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Es hatte während der Nacht ohne Unterlaß gestürmt und geregnet, und dann war aus der Nacht Tag geworden – aus der schwarzen Finsternis eine graue Dämmerung. Die schweren Wolkenmassen, die, Guß auf Guß herabschüttend, sich von Westen nach Osten wälzten, streiften fast die sturmgezausten Wipfel der Parkbäume und die Firsten der Scheunendächer. Selbst den Enten und Gänsen war das Unwetter zu arg geworden: sie drückten sich an einigermaßen geschützten Plätzen zusammen; das Hühnervolk hatte sich, so gut es ging, verkrochen; die Hähne wagten nicht mehr zu krähen.
Gerhard war auch heute wieder auf sich allein angewiesen. Klempe war nicht zurückgekommen; Gerhard hatte es nicht erwartet, aber Herr Zempin mußte es erwartet haben, denn er hatte im Laufe des Morgens wiederholt ungeduldig nach dem Manne gefragt und sich zuletzt, aufs tiefste verstimmt, in sein Bureau eingeschlossen. Auch Julie war nicht aus ihren Zimmern gekommen und hatte Gerhard nur durch das Mädchen sagen lassen, daß es der Kleinen gut gehe. Anton und Spatzing schlichen trübselig in dem verödeten Hause umher; Anton versicherte, daß die Welt positiv untergehe, und Spatzing erklärte, er könne ebensogut bei dem Scheine einer Küchenlampe, der durch einen nassen Scheuerlappen fiele, sein Porträt vollenden, als bei dem Himmel heute. Gerhard war nicht in der Stimmung, auf die Klagen der Müßiggänger zu hören. Die Zusammenkunft in Retzow war auf zehn Uhr angesetzt. Er benutzte die kurze Zeit, die ihm noch bis dahin blieb, ein paar Worte an Edith zu schreiben, in welchen er ihr für die Nachricht, die sie ihm vor einer Stunde geschickt: daß in dem Zustande des Vaters keinerlei Veränderung eingetreten sei, dankte und ihr für den Nachmittag seinen Besuch bestimmt versprach.
Der geschlossene Wagen, der zur rechten Zeit vorgefahren war, mußte lange warten: der Herr hatte noch immer im Bureau zu tun. Endlich kam er mit einem großen Stoße Akten und Papieren, den er verdrießlich auf den Rücksitz warf.
»Ich hatte gedacht, Sie würden mir helfen, die Scharteken zusammensuchen«, sagte er.
»Es hätte nur eines Wortes von Ihnen bedurft«, erwiderte Gerhard; »ich gestehe, daß ich vergeblich darauf gewartet habe.«
Zempin wandte sich zu dem Unterinspektor, der dabeistand:
»Ist Klempe zurück?«
»Nein, Herr.«
»Sie können, wenn das Wetter besser wird, die fremden Leute zum Mähen schicken; unsere sollen dreschen.«
»Ich habe es bereits angeordnet«, sagte Gerhard.
»Ja so: ich vergaß – fort!«
Er hatte sich in seine Ecke gedrückt und saß da, die Mütze tief in die Stirn gezogen, durch das Fenster an seiner Seite auf die verregneten Felder starrend, mit den Zähnen an den vollen Lippen nagend oder sich das massive Kinn reibend, dann wieder ungeduldig sich aufrichtend, um sofort wieder zurückzusinken, ohne ein Wort zu sprechen.
Auch Gerhard schwieg. Das unfreundliche Benehmen des Mannes beleidigte ihn nicht; er sagte sich, daß man gegen jemand, der sich in einer solchen Lage befindet, Nachsicht üben müsse. In einer solchen Lage! in welcher? er hätte darauf schwören mögen, daß der Mann selbst es nicht genau wußte; aber so viel war klar: er sah diese Lage heute morgen anders, als sie ihm noch gestern abend erschienen war. Hatte er, in seinen Papieren kramend, neue, schlimme Entdeckungen gemacht? drückte die Last der Ungewißheit, mit der er es früher so leicht genommen, heute, am Tage der Entscheidung, auf seine Seele? war es einfach physisches Unbehagen und Erschöpfung nach den letzten ruhelosen Tagen und schlaflosen Nächten – wie dem auch sein mochte: das war der Titan nicht mehr, der gestern abend noch das Schicksal selbst herausfordern zu können meinte – das war ein Mann, der über seinen Sorgen, seinem Verdruß selbst die Höflichkeit vergaß, auf die er doch sonst ein so großes Gewicht legte.
So kamen sie, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, in Retzow an.
In einer Ecke des Hofes, der, unfreundlich selbst bei dem hellsten Sonnenschein, heute im Regensturme einen abscheulichen Anblick gewährte, war unter einem verfallenen offenen Schuppen bereits eine ganze Anzahl von Fuhrwerken zusammengeschoben: zwei oder drei geschlossene Kutschen, die übrigen Jagdwagen oder kleine Leiterwagen, deren man sich bediente, um besser auf schlimmen Wegen fortzukommen. Gerhard, als er die bescheidenen, verregneten und beschmutzten Gefährte sah, mußte an die stolze Wagenburg denken, die vorgestern auf der Schneise neben dem Festplatze geprangt hatte.
In der Tür unter den sausenden Bäumen empfing die Aussteigenden Vadder Deep in demselben hochkragigen Rocke, der während der letzten Tage jede bestimmte Farbe verloren hatte, die Beinkleider heute in den schiefgetretenen Stiefeln, das gewöhnliche verschwommene Lächeln auf dem unrasierten mehligen Gesichte, über das von dem platten Schädel aus dem glatten dünnen Haar Tropfen um Tropfen rann. Denn es regnete eben wieder in Strömen; dennoch zögerte Herr Zempin auf den wackligen Stufen der Tür.
»Sind schon alle hier?«
Vadder Deep zuckte die breiten Achseln: »Platt und Lüttmann und Zinker fehlen noch.«
»Das sind ja die Wichtigsten«, rief Zempin, »ohne die können wir gar nichts anfangen. – Die ganze Geschichte hat wirklich keinen Sinn ohne die beiden«, fuhr er, sich zu Gerhard wendend, fort; »ich hätte bei Gott Lust, wieder umzukehren.«
Gerhard blickte Vadder Deep an. Vadder Deep lächelte und murmelte etwas, das ungefähr klang, wie: »werden wohl noch kommen.«
»Wollen Sie nicht einstweilen hineingehen?« sagte Herr Zempin zu Gerhard; »ich habe noch ein paar Worte mit Vadder Deep zu sprechen.«
Aus einer halb offenen Tür rechter Hand erschallte der Lärmen vieler überlaut durcheinandersprechender Stimmen. Ungern trat Gerhard ein.
Es war ein sehr großes, viereckiges Gemach, das die ganze Tiefe des Hauses einnahm und je zwei Fenster nach dem Hofe und nach dem Garten hatte, und dessen geringe Höhe durch die freiliegenden, zum Teil weit durchgebogenen Deckbalken noch beeinträchtigt wurde. Vor vielen Jahren mochte es einmal weiß getüncht gewesen sein; jetzt sah man nur einzelne Spuren davon: der Putz war in großen, unregelmäßigen Stücken von Decke und Wänden gefallen, und es waren dadurch die seltsamsten, landkartenähnlichen Muster entstanden. Der zertretene Kalk, obgleich man ihn augenscheinlich für heute zusammengefegt, färbte noch hie und da die auseinanderklaffenden, wurmstichigen Dielen mit einem dünnen, weißlichen Überzuge, worin die derben Sohlen von Stulpstiefeln vielfach ihre nassen Spuren abgedrückt hatten. In der Mitte des Raumes befand sich eine große Tafel, die ursprünglich sauber gedeckt und mit den substantiellen Notwendigkeiten eines pommerschen Frühstücks ordentlich bestellt gewesen sein mochte. Aber jetzt waren angebrochene Schüsseln und gebrauchte Teller durch- und übereinander geschoben; dazwischen halb geleerte Weinflaschen und Gläser, von denen so manches seinen roten Inhalt über das Tischtuch ergossen. Auch hatten die meisten wohl ihr Frühstück beendet und standen nun, rauchend und schwatzend, in kleineren und größeren Gruppen umher, während Herr Sallentin und einige wenige an der Tafel saßen und unermüdlich weiter aßen, ohne sich durch den Tabakrauch stören zu lassen, der in dichten Wolken die von dem Dunste der Speisen und nassen Stiefel und Kleider erfüllte Atmosphäre durchzog.
Gerhards Eintreten hatte niemand bemerkt, und er seinerseits war durchaus nicht begierig, sich in die Gesellschaft zu mischen, die übrigens viel zahlreicher war, als er vermutete: es mußten wiederholt mehrere in einem Wagen gekommen sein. Von den jüngeren Herren, mit denen er vorgestern in Streit geraten, konnte er nur den schönen Schweden bemerken; die anderen, älteren, waren meistens dieselben, welche die Trinkgesellschaft des Herrn Hinrichs gebildet hatten, dessen krähende Stimme Gerhard auch jetzt wieder aus einer der Gruppen vernahm. Außer diesen ihm bekannten Herren waren aber noch verschiedene da, die er zuvor nie gesehen, und die er nach ihrer Kleidung und Physiognomie für Kaufleute oder Handwerker aus der Stadt nehmen mußte. Alles in allem eine Versammlung, die er aus freien Stücken keinesfalls aufgesucht haben würde, und von der er sich für Herrn Zempin im besten Falle wenig Gutes versprach.
»Was wollen Sie eigentlich hier?« fragte die krähende Stimme des Herrn Hinrichs, der plötzlich neben ihm stand.
Es war dieselbe Frage, die Gerhard sich eben selber vorgelegt; aber er konnte freilich Herrn Hinrichs nicht dieselbe Antwort geben.
»Ich wollte mich nach Ihrem Befinden erkundigen«, sagte er höflich.
Herrn Hinrichs rote Gesichtsfarbe wurde purpurn und der breite, grüngelbe Streifen, der ihm von dem rechten Auge über die Schläfe in das fuchsige Haar lief, blau und orange.
»Nach meinem Befinden?« stammelte er, »nach meinem Befinden? wissen Sie, Herr –«
»Was, Herr Hinrichs?«
Die Herrn Fischer von Westrow und Suhr von Heindorf traten heran, ein paar gutmütige, bescheidene Männer, die Gerhard erst auf dem Waldfeste kennengelernt hatte, und deren Begrüßung er mit besonderer Freundlichkeit erwiderte. Herr Hinrichs hatte nach einem wütenden Blicke sich auf den Hacken umgedreht.
»Die Sache gefällt mir hier gar nicht«, sagte Herr Fischer mit halblauter Stimme, »es ist etwas im Werke, das ich nicht verstehe. Hinrichs und Sallentin, die noch vorgestern das Blaue vom Himmel fluchten, weil sie keinen Schilling von ihrem Gelde wiederzusehen bekommen würden, sind heute ganz guter Dinge, als ob sie das Geld schon in der Tasche hätten.«
»Mit Stut und Bollmann ist es ebenso«, sagte Herr Suhr. »Sie haben beide darauf angestoßen, daß sie noch mit einem blauen Auge davongekommen wären.«
»Ohne vorher ein Glas an den Kopf zu kriegen,« sagte Herr Fischer, den Nachbar lachend in die Seite stoßend.
Gerhard lachte aus Höflichkeit ein wenig mit und sagte dann: »Ich verstehe in der Tat die Ängstlichkeit von Herrn Zempins Gläubigern nicht. Mag er immerhin tief verschuldet sein – und wir werden heute wohl erfahren, wie tief er es ist – die Passiva werden doch die Aktiva nicht übersteigen.«
»Man kann es nicht wissen«, erwiderte Herr Fischer. – »Retzow ist, wenn der Fiskus den Waldprozeß gewinnt, höchstens hunderttausend Taler wert, obgleich die Außenwirtschaft in gutem Stande ist; denn der Hof muß von Grund aus neu gebaut werden, und überdies gehört es Zempin doch nur zur Hälfte. Kantzow war ein Prachtgut, aber ist es nicht mehr, seitdem Zempin das beste Stück an die Büdner parzelliert; und wie jämmerlich das Inventar und wie es überhaupt heruntergewirtschaftet ist – na, Herr Baron, das wissen Sie so gut wie wir. Man kann es jetzt auch nicht höher als hundert-, höchstens hundertzwanzigtausend Taler schätzen, denn was in den Gewächshäusern und Gärten steckt – das ist zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Nun und damit sind wir zu Ende. Das kleine Vermögen, das Frau Zempin von ihrer Mutter hat, gehört ihr zu eigen; für das übrige würde Gütergemeinschaft sein, nur daß sie es man nicht haben, und der Alte auf Swinhöft kann's noch wer weiß wie lange treiben, länger wenigstens, als Zempins Gläubigern lieb ist; und wenn er stirbt, sind Herr und Frau Zempin schwerlich noch unter einem Dache, sie sollen ja wie Hund und Katze leben.«
»Ja ja«, sagte Herr Suhr, »und mit so einem Vermögen, wenn es erst einmal ins Wackeln kommt, das ist gerade wie mit unseren Dünen, wo das Meer anlangen kann: jedes Jahr nimmt ein Stück weg, ohne daß man's merkt, und dann kommt einmal eine Sturmflut und geht mit dem Reste in die offene See. Ich kann Ihnen sagen, Herr Baron: bei uns hierzulande steht es mit Hunderten von scheinbar großen Vermögen nicht anders. Glauben Sie mir: für uns kommen schlimme Zeiten, ja, sie sind eigentlich schon da, ohne daß die Herren es wissen.«
»Das Schlimmste in Herrn Zempins Fall«, sagte Gerhard, »scheint mir, daß sein Kredit weit über das rechte Maß erschüttert ist.«
»Das meine ich gerade«, sagte Herr Suhr, »aber wie kann man jemand beim besten Willen Kredit geben, wenn man keine ordentlichen Bücher führt, infolgedessen den Stand seines eigenen Vermögens nicht kennt, und nicht weiß, ob man nicht in der nächsten Stunde das Geld selbst gebrauchen wird. – Aber wo bleibt Zempin?«
Er war soeben mit Vadder Deep in das Zimmer getreten. Es gingen ihm wohl einige – wie Fischer und Suhr – entgegen und reichten ihm die Hand; die meisten aber begnügten sich mit einer Begrüßung aus der Ferne, oder taten, als ob sie sein Kommen nicht bemerkt hätten, wie Herr Sallentin, der in diesem Moment allein am Tische saß und von der kunstgerechten Zerlegung eines riesigen Spickaals ganz in Anspruch genommen schien. Gerhard sagte sich, daß in einer Wirtsstube das Eintreten eines neuen Gastes ungefähr dieselbe Wirkung hervorbringen würde, wie hier das Erscheinen des Hausherrn, auf dessen Kosten man vorgestern auf dem Waldfeste geschwelgt und sich heute wiederum an Speise und Trank gütlich getan. Was die Ähnlichkeit der Situation mit einer Wirtshausszene vollkommen machte, war der Umstand, daß Vadder Deep sich kaum wieder hatte blicken lassen, als alle Welt nach ihm rief. Dem einen sollte er eine frische Flasche, dem zweiten einen Nordhäuser, dem dritten eine Pfeife oder Zigarre bringen; und Vadder Deep hatte für jede der mannigfachen Anforderungen, der an ihn gestellt wurden, dasselbe unbestimmte Lächeln, wie ein alter Kellner, der sich aus seinem Phlegma weder durch Versprechungen noch Scheltreden aufrütteln läßt. Denn auch an letzteren fehlte es nicht: man war es nicht gewöhnt, sich Vadder Deep gegenüber zu genieren.
Und wie nun Gerhard ihn mit einem Haufen von Tellern und Schüsseln in beiden Händen an sich vorüberschlurfen sah – während die Regentropfen von vorhin noch in dem dünnen Haar und zwischen den grauen Bartstoppeln hingen – da wollte denn auch ihm der Gedanke, daß dieser stumpfe, von allen gehudelte Mann ein gefährlicher Mensch sei, ganz phantastisch und abenteuerlich erscheinen. Mochte es immerhin sein, daß der alte Maulwurf in seinen krummen, dunkeln Gängen kleinen Vorteilen nachgeschlichen war – mochte er auch geradezu gestohlen haben, wenn die Gelegenheit günstig und die breite Hand mit den plumpen Fingern just den Gegenstand deckte – eine Tat, die Entschlossenheit, Mut und Kraft der Seele und des Leibes forderte, hatte der verkommene, schlaffe Geselle nie getan. Wer immer ihm den Großvater erschlagen – dieser hier mochte den Helfershelfer gemacht haben, aber in dem entscheidenden Augenblicke hatte er sich gewiß auf die Seite gedrückt, wie er sich dort eben, mit seiner Last in den Händen, schräg durch die halb offene Tür auf den Flur drückte.
Dort, bemerkte Gerhard, wurden ihm die Teller von einer weiblichen Gestalt abgenommen, in der er Anna Garloff zu erkennen glaubte. Er hatte gehofft, das arme Mädchen heute zu sehen und zu sprechen – es war ein Hauptgrund gewesen, weshalb er Zempins Wunsch, ihn zu begleiten, schließlich doch erfüllt hatte, trotzdem er sich sagen mußte, daß er dem Manne wenig oder gar nichts nützen könne, nachdem er ihn ohne alle und jede Instruktion gelassen, ihn in nichts eingeweiht hatte. Aber wann tat der Mann jemals, was man verständigerweise von ihm erwarten mußte? von welchem Ziele, daß er noch so fest ins Auge gefaßt zu haben schien, ließ er sich nicht durch die nächste leidenschaftliche Wallung nach einer anderen Seite treiben?
Gerhard schaute düsteren Blicks durch die trüben Scheiben des Fensters, an dem er, der Gesellschaft den Rücken kehrend, stand, in den verwilderten Garten, dessen verkrüppelte Büsche und vor Alter halb kahle Obstbäume der Wind zerzauste. Ein Mädchen kam aus dem Hause und ging einen Weg hinauf, der erst in gerader Richtung führte und dann sich seitwärts in Büschen verlor, hinter welchen das Mädchen, das einen Korb am Arme trug, verschwand. Es war Anna Garloff. Sein Entschluß war sogleich gefaßt. Hier im Zimmer würde ihn niemand vermissen, kaum sein Hinausgehen bemerken. In der nächsten Minute hatte er Zimmer und Haus verlassen, im Garten denselben Weg verfolgend, den er Anna hatte einschlagen sehen.
Er entdeckte sie bald an einer Johannisbeerhecke, von der sie zwischen den nassen Blättern die kümmerlichen Früchte pflückte.
Der Wind, der durch die Hecke sauste, hatte sie wohl seinen Schritt überhören machen; sie schaute erst auf, als er in ihrer unmittelbaren Nähe war, und erschrak so, daß sie das Körbchen fallen ließ. Gerhard hob es ihr wieder auf und sagte, indem er sich daran machte, ihr den verursachten Verlust zu ersetzen:
»Ich hatte gehofft, Ihnen eine freundlichere Erinnerung zurückgelassen zu haben. Soll ich gehen?«
»Ach nein! ich habe so sehr gewünscht, Sie zu sehen! – Fräulein Edith hatte gesagt, Sie kämen gewiß bald einmal wieder herüber.«
»Ich wäre früher gekommen, wenn nicht die letzten Tage so voller Unruhe gewesen wären. Aber, liebes Fräulein, wir wollen die kostbare Zeit nicht mit Komplimenten verlieren. Ich habe Ihnen freilich nur zu sagen, daß Sie auf mich rechnen dürfen, soweit meine Kräfte reichen. Ich wollte, das wäre weiter; aber wenn man schweren Kummer hat, wie Sie, ist es schon ein Trost, zu wissen, daß man nicht ganz allein steht. Sie hatten gewünscht, ich solle wiederkommen? So wollten Sie mir etwas mitteilen, mich um Rat fragen – gleichviel – was war es?«
Das arme bleiche Mädchen, das, während er sprach, immer so still vor sich hin geweint, schüttelte den Kopf.
»Ein paar Tage früher, sagte sie – jetzt ist es ja auch damit vorbei.«
»Womit?«
»Er kann ihm ja nichts mehr geben, wenn er in Konkurs kommt, wie sie alle sagen.«
»Wir müssen das eben abwarten; hoffentlich steht es nicht so schlimm; und wenn alle sich mit weniger begnügen, als worauf sie gehofft oder worauf sie Ansprüche haben, wird Herr Klempe es auch müssen.«
»Aber Herr Klempe kommt doch zurück? nicht wahr, er kommt zurück?«
In den grauen Augen lag eine unaussprechliche Angst; Gerhard zögerte mit der Antwort.
»Dann muß ich sterben«, sagte das bleiche Kind mit tonloser Stimme.
»Aber gibt es denn keinen anderen Ausweg, als jene Verbindung, die Ihnen selbst mit Recht so gräßlich ist?« rief Gerhard. »Wer zwingt Sie auf diesen Weg? die Furcht vor dem Gerede der Leute, dem Sie ja doch nicht vorbeugen werden? die Scheu vor Ihrem Vater?«
»Mein armer, unglücklicher Vater!« rief Anna schluchzend.
»Wenn ich nur sähe, daß Ihr Vater auf diese Weise glücklicher würde! ja, muß er nicht so völlig unglücklich werden? gibt es ein größeres Unglück für einen Vater, als seine Tochter ihr Leben lang in den unwürdigsten Verhältnissen zu wissen? – in Verhältnissen, so trübselig, jämmerlich, so alles Trostes und aller Hoffnung bar, daß der Tod hundertmal vorzuziehen ist?«
»Ich will ja auch sterben – und ich wäre schon tot – es ist nur so schwer, so schwer!«
Gerhard bereute tief sein unbedachtes Wort.
»Mein Gott«, rief er, die schlaff herabhängende Hand des Mädchens fassend; »so dürfen Sie nicht sprechen! so dürfen Sie nicht denken! Ich schwöre Ihnen, daß Sie mich völlig mißverstehen. Ich habe nur sagen wollen, daß Sie unrecht tun, wenn Sie sich vor dem böswilligen Geschwätz der Menschen, vor dem Unwillen, meinetwegen Zorn Ihres Vaters mehr fürchten, als vor dieser Heirat. Die Menschen sprechen sich bald müde; der Zorn eines Vaters erschöpft sich; nur die Gemeinheit ermüdet nie, erschöpft sich nie. Vor dem Los, ein hilfloses Opfer dieser Gemeinheit zu werden, will ich Sie bewahren, nicht in den Tod treiben.«
»Was bleibt mir anderes, wenn ich Herrn Klempe nicht heiraten soll? Ich kann so nicht leben!«
Ihr weinender Blick irrte an ihrer Gestalt niederwärts; ein in das traurige Geheimnis nicht Eingeweihter hätte wohl schwerlich begriffen, was die Unglückliche meinte.
»Sie können so nicht leben, sagen Sie«, erwiderte Gerhard eifrig; »aber einmal drängt es wohl mit der Entscheidung nicht, und sodann, die Welt ist so groß! was Ihnen hier unmöglich dünkt, das wird Ihnen verhältnismäßig leicht werden unter Menschen, die Sie nicht kennen und von denen Sie selbst nicht gekannt sind. Ich denke dabei an meine Heimat; es wird mir nicht allzu schwer fallen, Sie dort in eine Lage zu bringen, die wenigstens erträglich – vielleicht viel – viel freundlicher ist, als Sie jetzt für irgend möglich halten. Sie sind so jung! ich möchte sagen, selbst noch ein Kind!«
In der Tat, die regelmäßigen Züge des kleinen Gesichtes waren so unerschlossen, der Ausdruck, trotz alles Leides, so voll hilfloser Unerfahrenheit und kindischer Scheu, aber auch zugleich voll von jenem Eigensinn, der bei Kindern wohl oder übel den Mangel an Einsicht und Charakter ersetzen muß. Gerhard hatte die dunkle Empfindung, daß diese dumpfe Beschränktheit dem armen Kinde feindlicher und verhängnisvoller sein werde, als die Welt, vor der sie sich so fürchtete. Auch hatte sie wohl kaum verstanden, was er gesagt, denn sie wiederholte nur: »Ich kann so nicht leben.«
»Weiß denn Ihr Vater darum?« fragte Gerhard.
»Um was?«
»Daß Sie – heiraten müssen?«
»Ich glaube.«
»Und den nicht heiraten dürfen, den Sie heiraten müßten?«
Das arme Kind wurde totenblaß und starrte ihn mit entsetzten Augen an. »So wissen Sie es?« stammelte sie; »hat er es Ihnen gesagt?«
»Wer? Herr Zempin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er! er!«
»Herr Deep?«
»Ja, ja! Er ist ja der einzige, der es weiß; Herr Zempin mußte es ihm sagen – er ist doch ein paarmal hier gewesen – und wer hätte auch sonst mit Herrn Klempe sprechen sollen? Herr Deep hat es Ihnen gesagt?«
Gerhard hielt es für das geratenste, die Frage einfach zu bejahen. Er fürchtete, das arme Kind werde wissen wollen, ob Deep aus freien Stücken gesprochen? ob von ihm gefragt? aber dazu waren ihre Gedanken wohl zu verworren. Sie fragte nur wieder: »Herr Klempe kommt zurück?«
Gerhard war überzeugt, daß das Mädchen sich das Gräßliche des Gedankens einer Verbindung mit dem rohe Menschen niemals völlig klargemacht hatte, und daß sie sich jedenfalls in diese Gefahr nur stürze, um einer, die sie für noch schlimmer hielt, auszuweichen. Aber bei dem ersten Worte, das er vorsichtig wagte: ob er nicht einmal mit ihrem Vater sprechen dürfe, geriet das arme Kind ganz außer sich: der Vater werde es ihr nie vergeben, daß sie sich mit Herrn Zempin eingelassen; der Vater habe ihr nur ein einziges Mal eine Warnung gemacht: sie solle sich vor Herrn Zempin hüten; der Vater habe ihr nie ein böses Wort gesagt, selbst neulich morgens nicht, als er sie in Tränen getroffen und dann wohl gemerkt habe, wie es mit ihr stehe; und er sei ja schon so grenzenlos unglücklich, und ehe sie ihm das antäte, lieber, tausendmal lieber wolle sie sterben.
Und während sie mit vor Schluchzen kaum vernehmlichen Stimme so sprach, liefen ihr die Tränen stromweis über die bleichen Wangen, und der zarte Körper zuckte, daß Gerhard jeden Augenblick fürchtete, sie könnte in Krämpfe verfallen. Der Regen, der etwas nachgelassen, setzte mit erneuter Heftigkeit wieder ein. Anna blickte ängstlich nach dem Hause: Herr Deep, der sie nach den Früchten geschickt, werde sich bereits wundern, wo sie so lange bleibe. Er dürfte sie ums Himmels willen nicht beisammen sehen; Gerhard möchte doch ja noch ein paar Minuten draußen bleiben und auf einem anderen Wege zurückkommen; am besten über den Hof; man gelange aus dem Garten leicht in den Hof.
Sie nahm ihr Körbchen, das sie auf die Erde gesetzt hatte, um sich die Augen zu wischen, wieder auf, tat ein paar Schritte und blieb zögernd stehen:
»Sie sagen es Fräulein Edith nicht?«
»Wenn Sie es nicht wünschen, obgleich Ihr Geheimnis bei Fräulein Edith vollkommen sicher wäre, die so herzlichen Anteil an Ihnen nimmt.«
»Nein, nein! sagen Sie ihr es nicht; ich würde mich vor ihr zu Tode schämen; und sie hält so viel von ihrem Onkel: sie würde es gar nicht glauben. Wenn ich tot bin, soll sie dies wiedernehmen – ich habe es von ihr – es ist auch ihr Haar drin – oder nehmen Sie's lieber gleich; es ist sicherer. Bitte, bitte, tun Sie's!«
Sie hatte ein kleines goldenes Herz, das sie an einem schmalen Sammetbändchen am Halse trug, abgeknöpft und Gerhard in die Hand gedrückt. Dann war sie um den Busch, hinter welchem sie standen, in den Gang gebogen, der nach dem Hause führte.
Eine Blaumeise, die sich still in den Busch gedrückt, schlüpfte jetzt behutsam durch das Gezweig und flatterte schnell davon.
»Großer Gott!« dachte Gerhard; »ich glaube, das Vögelchen da hat mehr Mut und Verstand, als das arme Kind. Wie soll dies werden?«