Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Drittes Buch

Erstes Kapitel.

Gestern bei der Rückkehr von Kosenow hatte Gerhard den Weg über Retzow genommen und war Vadder Deeps, den seine scharfen Augen schon aus weiter Ferne mitten auf dem Felde unter den Arbeitern bei Aufrichtung einer Miete entdeckt, wirklich habhaft geworden, indem er direkt auf den Ort zusprengte und dem Alten keine Zeit zum Entwischen ließ. Er hatte ihn dann, im Namen der beiden Herren Zempin, beauftragt, die Retzower Gespanne morgen mit dem frühesten nach Kantzow zu schicken auf eine Stelle, die er bestimmt bezeichnete. Damit der Alte nicht, wie er es gelegentlich tat, sich mit Schwerhörigkeit entschuldigen könne, hatte er die Stimme laut erhoben, so daß sämtliche Arbeiter ihn vernehmen mußten, und auch sonst geflissentlich den Auftrag in die Form eines strengen, unabweislichen Befehls gekleidet. Während er nun heute selbst in den Morgenstunden auf dem entgegengesetzten Ende des Gutes die Aufarbeitung des Restes, der vom vorigen Tage geblieben, überwacht hatte, wurde ihm, als er gegen zehn Uhr nach Hause kam, um sich zu dem beabsichtigten Besuch bei dem Grafen zurechtzumachen, durch einen der beiden Unterinspektoren – wie etwas, das sich ja eigentlich von selbst verstände – die Mitteilung, daß bis zur Stunde kein Retzower Gespann sich auf der bezeichneten Stelle habe blicken lassen.

Gerhard war empört. Wie sehr er auch dem Alten mißtraute und – vollends seit gestern – überzeugt war, es müsse hinter dem geheimnisvollen Wesen des Mannes mehr und Schlimmeres sich verbergen, als außer ihm und Edith irgend jemand zu argwöhnen schien – er hatte eine derartige Widerspenstigkeit nicht für möglich gehalten. Er fragte nach Herrn Zempin und hörte, daß er bereits wiederholt nach ihm verlangt und jetzt in seinem Arbeitszimmer sei. Dorthin begab er sich denn sogleich. Herr Zempin war – sehr gegen seine Gewohnheit – bereits in vollem Anzuge und kramte, als Gerhard eintrat, zwischen seinen Papieren.

»Gut, daß Sie kommen, lieber Baron!« rief er Gerhard entgegen; »ich habe eine Welt für Sie zu tun. Sehen Sie diesen Aktenstoß, den mir der Graf – aber vorerst: aus Ihrem Besuche bei dem Grafen kann heute nichts werden. Der Bote, der Sie anmelden sollte, hat mündlichen Bescheid gebracht, daß der Graf heute morgen nach Sundin gefahren ist und vor morgen vormittag nicht zurück sein wird. Die Frau Gräfin läßt sich Ihnen empfehlen und hat dem Boten eine Einladungskarte gegeben, die schon für Sie bereitgelegen – auf morgen fünf Uhr zum Diner. Gehen Sie ja hin – schon um den Herrn Grafen ad oculos zu demonstrieren, daß man bei uns zulande nichts so heiß esse, als es eingebrockt ist. Da! den ganzen Aktenstoß hat er – oder der Amtsschreiber – mir geschickt! scheint auch schon bereitgelegen zu haben! Die leidige Prozeßgeschichte, in der das Gericht uns den Eid zuschieben will, daß bei der Übernahme der Güter die Unterlassung unseres Protestes gegen die Ansprüche des Fiskus aus völliger Unkenntnis der Sachlage, heißt: der Fiskusansprüche, geschehen sei! Es ist die Schlinge, an der man uns aufknüpfen will – wir müssen auf jeden Fall den Hals heraus haben. Es sind da die alten Akten nachzusehen – sie liegen unten im Schrank – nehmen Sie sich nur vor dem Staub in acht! – werden bis auf den Grund des Wustes tauchen müssen. Mir scheint der Kaufkontrakt des Vaters mit dem Schweden weitaus die Hauptsache – unsere magna charta, sozusagen – er muß auch dabei sein – denke ich – werden ihn schon finden mit Ihren klugen, gewissenhaften Augen. – Dann ist hier eine andere Geschichte. Die alte Schulten – die Mutter vom Schulten-Jochen, wissen Sie – soll nun doch durchaus ins Irrenhaus! Gemeingefährlich! dummes Zeug! blödsinnig ist sie – und nicht erst seit gestern – und getaugt hat sie ihr Lebtag nicht viel – kenne sie von Kindesbeinen an – war Ausgeberin schon in Kosenow, als der Vater dort Verwalter – aber gemeingefährlich, weil sich der Jochen, der lange Schlingel, noch von ihr prügeln läßt – Unsinn – sage ich; obgleich mir auch Vadder Deep schon lange damit in den Ohren liegt. Reskribieren Sie einfach: ich wolle nicht, beantrage eventuell eine Entscheidung der Regierung, und den Kreisphysikus mag der Teufel holen! So, lieber Freund, da habe ich Ihnen die Schultern mal wieder übervoll geladen; und nun muß ich machen, daß ich in den Wagen komme – nach Gartendamm – auch wieder eine fatale – eine recht fatale Geschichte, die ich Ihnen später gelegentlich erzähle! Adieu einstweilen!«

Er hatte die Mütze bereits auf, als er Gerhard die Hand reichte.

»Ich bitte Sie, einen Moment zu verziehen«, sagte Gerhard; »die Retzower Gespanne –«

»Sind nicht gekommen – ich weiß«, rief Herr Zempin; »Vadder Deep war vor einer Stunde selber hier, sich zu entschuldigen; es ging eben nicht. Mußte heute mit drei Wagen Korn nach Grünwald – ich hatte das ganz vergessen, und die übrigen drei hat meine Frau für das Fest übermorgen mit Beschlag belegt. Der Teufel mag wissen, was sie da alles hinauszuschaffen haben; aber wir dürfen den Frauensleuten nicht in ihren Kram kommen!«

»Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn ich das alles gestern gewußt hätte«, sagte Gerhard.

»Freilich, freilich!« warf Herr Zempin ein.

»Denn«, fuhr Gerhard mit größerem Nachdruck fort, »ich fürchte, daß ich in Zukunft von der Machtvollkommenheit, mit der Sie mich in einer mich fast beschämenden Weise ausgestattet haben, einen viel vorsichtigeren Gebrauch werde machen müssen.«

»Sie meinen wegen der Order und Konterorder von gestern und heute«, rief Herr Zempin lachend – »ach, lieber Freund, da kennen Sie unsere Leute wirklich nicht; dergleichen passiert zu oft! Leider! wollen Sie sagen; ich gebe es zu; und auch, daß das Dritte im Bunde: le désordre, gewöhnlich nicht ausbleibt. Es ist nicht recht: es muß anders werden, und es soll anders werden – ich verspreche es Ihnen. Nun machen Sie aber auch ein freundliches Gesicht! Sie haben mich bereits zu sehr verwöhnt, und gerade heute – aber, wie gesagt, davon ein anderes Mal – leben Sie wohl!«

An der Tür blieb er wiederum stehen:

»Was ich sagen wollte – schlagen Sie lieber in der Angelegenheit mit der Schulten einen milderen Ton an, oder lassen Sie sie meinetwegen einsperren. Die Welt verliert nichts an ihr, und ich möchte Vadder Deep, der sich nun einmal darauf kapriziert hat, nicht entgegen sein – gerade jetzt. Er ist bei dem Akte der Überlieferung der Güter als Zeuge zugegen gewesen. Von seiner Aussage – und es ist schon abgemacht, daß er vorgefordert wird – hängt viel – sehr viel ab – vielleicht alles. Lassen Sie sie einsperren – es ist wirklich das zweckmäßigste. Keine Umstände mit mir, bester Freund! Bleiben Sie hier, und – an die Gewehre!«

Er lachte, schüttelte Gerhard nochmals die Hand, nickte und war aus dem Zimmer.

Es war ein mäßig großes Gemach zu ebener Erde, dessen einziges Fenster nach dem Garten ging. Außer den Aktenrepositorien bestand das Meublement hauptsächlich aus einem sehr langen und breiten, mit schwarzem Leder überzogenen, stellenweise schon recht schadhaften Sofa, wo Herr Zempin seine Nachmittagsruhe zu halten pflegte, und einem großen Zylinderbureau, auf dessen stets geöffneter Klappe in wüstem Durcheinander Berge von Papieren lagen, die Gerhard erst beiseite schieben mußte, um nur Raum für seine Arbeit zu gewinnen.

Er wollte keine Minute verlieren; er wollte keine Minute Zeit haben, dem Mißmute nachzuhangen, mit dem er gekommen, und den die eben stattgehabte Unterredung in eine Stimmung verwandelt, über die er sich lieber keine Rechenschaft gab; er wollte das Ungeheure, das ihn seit gestern nachmittag bedrückte, beängstigte und wieder erhob und beseligte, wenigstens auf eine kurze Spanne Zeit von seiner Seele wälzen.

Die Angelegenheit der blödsinnigen Frau schien am dringendsten und wohl auch am schnellsten zu erledigen; so nahm er denn die darauf bezüglichen Akten zuerst vor. Es war ein ganzes Faszikel: Personalia, Leumundszeugnisse, landrätliche Reskripte, ärztliche Gutachten – letztere für Gerhard besonders interessant, weil eines immer dem anderen möglichst widersprach. Es schien ihm ein frevelhafter Leichtsinn, auf so entgegengesetzte Aussagen der Experten hin den bürgerlichen Tod eines Menschen zu dekretieren – es fiel ihm, als er an Herrn Zempins Worte dachte: oder lassen Sie sie einsperren, – jenes fürchterliche ›recht gern!‹ des Prinzen in Emilia Galotti ein. Herr Zempin war eben auch sehr ›eilig‹ gewesen!

»Ich bin es nicht«, sagte er bei sich; »ich will mir die kleine Mühe nicht verdrießen lassen, die Frau selbst zu sehen und zu sprechen, die Herr Deep durchaus ins Irrenhaus haben will.«

So war er abermals mit seinen Gedanken bei dem greulichen Menschen angelangt. Freilich, wie war es möglich, ihn loszuwerden, den alten Maulwurf, dessen lichtscheue Gänge nach allen Seiten hin liefen, dessen widerwärtige Spur man auf allen Wegen und Stegen, in Flur und Wald und Wiese traf! – er wenigstens traf! Den übrigen schienen ja seine Schliche verborgen zu sein oder für das natürlichste Ding von der Welt zu gelten! – Hatte nicht Edith gesagt: ich bin ihnen eine Kassandra? Das edle Mädchen – eine Priesterin sicherlich! nun denn, so will ich in ihrem Tempel der Hüter sein und mit starken Hüterfäusten den Schelm und Dieb greifen, der sich in das Heiligtum zu schleichen wagt, wie in die Spelunke.

Er hatte hastig, zornig das Aktenfaszikel wieder zu sammeln gesucht, das, schlecht geheftet, in einzelnen Bogen und Blättern auseinander gefallen war über den Wust von Papieren auf dem Pulte, zum Teil auf den mit zerrissenen und unzerrissenen Briefen bedeckten Boden. Endlich glaubte er alles richtig beisammen zu haben und schlug, um sich davon zu überzeugen, Blatt für Blatt um. Dabei gelangte er an einen Brief, den er vorhin nicht bemerkt hatte:

»Ew. Hochwohlgeboren erlaube ich mir, auf Ihr geehrtes gestriges Schreiben mitzuteilen, daß es mir leider nicht möglich gewesen, den eingeschlossenen, von Herrn A. St. ausgestellten und von Ew. Hochwohlgeboren akzeptierten Wechsel über 1000 Taler an hiesigem Orte zu placieren, es mir aber vielleicht noch in Grünwald, wohin ich morgen abend fahre, gelingen wird, worauf Valuta umgehend erfolgen soll. Ich benutze diese Gelegenheit, Ew. Hochwohlgeboren darauf aufmerksam zu machen, daß medio hujus eine längere Reihe von Akzepten Ew. Hochwohlgeboren, im Gesamtbetrage von 10,354 Taler, fällig wird, für deren abermalige Prolongation ich nicht stehen kann, da Platt und Lüttmann, wie ich soeben erfahre, dieselben nicht, wie sie gehofft, in ihrem Portefeuille haben behalten können, sondern weiter begeben müssen. Für die qu. Akzepte schleunigst auf Deckung bedacht zu sein, möchte ich daher ebenso ergebenst wie dringend raten als Ew. Hochwohlgeboren

allzeit dienstfertiger Freund und Rechtsbeistand

P. A. Zinker.

Gartendamm, 29. Juli 1844«

»Herrn Moritz Zempin, Hochwohlgeboren auf Kantzow.«

Gerhard hatte bis zu dem Datum und der Adresse des bis auf die Unterschrift von einer Schreiberhand aufgesetzten Briefes gelesen, bevor er sich völlig bewußt wurde, daß er an Herrn Zempin gerichtet war, und daß es sich um eine Angelegenheit von heute handle – dieselbe unzweifelhaft, die jenen so eilig in die Stadt getrieben. Also wirklich, wirklich! Die Andeutungen und Mitteilungen, die ihm gestern mittag Frau Sallentin über die Zerrüttung von Herrn Zempins pekuniären Verhältnissen gemacht und die er schlimmstenfalls für starke Übertreibungen der übelgesinnten Frau gehalten, bestätigten sich in einem Umfange, der ihn entsetzte. Ja, dies war entsetzlich, selbst wenn es nur augenblickliche Verlegenheiten waren, selbst wenn Herr Zempin imstande war, so ungeheueren Verbindlichkeiten nachzukommen. Ohne große Opfer und Verluste sicher nicht! Und die Verlegenheiten konnten nicht nur momentan sein! Die schon so lange ausstehende Sallentinsche Schuld, die nicht einmal verzinst wurde, die Prolongation der Wechsel, für die der Advokat diesmal nicht stehen zu können glaubte, bewiesen es. Und der Rat des Mannes, auf Deckung zu denken, klang er nicht wie Drohung, ja, in einem Augenblicke, wo er den neuen Wechsel ›vielleicht noch in Grünwald‹ zu placieren hoffte, wie ein Hohn? schneidend und widerlich, dem Gelächter gleich, das da eben aus dem Garten von der Laube herüberschallte! Sie konnten sich amüsieren und ihre Narrenspossen treiben auf seine Kosten, der jetzt auf dem Wege nach der Stadt war – großer Gott! mit welch drückenden Empfindungen, unter wie schweren Sorgen! Freilich, er hatte sie sich selbst bereitet und aufgebürdet, und er war der Mann danach, die schlimme Last zu tragen! Aber was hatte sie verschuldet, die Gute, Schöne, deren zarte Mädchenschultern er gestern unter einer nicht minder schweren Last gebeugt gesehen, wie tapfer sich auch das edle Herz gegen den Druck wehren mochte!

So stand er noch, den schlimmen Brief in den Händen, das eigene Herz übervoll von Mitleid und Mitsorge, als er ein Geräusch vor dem offenen Fenster vernahm. Er hatte gerade Zeit, den Brief in das Faszikel zu legen, da wurden auch schon die Vorhänge von grüner Seide, die er, um ungestört zu sein, vorhin zugezogen, ein wenig auseinander getan, und Julie steckte den Kopf durch die Öffnung, die beiden Enden der Gardine wie einen Schleier um sich zusammenziehend.

»Darf man für einen Moment stören, Herr Baron?«

»Bitte, gnädige Frau!«

»Nur für einen Moment! Ich weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist, und Moritz versteht sich darauf, seine Freunde in Atem zu erhalten. Er ist in die Stadt, nicht wahr?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Ohne mir Adieu zu sagen – natürlich! Und wann kommt er zurück?«

»Ich vermute: heute abend – ich weiß es nicht.«

»Dann weiß es niemand – ja, aber wie soll es denn nun werden?«

»Was, gnädige Frau?«

»Wir sind in der schrecklichsten Verlegenheit. Wir müssen ganz notwendig einen Wagen nach Grünwald haben und zwei Boten zu Pferde nach Westrow und Heindorf an Fischers und Suhrs – denken Sie, Stude hat die längst ausgeschriebenen Einladungen liegen lassen! sie würden es mir nie vergeben – bitte, bitte, lieber Herr Baron, helfen Sie einer armen geplagten Frau!«

Sie hielt die Vorhänge noch immer fest. In dem grünen Halbdunkel glänzten ihre lachenden Augen und blitzten ihre weißen Zähne – wohl für jeden sonst ein reizender Anblick, der aber Gerhard widerwärtig berührte. Er glaubte seit gestern nicht mehr an dieses Lächeln.

»Ich bedaure, gnädige Frau«, sagte er; – »ich weiß wirklich nicht zu helfen; soviel mir bekannt, sind alle Leute und Pferde auf dem Felde. Sie sollten sich an den Herrn Oberinspektor wenden, gnädige Frau!«

»Aber Klempe, der eben zurückgekommen, schickt mich zu Ihnen! Bitte, bitte! da ist ja noch der Rappe meines Mannes – zur Not könnte einer von den Herren reiten – ob freilich einer reiten kann? Glauben Sie?«

»Jedenfalls bedarf der Rappe, der wieder mehrere Tage gestanden, eines guten Reiters.«

»Wie Sie!«

»Ich bin leider hier sehr beschäftigt, gnädige Frau.«

»Als ob ich Ihnen dergleichen zumuten würde! Sie sind abscheulich!«

Sie ließ, den Kopf zurückziehend, die Vorhänge fallen, tat sie aber alsbald, und diesmal weiter als vorhin, auseinander:

»Lieber, lieber Herr Baron, sind Sie mir bös?«

»Welche Ursache hätte ich dazu?«

Er war endlich von dem Pulte an das Fenster getreten.

»Die abscheulichen Gardinen!« sagte Julie.

Gerhard zog die Schnur.

»Gott sei Dank!« sagte Julie.

Sie hatte sich mit beiden Armen auf das Fensterbrett gelehnt, den Schal über Schultern und Busen fest zusammenhaltend, wie vorhin die Vorhänge, die lebhaften Augen zu Gerhard, der vor ihr stand, mit einem fast zärtlichen Ausdruck erhebend.

»Ich war gestern so aufgeregt – die Hitze, die große Gesellschaft, das lange Sitzen bei Tisch, die vielen Gäste – lieber Himmel, man hat schließlich seine Nerven, wie wenig Wesens man auch sonst daraus macht. Ich habe gewiß schreckliches Zeug geredet – wir Frauen sind nun einmal so! Da ist denn alles pechschwarz oder schneeweiß, was vielleicht harmlos grau ist. Uns erleichtert es das übervolle Herz, und dann ist's wieder gut; aber bei euch bleibt es sitzen, und das ist schlimm. Denn ihr tragt es uns nach und laßt uns bitten und betteln um einen freundlichen Blick, um ein gütiges Wort. Das kostet euch so wenig, und doch kargt ihr damit. Geht, ihr seid schlecht!«

Der hübsche Mund verzog sich zu einem reizenden Schmollen; Gerhard wußte nicht, was er antworten sollte. Vielleicht hatte es die lebhafte junge Frau so bös gar nicht gemeint; und durfte er ihr im Grunde wegen einer Warnung zürnen, deren Berechtigung sich so furchtbar schnell herausgestellt? War es ritterlich, war es auch nur klug, die zornige Scham, die Bitterkeit, die ihn erfüllten, dieser Frau zu zeigen? an dieser Frau auszulassen?

»Sehen Sie, nun sind Sie wieder gut – ich wußte es: Sie können nicht lange zürnen! Und ich bin ja so reumütig, so gern bereit, alles, alles was ich gesagt habe, zurückzunehmen. Die liebe Kleine! Ich habe einen Brief von ihr – sie schreibt so entzückende Briefchen – es ist auch etwas für Sie darin, oder vielmehr, ich glaube, er ist ganz und gar für Sie und bloß zur Vorsicht an mich adressiert. Als Erklärung will ich nur vorausschicken, daß Maggie, wie sich gebührt, in dem kleinen Scherz, den wir für übermorgen vorbereiten, die Hauptrolle hatte, die nun leider ausfällt, wodurch wir nebenbei in die gräßlichste Verlegenheit kommen, Aber hören Sie!«

Sie hatte sich aufgerichtet und aus dem Busen ein Rosabriefchen genommen, das sie entfaltete. Dabei glitt ihr der Schal von den runden Schultern; sie versuchte es ein paarmal, ihn wieder hinaufzuziehen, und stand endlich davon ab, obgleich sie nun, während sie sich, das Blatt in den Händen haltend und mit den Ellenbogen auf dem Fensterbrett einen Stützpunkt suchend, weit vornüber neigte, Nacken, Hals und Busen preisgeben mußte.

»Geliebte, einzige, süße Tante! Denke Dir um Himmels willen, wie es mir seit vorgestern ergangen ist! Zuerst hatte ich mit der Baronin einen völligen Zank, sobald wir kaum bei euch vom Hofe herunter waren; ich glaubte wahrhaftig ein paarmal, sie würde mich höchst eigenhändig erdrosseln. Das ging so mit obligaten reichlich vergessenen Tränen – notabene nicht von mir! – bis zu uns, wo sie sich dann wenigstens so weit beruhigt hatte, um zwischen der Suppe und dem Fisch – wir hatten wirklich Fisch – aus Faschwitz – vortreffliche Flundern! – Papa und Edith ihr großes Leid zu klagen. Sehr delikat, nicht wahr, meine süße Tante? und so überaus klug! Sie konnte ja auf so große Sympathie bei den beiden rechnen! Leider für die gute Baronin war die Sympathie auf der verkehrten Seite: man nahm sogar entschieden Partei; Edith in ihrer gewöhnlichen versteckten, und der Papa – wohl nur der lieben Edith zu Gefallen – sonst bin ich und ist ihm die Sache ja sehr gleichgültig – in seiner bekannten heftigen Weise. Es ging grausam zu – die beiden älteren Herrschaften sagten sich Dinge – ich hielt es zuletzt für geraten, das Feld zu räumen – während Edith blieb, um Öl ins Feuer zu gießen – und war im Begriff, den Ponywagen anspannen zu lassen, um mich zu Dir zu retten, als die Baronin hinter mir herkam und mich mit Gewalt in ihren Wagen schleppte. Ich mußte mich entführen lassen, nur um den Skandal nicht noch größer zu machen.

Und da sitze ich nun, meine süße Tante, auf dem Schlosse am Meere, eine Gefangene in des Wortes eigentlichster Bedeutung; zur Gesellschaft niemand als die zürnende Herrin und den girrenden Lafing; unter mir die Wipfel des Parkes, im Herzen die Sehnsucht, denn Du weißt ja, süße Tante: on revient toujours à ses premières amours –«

»À ses premières amours«, sagte Julie, sich aufrichtend und Gerhard listig zublinzelnd – »das arme Kind! Und Sie sind nicht gerührt, Sie Barbar! Nicht einmal über die Schlußwendung?«

»Weshalb gerade über die, gnädige Frau?«

»Sie sind von Marmelstein! und das nach Ihren gestrigen vertraulichen Konfidenzen!«

»Und nach Ihren so interessanten Mitteilungen, gnädige Frau, über die premières amours von Fräulein Maggie – wenn es die premières waren!«

»Also doch!« sagte Julie, »also doch!«

Der Ton bemühte sich, traurig zu sein; aber aus den zwinkernden Augen wollte das listige Blinzeln nicht schwinden. – »Also hat doch jemand sich gestern die leidige Mühe gegeben, Öl in das Feuer zu gießen, das ich mit meinem törichten Reden entfacht – weiß der Himmel, ohne es zu wollen – und von dem aufgewirbelten Rauch hat sich ein Paar so heller, kluger Augen verdunkeln und blenden lassen! Über euch törichte Männer! Nach wem in aller Welt sollte denn die arme Kleine, das Herzchen voll Sehnsucht, ausschauen über die Wipfel des Basselitzer Parkes?«

»Vielleicht steht es in dem Postskript, das ich da auf der letzten Seite sehe«, sagte Gerhard.

»Und wenn es nun da stände«, rief Julie, das Blatt umdrehend. »Wollen Sie dann wieder ganz gut sein? Doch ich will nicht handeln und feilschen. Hören Sie und gehen Sie in sich, Sie wilder Mensch! – ›Ich muß bis übermorgen hierbleiben, es ist nicht anders. Aber zum Feste komme ich, und sollte ich aus dem Fenster springen. Sage es ihm, und daß er Vertrauen haben soll, wie er es der kleinen Maggie versprochen, die ihn mehr als alle Worte –‹ Nein, Strafe muß sein! und daß Sie das Letzte, Beste nicht zu hören bekommen, das sei Ihre Strafe! – Großer Gott!«

Sie hatte das Briefchen wieder in den Busen stecken wollen; es war ihr entglitten und auf den Boden gefallen. Sie setzte den Fuß darauf, indem sie zugleich mit beiden Händen den Schal dicht um die Schultern zog. – Salchen ging auf dem Kieswege am Hause hin dicht hinter ihr am Fenster vorüber. Julie rief, indem sie sich den Anschein gab, Salchen nicht zu bemerken, überlaut: »Also ich kann keinen Wagen bekommen? das ist ja jammerschade! – wie soll es denn nun werden!« – und dann, als Salchen ein paar Schritte weiter war, bückte sie sich schnell, hob den Brief auf, versteckte ihn und flüsterte mit einem ängstlichen Blick auf die sich Entfernende: »O mein Gott, sie hat es gewiß gesehen! den Brief – als ob Sie ihn mir aus dem Fenster geworfen! – und sie sagt ihm alles wieder, die entsetzliche Person! Nun, Sie sind ja sein Freund – das ist mein einziger Trost! adieu! adieu! und –«

Sie drückte den Zeigefinger an die Lippen und lief davon, quer über den Rasenplatz nach der Gartenlaube. Gerhard schloß die Vorhänge und eilte an das Zylinderbureau. Was sollte er mit dem Brief des Advokaten anfangen? Ihn frei liegen zu lassen, schien unmöglich; ihn an sich zu nehmen, bedenklich. Nach einigem Besinnen entschloß er sich zu dem letzteren.

Eine Minute darauf war er aus dem Zimmer, wo er die schlimme Entdeckung gemacht, auf dem Wege nach den Katen, die Frau zu sehen, die Vadder Deep durchaus ins Irrenhaus haben wollte.


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