Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Der Graf legte das letzte Blatt zu den übrigen und wandte sich, da er den Blick Gerhards, der in Nachdenken versunken schien, nicht erhaschen konnte, an die Gräfin. – »Nun, was sagst du, liebe Alix?«

»Ich sage«, erwiderte die Gräfin, »daß du uns da eine Geschichte vorgelesen hast, die zu einem vollständigen Roman zu erweitern selbst ich mich anheischig machen würde, obgleich ich bekanntlich, Gott sei Dank, an einem Übermaße von Phantasie gerade nicht leide.«

»Auch würde uns die Phantasie nicht eben weiterhelfen«, sagte der Graf; »wenigstens dürfte meinen Auftraggebern kein wesentlicher Dienst damit geleistet sein, wenn ich ihnen das Dokument, mit einigen phantastischen Randglossen vermehrt, zurückschickte. Was sie verlangen, sind Fakta, genaue Daten, zum mindesten bestimmte Hinweise, auf die hin sich weiterforschen läßt. Aber auch die werden sehr schwer zu beschaffen sein, da die Angaben in dem Briefe selbst, besonders im Anfange, so sehr unbestimmt gehalten sind, und man überdies bei den anzustellenden Recherchen mit äußerster Vorsicht wird zu Werke gehen müssen, wenigstens, falls man sich zu der Ansicht bekennt, daß es sich hier um die Eruierung eines Verbrechens, vielleicht um Auffindung noch lebender Verbrecher handelt.«

»Aber im Punkte des Verbrechens können doch, deucht mir, gar nicht zwei Ansichten existieren«, sagte die Gräfin. »Mir wenigstens ist ohne weiteres klar und steht für mich unerschütterlich fest, daß jene Menschen den Vicomte und seine interessanten Begleiter, der mir ebenfalls ein vornehmer Mann gewesen scheint, und den Diener, oder was der Monsieur Baptiste sonst gewesen ist, ermordet und die reiche Beute unter sich geteilt haben.«

»Und doch läßt sich noch eine und die andere Möglichkeit denken«, erwiderte der Graf. – »Weshalb sollen die Reisenden bei so mißlichen Verhältnissen ihre Lage nicht für bedenklicher und gefährlicher erachtet haben, als sie in Wirklichkeit war? Die Bemerkung des Freundes, daß, wenn man es auf ihr Leben abgesehen, das verlassene Haus die günstigste Gelegenheit böte, scheint mir sehr richtig. Und wer wären die Mörder gewesen? ein Mensch, der vierzehn Tage oder drei Wochen lang eine rauhe, aber, wie der Vicomte selbst zugeben muß, kluge und vorsichtige Gastfreundschaft übt; – eine zweite Person, die nur einmal auftritt und die in Wirklichkeit, was auch die aufgeregte Phantasie des Vicomte daraus gemacht, nur einer unserer stupiden, dämisch lächelnden Pächter gewesen sein wird; – eine dritte endlich, die gar nicht auf die Bühne kommt, sondern deren Gesicht nur einmal vor den Augen zweier Menschen mit schlechtem Gewissen in nächtlicher Weile am Fenster auftaucht, oder auch nicht – wie man will. Nun, meine Liebe, gegen Leute, auf denen weiter keine Belastungsmomente ruhen, würde ein Untersuchungsrichter – ich nehme an, die Sache hätte sich jetzt zugetragen – vielleicht vorgehen müssen – ich gebe es zu; aber ganz gewiß mit starkem Zweifel, ob er die Rechten erwischt hat, ob die Rechten nicht vielmehr ganz wo anders zu suchen sind.«

»Aber wo denn? wo in unserem Falle?« rief die Gräfin.

Der Graf zuckte die Achseln. »Der Weg, den die Reisenden zurücklegen mußten, bevor sie das von den Franzosen besetzte Hamburg erreichten, war noch sehr lang.«

»Das hieße denn doch Schwierigkeiten suchen, wo gar keine sind,« sagte die Gräfin eifrig; »hieße, an der höchsten Wahrscheinlichkeit geflissentlich vorübergehen, um ganz unbestimmten Möglichkeiten nachzulaufen. Nein, mein Lieber, mit dergleichen Spitzfindigkeiten, die im Grunde weder spitz noch findig, sondern das gerade Gegenteil sind, darf man uns Frauen nicht kommen!«

Der Graf verbeugte sich. »Ich wage nicht zu widersprechen«, sagte er, »um so weniger, als ich mich ja übrigens zu deiner Ansicht neige und nur, als Jurist, auch die Kontras hervorheben zu müssen glaubte. Also, die unglücklichen Reisenden sind ermordet worden, und zwar von jenen drei Männern – denn weniger werden es doch wohl nicht gewesen sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach war aber der Mörder eine viel größere Zahl, denn es ist kaum anzunehmen, daß diese Leute das Risiko eines Kampfes Mann gegen Mann gelaufen sein werden gegen drei bis an die Zähne bewaffnete, an Gefahren aller Art gewöhnte Krieger, die, wie die Mörder vermuten durften, bereits mißtrauisch geworden waren und sicher auf ihrer Hut sein würden. Die so fast mit Bestimmtheit vorauszusetzende Komplizenschaft ist nun freilich wieder ein schwer zu beseitigender Übelstand für den, welcher unsere Ansicht teilt und folglich den Ort der Tat irgendwo in unserem Regierungsbezirke suchen muß. Denn eine Tat von solcher Bedeutung, die viele Mitwisser gehabt, bleibt nicht verborgen, kann nicht verborgen bleiben. Irgend ein Verräter oder auch nur unvorsichtiger Schwätzer findet sich immer. Hier ist das offenbar nicht der Fall gewesen.«

»Daraus schließe ich meines bescheidenen Teils nur«, sagte die Gräfin, »daß jene Annahme großer Komplizenschaft wieder eine ganz willkürliche, vielmehr falsche ist, die Täterschaft sich vielmehr auf jene drei beschränkt hat. Ja, weshalb auch nur drei? Der Wirt soll ein Mann von ungewöhnlicher Körperkraft gewesen sein, dem vielleicht nur der Freund, und wohl auch kaum der, gewachsen war. Der kranke Vicomte, den ich mir überdies als einen schmächtigen und schwächlichen Herrn denke, kommt nicht in Rechnung; und der Baptiste erscheint mir als ein Schwätzer und Fanfaron, der bei dem ersten Schusse davonläuft.«

»Also du meinst, daß die Opfer erschossen sind?«

»Ich habe das nur so hingeworfen. Freilich, wenn der Mord nicht in dem Hause selbst geschehen ist – und für das Haus möchte ich mich nicht entscheiden – wenn der Überfall also unterwegs stattfand – wird man wohl zu den Schußwaffen gegriffen haben.«

»Und warum möchtest du dich für einen Schauplatz entscheiden, der nicht das Haus war?«

»Einmal, weil der Brief selbst sagt, daß man in einer Stunde aufbrechen wolle. Nun könnte eben diese Stunde die verhängnisvolle gewesen sein; man könnte die Abfahrt unter diesem oder jenem Vorwande auch wieder aufgeschoben haben. Gewiß, aber ich bin gegen das Haus, aus dem man doch erst den Sohn des Wirtes und die Haushälterin hätte entfernen müssen. Sodann scheinen ja die übrigen Insassen des Gutes in der Tat nichts gewußt zu haben; es wäre sehr schlimm für die Mörder gewesen, wenn die erste Kunde von der Anwesenheit der Fremden in dem Schlosse zu den Leuten auf dem Hofe durch den Lärmen gelangte, ohne den es doch wohl bei einer solchen Mordaffäre nicht abgeht.«

»Bravo!« rief der Graf; »ich mache dir, liebe Alix, mein Kompliment und prophezeie, daß, wenn in diese dunkle Geschichte je ein Licht fällt, man es deinem inquisitorischen Genie zu danken haben wird. Es fehlt jetzt wirklich nur noch die Angabe des Ortes und die Feststellung der Personen, die freilich sehr erleichtert sein würde, wenn man über den ersteren Punkt im reinen wäre.«

»So beginnen wir mit diesem Punkte!« sagte die Gräfin, deren lebhaften Geist die wortreiche Verwunderung des Gatten ebenso anspornte, wie die stumme, aber sichtbar gespannte Teilnahme, womit der Gast der Diskussion folgte.

»Wenn der Ort nur ein ganz klein wenig genauer bezeichnet wäre!« sagte der Graf. – »Aber so! ein Gutshof ist es natürlich gewesen, leider haben wir im Regierungsbezirk so und soviel hundert Güter.«

»Aber nicht so viele«, entgegnete die Gräfin, »auf welche die Beschreibung paßte.«

»Die Beschreibung? ja, lieber Himmel, was nennst du Beschreibung? Ich finde keine Spur davon.«

»Ich eine ganze Reihe Spuren und zum Teil sehr deutliche«, sagte die Gräfin. »Zuerst die Situation des Gutes – du brauchst nicht nachzusehen, ich habe mir die wichtigeren Punkte so ziemlich wörtlich gemerkt. Es soll nicht unmittelbar an der Landstraße liegen, aber auch nicht so weit, daß man erleuchtete Fenster durch die winterlichen Bäume und Büsche nicht sehen könnte.«

»Was sich wiederum von einigen hundert Wohnhäusern auf unseren Gütern sagen lassen dürfte.«

»Unzweifelhaft, nur daß niemand eines dieser Häuser ein Schloß nennen wird.«

»Womit der Franzose jedes Herrenhaus auf dem Lande zu bezeichnen pflegt, es mag auch noch so unansehnlich sein.«

»Aber dies hier ist nicht unansehnlich – im Gegenteil: es macht offenbar selbst auf den doch gewiß sehr verwöhnten Vicomte einen gewissen Eindruck, besonders die Einrichtung. Es möchte denn doch hierzulande wohl wenige Herrenhäuser geben, die im Stile Louis quinze möbliert sind.«

»Ich fürchte, es gibt keines – oder keines mehr. In den Häusern, die Schlösser genannt zu werden verdienen und selbst von einem Franzosen so genannt werden würden, und die ich denn doch wohl sämtlich von außen und innen kenne, ist das Meublement, wenn man von vereinzelten Stücken absieht, nirgends älter als aus dem Ende des vorigen, höchstens dem Anfange dieses Jahrhunderts. Und dann werden wir wohl auf Basselitz, auf Griebenow, auf Grenwitz, auf Karlsburg und so weiter nicht gern nach Meuchelmördern suchen wollen, abgesehen davon, daß diese Güter niemals Jahre hindurch von ihren Bewohnern verlassen gewesen sind.«

»Aber Kosenow ist es zum Beispiel gewesen.«

»Wie? was?« rief der Graf, »unser Kosenow – ich meine das Zempinsche?«

»Ich kenne kein anderes.«

»Aber dies hier kennst du doch auch nicht, so wenig wie ich.«

»Davon hernach. Zuerst, was sich doch auch schon von der Landstraße bemerken läßt, von der es durch ein Stück Wald und einen Teil des sich dazwischenschiebenden Parkes getrennt ist: haben wir in Kosenow ein Schloß.«

»Ein Haus, soviel ich bemerken konnte, ein wenig stattlicher, als die Regel ist.«

»Und ich wiederhole: ein Schloß im französischen und deutschen Sinne, zum mindesten Schlößchen, und das, was entscheidet, im Stile Louis quinze möbliert.«

»Um Himmels willen, wie weißt du das?«

»Sehr einfach, mein Lieber! Die älteste Tochter hatte mir vor einigen Tagen einen Besuch gemacht, den ich allerdings durchaus nicht zu erwidern brauchte, da er rein geschäftlicher Natur war – es handelte sich um die vorhin besprochene Angelegenheit ihres Vaters, und ich habe dir nichts gesagt, weil ich weiß, daß du dergleichen Einmischungen nicht liebst. Nun, gestern nach dem Briefe der Basselitz mit der Nachricht von der bevorstehenden Verlobung der jüngsten Tochter mit Baron Bogislaf dachte ich, es wäre am Ende doch geraten, eine Art Rekognoszierung darüber anzustellen, wie weit man sich eventuell mit den Leuten gesellschaftlich einlassen könne. Dazu muß man die Leute aber in ihrer Behausung sehen – wenigstens ist das für mich immer entscheidend gewesen – genug, ich fuhr gestern vormittags als du in Sundin warst, hinüber, oder genauer, ich schickte im Vorüberfahren meine Karte hinein.«

»War das nicht ein wenig unvorsichtig, liebe Alix?« fragte der Graf in bescheidenem Tone. »Wenn man nun den Mut hatte, dich anzunehmen?«

»Man hatte den Mut«, erwiderte die Gräfin; »man empfing mich sogar, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre; man tat ferner, als ob man keine Ahnung davon habe, welches Motiv meinem Schritte einzig und allein zugrunde liegen konnte, indem man den Besuch der Schwester in Basselitz mit keinem Worte erwähnte, so daß ich zuletzt selbst die Rede darauf bringen mußte, und auch dann wich man noch sehr geschickt aus: die Schwester sei so oft drüben, der Frau Baronin sei die Gesellschaft der Kleinen immer eine angenehme Zerstreuung in ihrer Einsamkeit, und so fort! Ich versichere dich, lieber Freund, die junge Dame spielte ihre Rolle, alles in allem, so übel nicht; trieb die Affektation sogar so weit, mich um Entschuldigung zu bitten, daß sie die Unschicklichkeit begangen, mich mit der Angelegenheit des Vaters zu behelligen! Eh bien! das wollte ich eigentlich nicht erzählen, sondern nur, wie erstaunt ich war, hinter den Tannen des Waldes und den Linden des Parkes, an denen wir so manchmal achtlos vorübergefahren, oder um deren herrschaftliche Stattlichkeit wir höchstens diese Menschen beneidet hatten, ein Haus zu finden, wie es sich nur für einen Edelmann schickt, enfin ein Schloß oder Schlößchen, wenn es durchaus kein Schloß sein soll – und darin zu meinem noch größeren Erstaunen eine Einrichtung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, so wohl erhalten und so vollständig, wie ich mich kaum, außer in fürstlichen Schlössern, gesehen zu haben erinnere. Daß diese Entdeckung, die für uns, als halbe Nachbarn, immerhin etwas spät kam, heute schon von solcher bedeutenden Wichtigkeit werden würde, habe ich freilich nicht gedacht.«

Der Graf rieb die hohe, schmale Stirn. – »Das ist allerdings eine Entdeckung, deren Wichtigkeit man kaum hoch genug veranschlagen kann. Kosenow war, wie auch Kantzow und Retzow, ebenso wie Bulitz, auf dem jetzt ein Herr Bagdorf wohnt, und Faschwitz, das einem gewissen Stut gehört, damals im Besitze der schwedischen Grafen Carlström. Die Carlströms waren sehr verschuldet – sehr, und der letzte, Graf Axel, lebte infolgedessen fast immer auswärts – in Schweden oder in England, wo er reiche Verwandte hatte. Die Güter, die er nicht länger halten konnte, wurden subhastiert. Zwei, wie gesagt, kamen in andere Hände, die drei Hauptgüter in die des Zempin, des Vaters der beiden Brüder. Nun, ich gestehe: das hat für mich nie etwas Auffallendes gehabt. Wie viele Vermögen wurden damals verloren und erworben! Es konnte jeder ein Vermögen machen; besonders bei der fast völligen Entwertung der Güter zu großem Landbesitz gelangen, wer nur ein Stück Geld in der Hand hatte und nicht blöde war.«

»Aber immerhin mußte man doch dieses Stück erst haben«, fiel die Gräfin ein, »und der Vicomte schildert ausdrücklich den Wirt, den Verwalter, der in dem Nebenhause wohnt – ich erinnere dich daran, lieber Ulrich! – in äußerst dürftigen, mißlichen Verhältnissen! Nun, und mit einem Male hat dieser blutarme Mann das nötige Kapital, um drei unserer größten Güter zu übernehmen! Wenn das nicht gravierend, wenn das nicht geradezu beweisend ist, so weiß ich freilich nicht, was man so nennen soll.«

»Du gehst sehr schnell, meine Liebe«, sagte der Graf; – »beweisend! Zu einem Beweise im juristischen Sinne gehört gar viel, obgleich ich ja nicht in Abrede stellen kann, daß die von dir mit so eminentem Scharfsinne gefundenen Momente in hohem Grade belastend sind, wozu für mich noch eines kommt, was allerdings nur von subjektiver Bedeutung ist: meine Überzeugung, ich möchte sagen, mein instinktives Gefühl, daß diese Zempins, um die es sich ja einzig und allein handeln würde –«

Der Graf brach kurz ab, es fiel ihm zu seinem Schrecken ein, daß die Diskussion mit seiner Gemahlin ein Resultat ergeben, das ja freilich ihm selbst im höchsten Grade überraschend war, dem Gaste aber bei seiner vorhin geäußerten Parteinnahme für die Zempins überaus peinlich sein mußte. Auch war es ihm jetzt, worauf er in seinem Eifer nicht geachtet, recht bedenklich, daß Gerhard sich so gar nicht an der Untersuchung beteiligt, sondern, in seinem Sessel zurückgelehnt, dann wieder auf Momente den Kopf in die Hand stützend, dagesessen, mit allen Zeichen der Aufmerksamkeit gewiß und ohne ein Mißfallen zu äußern – aber das letztere war ja bei einem jungen Manne von so feinen Sitten selbstverständlich und keineswegs ein Beweis seiner Zustimmung. Die Gräfin, die nach Frauenweise nur das nächste Ziel im Auge hatte und sich das Stocken in der Rede des Gemahls ganz anders auslegte, kürzte die eingetretene Pause ab, indem sie lächelnd sagte:

»Scheue dich nicht, das letzte Wort auszusprechen! Ich fühle mich in keiner Weise beschwert. Avancen, die man dergleichen Leuten macht, haben genau die Bedeutung, die man ihnen geben will. Und wenn infolge dieser Affäre, wie vorauszusehen, aus der Verbindung des Barons Bogislaf mit der kleinen Person nichts werden sollte – nun, so haben wir eine Mesalliance weniger zu beklagen, was ja schon an und für sich ein vortreffliches Resultat sein würde, angenommen, daß weiter nichts bei der ganzen Sache herauskäme.«

Gerhard, den die kurze Pause aus seinem schmerzlichen Brüten aufgeschreckt und der die Augen des Grafen mit einem eigentümlichen Ausdrucke auf sich gerichtet sah, faßte sich gewaltsam und sagte, sich zur Gräfin wendend:

»Ich glaube in der Tat, gnädige Gräfin, daß im übrigen das Resultat ein wesentlich negatives sein wird. Wollen mir die gnädige Gräfin verstatten, meine Gründe dafür in aller Kürze darzulegen. Wie sehr auch ich den ungemeinen Scharfsinn bewundere, mit dem Sie einzelne Anhaltspunkte, die sich darzubieten schienen, erfaßt und kombiniert haben, so ist mir, dem ruhig-aufmerksamen Zuhörer, doch nicht entgangen, wie wenig wirklichen Anhalt diese Punkte gewähren. Schon der Herr Graf hat bemerkt, daß die sehr vagen Andeutungen der Lage des Gutes bei einer beliebig großen Zahl von Gütern hiesiger Gegend zutreffen würden. Wie aber, wenn die Route der unglücklichen Reisenden gar nicht nach Westen und nach Hamburg ging, sondern nach Süden in der Richtung auf Magdeburg, das nicht viel ferner gelegen und ebenfalls noch von den Franzosen besetzt war? Bedenken die Herrschaften, wie mit dieser Version, die genau nicht mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit für sich hat, als die erste, das so schon zu große Untersuchungsfeld sich ins Unendliche erweitert! wieviel Herrenhäuser sofort auftauchen, die im Stil Louis quinze möbliert sind, was sage ich! zu jener Zeit, vor nun zweiunddreißig Jahren, möbliert gewesen sind, und es jetzt keineswegs mehr zu sein brauchen! Man wird zur Erledigung dieses Punktes die Experten abhören müssen: die Kunstverständigen, Antiquare, Raritätensammler, die sofort unter sich in Streit darüber geraten dürften, was denn hinsichtlich eines Meublement unter der Bezeichnung Louis quinze zu verstehen sei, und was nicht! Sodann: der Mann, dessen Name unglücklicherweise – die gnädige Gräfin muß mir den Ausdruck verzeihen! – in dieser Angelegenheit genannt wurde, ist tot; seine Komplizen, deren er gewiß – darin gebe ich der gnädigen Gräfin recht – nur sehr wenige gehabt, sind es vielleicht auch – zweiunddreißig Jahre sind eben eine lange Zeit. Und lebten sie noch – wer so lange reinen Mund gehalten, wird wahrlich jetzt kein offenes Bekenntnis mehr ablegen, oder sich auch nur ungeschickt verraten. Schließlich – indessen, ich möchte, bevor ich fortfahre, mich vergewissern, ob ich bisher auch nur mit einigem Geschick und Glück für meine Auffassung plädiert habe.«

»Aber mit großem Geschick«, sagte der Graf höflich; »unzweifelhaft – ob mit Glück – mein Gott, wir tappen ja alle im Ungewissen herum – aber, bitte, bitte, fahren Sie fort! schließlich –«

»Schließlich, wenn, was ich für äußerst unwahrscheinlich, ja fast unmöglich halte, der Ort festgestellt werden könnte, an dem die Tat begangen; wenn jeder Zweifel über die Personen schwinden sollte, die sie begangen, und diese Personen nach zweiunddreißig Jahren noch am Leben wären – nun denn, welche Genugtuung erwächst aus der Welt von Mühe und Arbeit, ohne die man sicher nicht zum Ziele gelangen wird, für die Beteiligten – ich meine für die Familie des Vicomte? Der aufgefundene Paß, der über die Natur seiner Mission keinen Zweifel läßt, die Tatsache, daß er nicht nach Frankreich zurückgekehrt, das heißt, auf dieser Mission so oder so verunglückt ist – das sind zwei Fakta, die, unanzweifelbar und unumstößlich, wie sie sind, ausreichen, um sein Andenken für alle Zeiten gegen jede hämischste Verleumdung sicherzustellen. Das hat der Herr Graf selbst zugegeben. Was nun noch folgt, ist nichts weiter als Rache über ein Grab hinaus, das sich vor einem Menschenalter geschlossen, an Menschen, die diese unendliche Zeit gehabt haben, ihre Schuld abzubüßen, und wäre es auch nur dadurch, daß sie das Bewußtsein dieser Schuld so lange haben tragen müssen. Aber alles spricht dafür, daß die Rache diese Menschen nicht mehr treffen wird, wohl aber – und das finde ich so fürchterlich – wohl aber andere, die keinen Teil an jener Schuld haben, es müßte denn eine Schuld sein, von schuldigen Eltern abzustammen. Ich gestehe, gegen die Möglichkeit einer solchen rachsüchtigen Gerechtigkeit sträubt sich meine Empfindung auf das äußerste; und wenn es immer edler ist, unrecht zu leiden, als unrecht zu tun – selbst in dem Moment, wo es erlitten wird, wo es getan werden müßte – wie soll man eine Handlungsweise bezeichnen, die darauf hinausgeht, ein Recht zu konstituieren, das undenkbar ist ohne die höchste Ungerechtigkeit, ja ohne die entsetzlichste Grausamkeit gegen Menschen, die uns niemals unrecht taten, die vielleicht unserer Hochachtung und Liebe, der Hochachtung und Liebe aller guten Menschen wert und würdig sind.«

»Sehr schön«, sagte die Gräfin, »aber verzeihen Sie mir die Frage, Herr Baron, würden Sie wohl ebenso denken und sprechen, wenn Sie an dieser Angelegenheit beteiligt wären, wie Sie unbeteiligt sind? wenn Sie den Mord eines teuren Verwandten und nun gar eines Vaters zu rächen hätten, wie der Vicomte de Brissac?«

Über Gerhards Gesicht flog ein seltsames Zucken, er hob mit fast heftiger Gebärde den Kopf, auf seinen Lippen schien eine Antwort zu schweben, die aber nicht kam, da in dem Moment der Hausmeister in den Saal trat, um dem Grafen zu melden, daß der Förster Garloff anfragen lasse, ob er sich nicht entfernen dürfe, indem er anderenfalls einen notwendigen Dienst versäumen müßte.

»Mein Gott«, sagte der Graf ärgerlich; »dieser Mann macht wirklich Prätensionen wie ein Fürst! Ich wette, daß der Deep, trotzdem ich ihn nicht bestellt, noch immer geduldig wartet, ob ich nicht weitere Befehle für ihn habe.«

»Herr Deep ist noch im Bureau«, meldete der Hausmeister.

»Sagte ich es nicht?« rief der Graf »Der Alte hat trotz alledem mehr Form und Lebensart, als die Jüngeren, wiewohl man den Herrn Förster wahrlich auch nicht mehr zu den letzteren zählen kann.«

»Ist jener Deep der wunderliche alte Mann, den du schon wiederholt in der Angelegenheit des Retzower Forstes zu dir hast kommen lassen?" fragte die Gräfin.

»Eben derselbe, meine Liebe«, erwiderte der Graf; »weshalb?«

»Sagtest du mir nicht, der alte Mann sei eine lebendige Chronik aller Geschichten, die hierzulande gespielt, und dir deshalb in seiner Weise ganz interessant?«

»Allerdings, meine Liebe, aber warum – ja so! nun, das ist in der Tat ein Gedanke! ein glänzender Gedanke!«

»Und ist der Mann nicht bereits seit langer Zeit den Zempins attachiert?«

»Auch das! auch das!« rief der Graf, »und wenn der Alte irgend etwas weiß – er ist freilich entsetzlich stupid und, ich glaube, halb blödsinnig – aber in diesem Falle um so besser, um so besser! Laß mich nur machen – ich werde sogleich –«

Der Graf hatte sich bereits erhoben.

»Noch einen Augenblick!« sagte die Gräfin; – »ist nicht auch der Förster aus dieser Gegend? Mir deucht, sein Zeugnis in der Retzower Sache war dir gerade deshalb von Wichtigkeit?«

»Freilich!«

»Vielleicht wäre es geraten – schaden kann es ja unter keinen Umständen – wenn du auch ihn etwas zum Plaudern brächtest?«

Der Graf lachte. – »Zum Plaudern!« rief er; – »den? du kennst den Mann nicht; ich wollte eher das Büfett dort zum Plaudern bringen!«

»Gleichviel! er wird doch beantworten müssen, was du ihn fragst. Es würde nur auf die Fragen ankommen.«

»Wahrhaftig«, sagte der Graf; »ich will dir das überlassen. Einen geschickteren Inquirenten finde ich nicht.«

»So laß die Leute hereinkommen«, sagte die Gräfin lächelnd; »wenn sich für mich das Fragen auch nicht schicken dürfte, so möchte ich allerdings gern hören, was du fragst, und was sie antworten.«

»Ich dächte, es wäre das beste, wenn wir einen nach dem anderen abhörten?« sagte der Graf, sich zu Gerhard wendend; – »mit wem sollen wir anfangen?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Gerhard, »wenn ich in diesem Falle nicht einmal eine Meinung zu äußern wage.«

»Weil Sie kein Amt haben«, rief der Graf lachend; – »mon dieu, ich habe hier im Grunde auch keines – wenigstens vorläufig nicht; aber das ist doch von keiner Relevanz. Das Ganze ist ja, alles in allem, nur ein Pourparler

»Die Herren nehmen die Sache viel zu schwer«, sagte die Gräfin ungeduldig; »weshalb so viel Umstände mit diesen Leuten? Laß den Förster zuerst kommen: ich verspreche mir von ihm am wenigsten.«

»Also der Förster! Ich ließe ihn bitten, für einen Moment hereinzukommen!«

Der Hausmeister, der dem letzten Teile des halblaut geführten Gespräches mit schuldiger Devotion zugehört hatte, entfernte sich und kam alsbald mit dem Förster zurück, der, nachdem er ein paar Schritte in das Gemach getan, in straffer, militärischer Haltung stehenblieb und die Gesellschaft finster anblickte, wobei die Gräfin zu bemerken glaubte, daß er den Gast besonders fixierte.

Gerhard hatte die Unruhe von seinem Sitze aufgetrieben, und der Graf war aus Höflichkeit seinem Beispiele gefolgt, während die Gräfin ihren Platz behielt. Die beiden Herren waren näher an den Förster herangetreten.

»Ich habe Sie kommen lassen, lieber Garloff«, sagte der Graf, »um Sie zu fragen, ob für die Benutzung des Retzower Forstes morgen eine spezielle Anfrage respektive Bitte um Erlaubnis von den betreffenden Herrschaften bei dem Herrn Oberförster eingegangen, respektive Ihnen insinuiert ist?«

»Mir ist nichts davon bekannt, Herr Landrat.«

»So, so!« sagte der Graf; »also nichts! ich dachte es mir. Indessen: es wäre mir aus manchen Gründen wünschenswert, wenn das beabsichtigte Fest trotz der unterlassenen Anmeldung keine Störung erlitte. Verstehen Sie mich?«

»Ich bedaure: nein, Herr Landrat.«

»Aber mein Gott, das ist doch sehr einfach«, sagte der Graf, dessen gute Laune durch die Zurückhaltung des Försters und durch die wiederholte Anrede mit seinem offiziellen Titel, an die er ganz und gar nicht gewöhnt war, bereits einen harten Stoß erhalten hatte; – »die Störung könnte doch nur von Ihnen, ich meine: von der Forstverwaltung, ausgehen, und ich wünsche eben, daß nichts dergleichen geschieht.«

»Nach meiner Instruktion darf ich mich hier einzig und allein nach den Befehlen meines unmittelbaren Vorgesetzten, des Herrn Oberförsters, richten; vielleicht haben der Herr Landrat die Güte, das Notwendige noch rechtzeitig veranlassen zu wollen.«

»Das wird sich finden; vorderhand kennen Sie meine Intentionen, was Ihnen ja hoffentlich genügen wird.«

»Haben der Herr Landrat sonst etwas zu befehlen?«

»Ich danke Ihnen: nein! das heißt –«

Der Förster, der die militärische Haltung durchweg festgehalten, hatte bereits eine Wendung nach der Tür gemacht, als sie geöffnet und von dem Hausmeister die seltsame Gestalt Vadder Deeps mehr in den Saal geschoben, als eingelassen wurde. Der Graf geriet in einige Verlegenheit; der Hausmeister hatte ihn offenbar mißverstanden. Seine inquisitorische Methode war bis jetzt durch kein besonderes Resultat ausgezeichnet worden; er hatte die klug ersonnene Einleitung zu lang ausgesponnen, und das unerwartete Eintreten Deeps schien den Faden völlig durchschnitten zu haben. Den Mann wieder hinauszuschicken, ging nicht wohl an, weil dadurch die Fragen, die er nun doch noch an den Förster stellen wollte, eine Bedeutung angenommen hätten, welche zu verdecken er gerade beflissen war. So faßte er denn einen schnellen Entschluß und sagte:

»Es ist mir lieb, daß Sie kommen, Deep, während der Herr Förster – Sie schenken mir wohl noch ein paar Minuten, Herr Förster? – die Sache ist, wie ich im voraus bemerken will, in keiner Weise offiziell, nur eine Gefälligkeit, welche die Herren mir erweisen, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten – eine Auskunft erteilen, die ich nur von älteren Leuten aus dieser Gegend erwarten kann. Zuerst: wann sind Sie geboren, lieber Deep? Sie haben das ja schon zu den Retzower Akten gegeben; aber das Datum ist mir augenblicklich nicht gegenwärtig.«

Vadder Deep blinzelte nach der Decke, als ob dort irgendwo zwischen den Rosetten und Schnörkeln des Stuckes die Zahl geschrieben stehen müßte, und er nur einige Mühe habe, sie zu finden.

»Siebzehnhundertachtzig« murmelte er endlich.

»Und Sie, Herr Förster?«

»Siebzehnhundertfünfundachtzig«, erwiderte der Förster; »auch mein Personale befindet sich bereits bei den Retzower Akten und dürfte auch sonst dem Herrn Landrat bekannt sein.«

Der Graf warf dem Förster einen unwilligen Blick zu, besann sich aber sofort darauf, daß er hier seine Autorität nicht geltend machen dürfe, und sagte in einem sehr höflichen Tone:

»Gewiß, gewiß, Herr Förster – wir sind ja alte Bekannte! Sie sind im Schwanheider Forsthaus geboren, waren dann Gehilfe, erst Ihres Vaters, dann bei Ihres Vaters Nachfolger. Sie sehen, ich habe alles noch im Kopfe, auch daß Sie dann 1813 in den Krieg gingen, wo Sie sich ja äußerst wacker gehalten haben – ungewöhnlich tapfer; während unser guter Deep hier, nachdem er längere Zeit Retzow in Pacht gehabt, im Jahre 1815, als der verstorbene Herr Zempin Retzow, Kantzow und Kosenow übernahm, nach Hinterpommern übersiedelte, von wo Sie doch gleich wann in hiesige Gegend zurückkehrten, lieber Deep?«

»Achtzehnhundertvierundzwanzig«, las Deep nicht ohne Anstrengung von der Stuckdecke.

»Ganz richtig, achtzehnhundertvierundzwanzig; und der Herr Förster wurde ein Jahr später – kehrte ein Jahr darauf hierher zurück, um die Stelle anzutreten, die er noch heute mit so großem Pflichteifer verwaltet. Nicht wahr, das alles verhält sich so? ich darf mithin annehmen, daß Sie beide bis zum Jahre 1812 respektive 1813 noch hier im Lande waren und sich der damals herrschenden Zustände und der damaligen Ereignisse natürlich mit vollkommener Deutlichkeit und Genauigkeit erinnern. Gerade auf den letzteren Punkt kommt es aber in dem betreffenden Falle an. Und da möchte ich nun die Herren bitten, mir zu sagen, ob Ihnen aus jener Zeit etwa erinnerlich ist, daß irgendwo auf einem Gute hier im Regierungsbezirke eine kleine Gesellschaft französischer Offiziere längere Zeit – ein paar Wochen hindurch – eine Zufluchtsstätte gefunden? Ich füge hinzu, daß in dieser, wie gesagt, kleinen Gesellschaft ein vornehmer Herr war, dessen hinterbliebene, sehr reiche Familie sich dem ihr unbekannten Wohltäter dankbar erweisen möchte, und eben deshalb bemüht ist, diesen oder dessen Nachkommen ausfindig zu machen.«

Der Graf, der mit der harmlosen Schlußwendung, die er der Sache gegeben, ganz besonders zufrieden war, suchte in den Augen der Gräfin die Anerkennung seiner Klugheit zu lesen und war sehr betreten, als ihm anstatt eines freundlichen Lächelns nur ein leichtes, mißbilligendes Kopfschütteln zuteil wurde. Darüber bemerkte er nicht, daß die Antwort, worauf doch schließlich alles ankam, ausblieb. Vadder Deep studierte eifriger als je an den Ornamenten der Decke, während der Blick des Försters starr auf den parkettierten Fußboden geheftet war.

»Nun, meine Herren!« sagte der Graf ungeduldig; »es scheint, daß Ihnen ein derartiger Fall nicht erinnerlich ist; und dabei will ich bemerken: die Tatsache selbst – ich meine: der Aufenthalt jener Herren, unter denen sich nebenbei ein deutscher Edelmann befand – steht völlig fest, noch mehr: auch der Ort, ich meine das betreffende Gut ist schon gefunden, und zwar liegt es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, das heißt, in nächster Nähe der Orte, wo sich die Herren während eben jener Zeit zugestandenermaßen befanden.«

Das Kopfschütteln der Gräfin war sehr ausdrucksvoll geworden; der Graf rief in ärgerlichem, fast heftigem Tone: »Aber, Deep, so reden Sie doch!«

Der verlorene Blick der verschwommenen Augen wandte sich langsam von der Decke abwärts und irrte dann seitwärts zu dem noch immer auf den Fußboden starrenden Förster.

»Weißt du was, Fritz?«

Über die wie in Nacht getauchten Züge des Försters zuckte es wie ein greller Blitz.

»Nein!« stieß er hervor.

Vadder Deep lächelte: »Ich weiß auch nichts.«

»Auch Sie nicht?« rief der Graf; »auch Sie nicht?«

Vadder Deep lächelte: »Garloff hat so ein gutes Gedächtnis, und meines –«

Es blieb unverständlich, was Vadder Deep in seiner unsicheren Weise noch murmelte.

»Ich habe Ihr Gedächtnis bei anderen Gelegenheiten im Gegenteil sehr vortrefflich gefunden«, rief der Graf, der mit jeder Sekunde mehr die Haltung verlor.

»Ich glaube, du kannst die Herren entlassen«, sagte die Gräfin.

»Ich danke Ihnen!« sagte der Graf mit einer sehr kurzen Handbewegung, indem er sich gleichzeitig auf den Hacken umwandte.

Vadder Deep machte sofort von der erhaltenen Erlaubnis Gebrauch und schlurfte mit schwankenden Tritten nach der Tür, in der er stehenblieb, als ob er auf seinen Gefährten wartete.

Der aber stand noch immer, ohne sich zu regen, nur daß seine Augen nicht mehr niederwärts, sondern geradeaus auf Gerhard gerichtet waren, mit demselben schaudervollen Ausdruck der Todesangst oder doch des grausigsten Entsetzens, wie bei jener ersten Begegnung am Rande des Wiesensees. Doch war das nur für einige Momente, die dem gräflichen Paare, das eben leise, aber sehr lebhaft disputierte, gewiß entgangen waren. Dann hatte auch er sich gewandt und war mit raschen Schritten an Vadder Deep vorüber, der ihm lächelnd Platz machte, zur Tür hinausgeeilt. Vadder Deep und der Hausmeister folgten; Graf und Gräfin und ihr Gast waren wieder allein.

Die Gräfin erhob sofort ihre Stimme.

»Es tut mir leid, lieber Ulrich, aber ich habe diesmal deine gewöhnliche Klugheit vermißt. Weshalb dieser unverhältnismäßig höfliche, fast bittende Ton, wo ein autoritativer viel mehr an der Stelle gewesen wäre? Solchen Leuten muß man imponieren, muß man einfach befehlen, wenn man zu seinem Ziele kommen will. Und dann, welche Unvorsichtigkeit – du darfst mir das Wort nicht übelnehmen – seine Karten so aufzudecken, während diese Menschen die ihren gründlich festhielten und – ich habe es wohl gesehen – sich einander geschickt in die Hände spielten.«

»Mein Gott, liebe Alix«, rief der Graf, »wer dich so sprechen hört, sollte wahrhaftig glauben, jene beiden Leuten wären selbst in die Sache verwickelt, und ich hätte sie in sträflichster Unvorsichtigkeit entwischen lassen!«

»Und wer sagt dir, daß sie es nicht sind, und daß du es nicht getan? Ja, mein Gott, lieber Ulrich, hast du denn ganz vergessen, wie in dem Briefe des Vicomte jener erste Helfershelfer – denn etwas anderes ist der Mensch nicht gewesen – ausdrücklich ein Nachbar genannt wird? Nun, und war der Pächter von Retzow kein Nachbar des Kosenower Verwalters? der nächste Nachbar? und kann dieser überaus widerwärtige, impertinente Mensch, der Förster – ein Mensch, der schlecht genug war, seinen Offizier zu ermorden – nicht ebensowohl der zweite Helfershelfer und Mörder jener Unglücklichen gewesen sein? Ich muß dir sagen, lieber Ulrich, wären mir die Verhältnisse der beiden so klar gewesen, wie sie es dir doch in der Tat waren – ich würde mich sehr gehütet haben, so vorzugehen, und vor allem, die beiden gleichzeitig zu vernehmen, anstatt sie einzeln abzuhören und hernach zu konfrontieren.«

»Als ob mir der dumme Kerl von Stabenow die Wahl gelassen«, rief der Graf; »als ob ich ihm nicht ausdrücklich einen Wink gegeben, den Deep später hereinzubringen! Und im übrigen, liebe Alix: dein Scharfsinn in höchsten Ehren; aber dein Eifer reißt dich zu weit – viel zu weit! Ja, wahrhaftig, wenn es nicht zu ungalant wäre, ich müßte wirklich lächeln! Diese Menschen Komplizen eines so abscheulichen Verbrechens! Dieser alte Mann, der die Gutmütigkeit selber ist, dessen Harmlosigkeit und – gerade heraus – halber Blödsinn ihn zum Stichblatt der schlechten Witze und zum Kinderspott der ganzen Umgegend macht? und nun der Förster gar! ja, Liebe, du kennst eben die Geschichte dieses Mannes nicht! du weißt nicht, daß jener Totschlag – von Mord ist keine Rede – von ihm begangen wurde infolge eines schwersten Provokation in einem Augenblicke, als man im Begriffe war, ihn, der Wunder der Tapferkeit getan und mit dem eisernen Kreuze dekoriert war, vom Feldwebel zum Offizier zu befördern! daß man ihn allerdings nach der Strenge der Kriegsgesetze zum Tode verurteilen mußte, aber froh war, als man ihn zu lebenslänglicher Festungsstrafe begnadigen konnte; daß sich die höchsten Personen für ihn interessiert und seine völlige Begnadigung längst zuvor erwirkt hätten, wäre nicht die hochselige Majestät in diesem Punkte besonders diffizil gewesen! Ja, meine Liebe, das alles mußte man freilich wissen, um mein Vorgehen – ich will immer noch nicht sagen: zu billigen, aber ganz gewiß billiger zu beurteilen, so, wie ich überzeugt bin, daß der Herr Baron es tut.«

»Und ich bin überzeugt«, sagte die Gräfin, »daß wir unseren lieben Gast mit einer Angelegenheit, die ihm, als einem Fremden und, wenn ich mich so ausdrücken darf, völlig Unbeteiligten, doch nur ein mäßiges Interesse einflößen konnte, nicht einen Augenblick länger behelligen dürfen, und bitte dringend, die Diskussion ein für allemal abzubrechen.«

»Ich bin völlig deiner Meinung, liebe Alix«, sagte der Graf; »Sprechen wir von etwas anderem!«

Aber ein anderes Gespräch wollte sich nicht gestalten. Der Graf war innerlichst verletzt durch den Widerspruch, den er in Gegenwart Gerhards von seiner Gemahlin erfahren; und war empört über diesen, der den direkten Appell an seine Billigung nur mit einer höflichen Verbeugung erwidert hatte. Er fand das anfangs so günstige Urteil, das er sich über den neuen Bekannten gebildet, voreilig, übertrieben, ja geradezu falsch – er hatte eben keinen glücklichen Tag; es schien, als ob er sich heute nicht auf sich verlassen könne. Aber auf wen konnte man sicher überhaupt verlassen. Der Herr Gardeleutnant Baron Odo von Vacha, mit dem er in Berlin bei Onkel Exzellenz an der Tafel zusammengetroffen, hätte ihm den Herrn Vetter auch wohl weniger warm zu empfehlen brauchen! Und weshalb hatte der Leutnant den ihm persönlich kaum bekannten Vetter so herausgestrichen? doch nur, weil der weimarsche Prinz, der mit den Vachaschen Familienverhältnissen sehr vertraut schien, über die Tafel herüber geäußert: er hoffe, daß die Vachas das Kriegsbeil begraben hätten und fortan in Frieden miteinander lebten! Was gingen ihn selbst die Vachaschen Familienhändel an? was wußte er von diesen Händeln?

Und nun mußte er doch, da es an jedem anderen Gesprächsstoffe zu fehlen anfing, auf eben jenen Herrn Gardeleutnant zurückgreifen. Wie dankbar er ihm sei, daß er ihm zu einer so interessanten Bekanntschaft verholfen, und wie er hoffe, daß diese Bekanntschaft bei dem nachbarlichen Verhältnis von seiten des Herrn Barons nicht minder eifrig gepflegt werden würde, als es von seiner und seiner Gemahlin Seite gewiß geschehen werde.

Endlich fand Gerhard eine schickliche Wendung, um sich bei seinen Wirten für heute zu beurlauben.

Die Gräfin, die zuletzt sehr schweigsam geworden, bot ihm mit zerstreutem Lächeln die Hand, die sie etwas schnell zurückzog, da er keine Miene machte, sie an die Lippen zu ziehen; der Graf geleitete ihn bis zur Rampe, wo der Braune schon gesattelt stand. Man hatte Gerhard ausdrücklich bitten lassen, daß er nicht im Gesellschaftsanzuge kommen möchte, sondern ganz sans gêne; – »und ich hoffe, dabei bleibt es auch in Zukunft«, sagte der Graf; – »au revoir, lieber Baron, au revoir


 << zurück weiter >>