriften machen zu wollen«, erwiderte Gerhard; – »ich bin im Gegenteil sowohl Ihrer als der Frau Gräfin völliger Diskretion und Delikatesse versichert in Behandlung einer Materie – um mich Ihres Bildes zu bedienen – von der ein vorsichtig verstreuter Funke hinreicht, das Glück und die Ehre einer unbescholtenen Familie auf das schwerste zu schädigen, vielleicht zu vernichten.«
»Wenn doch nur«, rief der Graf, »diese Familie – denn Sie sprechen offenbar von den Zempins – nicht selbst so geschäftig wäre, ihr Glück zu untergraben und ihre Ehre zu kompromittieren! Mein Gott, Herr Baron, ich verstehe ja bis zu einem gewissen Grade die Teilnahme, die Sie in zu weit getriebener Großmut und Humanität diesen Leute gewähren. Aber – Sie kennen meine Ansichten über diese Leute, und die letzten Tage haben wahrlich nicht dazu beigetragen, mich milder zu stimmen. Mir sind über die Vermögensverhältnisse des Herrn hier Dinge zu Ohren gekommen, von denen nur die Hälfte sich zu bestätigen braucht – und der Mann steht vor einem greulichen Bankrott. Sodann soll ja gestern bei dem Feste zwischen dem Herrn Zempin und dem Förster Garloff eine ganz abscheuliche Szene stattgefunden haben – offene brutale Widersetzlichkeit gegen einen Beamten im Dienst, als welcher doch der Förster unter allen Umständen vorläufig gelten muß. Die Sache wird unzweifelhaft zur Anzeige kommen und streng geahndet werden und dürfte, nebenbei bemerkt, bei der noch schwebenden Entscheidung über die Forstkontraventionen des Kosenower Herrn sehr schwer ins Gewicht fallen. Indessen, ich bemerke zu meinem Schrecken, daß ich Ihre kostbare Zeit schon über Gebühr lange in Anspruch genommen habe. Ich hatte eigentlich die Absicht, Sie aufzufordern, mich zu jener blödsinnigen Person, der Schulten, zu begleiten; aber da Sie mir schon zuvorgekommen sind – auch bin ich selbst heute etwas pressiert – ich verschiebe es auf ein anderes Mal. Nein, keinen Schritt weiter! es ist ein entsetzliches Wetter – was soll aus unserer Ernte werden – und meine armen Pferde – adieu, Herr Baron, adieu! – Nach Hause, Friedrich!«
Der Wagen, welcher solange vor der Haustür gehalten, rollte, umbellt von einigen Hunden, die dem Unwetter Trotz boten, die Rampe hinab. Gerhard ging nicht wieder hinein, da er draußen zu tun hatte. Als er am Hause hin zu dem ersten Fenster von Juliens Zimmer, das an den Salon stieß, gelangte, bemerkte er, daß die dunkeln Vorhänge sich bewegten. Der Wind konnte es nicht sein – dazu war die Bewegung zu energisch. Er erinnerte sich des Geräusches nebenan, das der Graf gehört haben wollte. Aber dann hatten sie von dem Moment an leiser gesprochen; es war die höchste Unwahrscheinlichkeit, daß, wer da auch gelauscht haben mochte, mehr als einzelne unzusammenhängende Worte verstanden haben sollte. Nichtsdestoweniger war es eine neue Sorge zu den anderen, die wahrlich schon schwer genug auf sein Gemüt drückten.