Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Sechstes Kapitel

Herr Zempin hatte, sobald er der Kommenden ansichtig wurde, eine Bewegung um die Araukaria herum nach dem Pförtchen gemacht, welches aus der Halle auf den Platz hinter dem Palmenhause führte. Aber es war für einen unbemerkten Rückzug zu spät; so fuhr er sich denn nur mit den breiten Händen durch das buschige Haar und mit den Füßen kräftig in die allzu weiten Pantoffeln und trat der in die Halle rauschenden Baronin mit einem Anstand entgegen – dessen sich ein König, der so überrascht worden wäre, nicht hätte zu schämen brauchen – meinte Gerhard, der, von der Araukaria halb verdeckt, ein aufmerksamer Beobachter der Szene war.

»Ich bin untröstlich, gnädige Frau, von Ihrer Anwesenheit nicht unterrichtet gewesen zu sein«, sagte Herr Zempin.

»Das glaube ich«, unterbrach ihn die Baronin; »denn dann hätten Sie Zeit gehabt, sich zu absolvieren – oder heißt es absentieren?«

»Ich würde mich absentieren, wenn ich nicht sicher wäre, daß Sie mir wegen meiner derangierten Toilette gnädige Absolution erteilen«, erwiderte Herr Zempin, die Hand der Baronin, die er noch in der seinen hielt, mit ritterlichem Anstande an die Lippen führend.

»Sie bleiben ein Schäker, Sie alter Sünder«, sagte die Baronin, mit dem Fächer, den sie in der Linken hielt, Herrn Zempin einen tüchtigen Backenstreich versetzend; »übrigens bin nicht vor Ihnen gekommen – wo ist denn – aha!«

Sie hatte jetzt erst Gerhard bemerkt und starrte ihn nun mit ihren großen Augen an – wie ein unbekanntes Tier in der Menagerie, dachte Gerhard, der sich eines Lächelns nicht erwehren konnte. Das Benehmen der Dame war gewiß nicht höflich, aber diese sonderbare Erscheinung durfte offenbar mit dem Maßstabe der gewöhnlichen Höflichkeit nicht gemessen werden.

»Erlauben Sie mir«, sagte Herr Zempin vorstellend –

»Ist nicht nötig,« unterbrach ihn die Baronin von neuem, »ich habe schon genug von dem Herrn gehört, und der Herr wird mir kennen, denke ich. Freue mir übrigens, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, Herr Baron! Hätte wohl noch lange auf die Ehre warten können, wenn ich nicht selbst gekommen wäre. Na, ich bin ja auch alt genug, um einem spröden jungen Herrn einen Schritt entgegen zu tun, ohne mich was zu vergeben.«

»Aber nicht ohne diesen betreffenden Herrn durch Ihre Güte aufs tiefste zu beschämen«, erwiderte Gerhard, sich über die Hand beugend, die ihm die Baronin entgegenstreckte. Die Hand war groß und fleischig und erinnerte so an die des Herrn Zempin, drückte auch kaum minder kräftig.

»Ja, ja, schöne Redensarten und feine Komplimente – damit seid ihr Herren auf der Welt gekommen. – Das ist ein ganz anderer Schnack, als von Ihre Studentenjungens!«

Diese letzten Worte waren an Julie gerichtet, die eben herantrippelte, und wahrscheinlich für diese bestimmt; aber die Stimme der Baronin war so kräftig, wie die Akustik der kleinen Halle vorzüglich, und Julie warf einen erschrockenen Blick rückwärts nach den in der Tür stehenden jungen Herren.

»I was!« sagte die Baronin, »ich werde mir vor die Jungens genieren? Warum sind sie überhaupt mitgelaufen? wir brauchen ihnen hier gar nicht; sie können auch die jungen Damens wieder mitnehmen.«

»Es ist hier in der Tat entsetzlich heiß«, sagte Julie, das Gesicht mit dem zusammengeklappten Sonnenschirm fächelnd. – »Wie habt ihr beiden Herren das in der Bruthitze aushalten können! Hinaus, hinaus, ihr jungen Leute! damit wir nicht noch sämtlich ersticken.«

Julie trieb die kaum Eingetretenen aus der Halle, wobei Herr Spatzing mit einwärts gekehrten Füßen sonderbare Sprünge ausführte und die Arme hob und senkte, wie ein aufgescheuchter Rabe, dem die Flügel beschnitten sind, worüber sich denn Stude totlachen wollte, während der schöne Schwede und der Student sehr böse Mienen machten, und nur die Mädchen froh schienen, aus der Nähe der Gefürchteten zu kommen.

»Ich denke, wir gehen auch«, sagte Julie.

»Genieren Sie sich nicht«, erwiderte die Baronin.

»Ich habe in der Laube eine kleine Erfrischung aufstellen lassen, da Sie durchaus unser Mittagsbrot verschmähen.«

»Na, denn sehen Sie man nach, ob alles in Ordnung ist!«

»Aber, Moritz, hörst du denn nicht, daß die Frau Baronin uns los sein will«, rief Julie, zu ihrem Gatten gewandt.

»Sie brauchen dabei gar nicht zu lachen, kleine Frau«, sagte die Baronin, Julie auf die Wangen klopfend; »ich kenne Ihnen, seitdem Sie Frau Zempin sind, und Ihren Gatten – na, den kenne ich schon ein bißchen länger – wir laufen uns einander nicht davon. Diesen scheuen Vogel muß ich festhalten, da ich ihn mal habe; also gehen Sie man immer voraus; geben Sie mich Ihren Arm, Herr Baron!«

Julie war, nach dem unruhigen Ausdruck ihrer lebhaften Augen und dem gelegentlichen Zucken des kleinen Mundes zu schließen, mit dem Arrangement keineswegs zufrieden, wenn sie auch zwischendurch lachte und die Baronin eine Tyrannin schalt. Herr Zempin konnte seinen Unmut weniger gut beherrschen; er blickte mit gerunzelter Stirn und gesenkten Brauen vor sich nieder und sah einem erzürnten Löwen ähnlicher als je, wagte aber doch keinen Widerspruch zu erheben – für Gerhard ein Beweis der unbedingten Herrschaft, welche die Baronin auf alle ausübte. Konnte er selbst doch, als er jetzt ihrem Befehle nachkam und ihren bereits ausgestreckten Arm in dem seinen fühlte, sich einer Beklemmung des Herzens nicht erwehren, wenn er auch fest entschlossen war, in dem ihm mit solcher Rücksichtslosigkeit angebotenen Kampfe keinen Zoll breit nachzugeben.

Indessen schien auch die Baronin zu seinem Erstaunen keineswegs so sicher und siegesgewiß, wie er nach ihrem ersten Auftreten hatte annehmen müssen. Wollte sie nur erst Zempins, die vor ihnen her zwischen den Blumenbeeten dem Parke zugingen, aus der Gehörweite wissen? war sie um einen schicklichen Anfang verlegen? fand sie die Sache schwerer, als sie sich gedacht? oder ließ nur eine übergroße Erregung sie nicht zu Worte kommen? Nach den ungleichmäßigen, bald männlich großen und raschen, bald zögerndschleppenden Schritten der Dame, ihrem schweren Atmen und grotesken Mienenspiel mußte er schließen, daß das letztere der Fall sei. Er wollte sich den Vorteil nicht entgehen lassen. So ergriff er denn das Wort, indem er die Frau Baronin nochmals um Entschuldigung bat, wenn er ihre Erwartung nicht erfüllt und sich in Basselitz vorgestellt habe. Sein Drang, sich in ihm so völlig neuen Verhältnissen möglichst schnell zurechtzufinden, die wichtigen Arbeiten, die er vorgefunden und an denen er mit Eifer und Neigung seinen bescheidenen Anteil genommen, seien vielleicht in den Augen einer so ausgezeichneten, pflichtgetreuen Landwirtin, als welche ihm die Frau Baronin von allen gerühmt werde, schon hinreichende Entlastungsgründe. Dann aber wolle er nicht verhehlen, daß er zweifelhaft gewesen, ob ihm bei der Kürze der Frist, die ihm für seinen Aufenthalt in dieser Gegend zugemessen, überhaupt erlaubt sei, Verbindungen anzuknüpfen, die, wie lohnend auch immer für ihn selbst, für die anderen doch eine so geringe Ausbeute versprechen. Er sehe nun freilich aus einer liebenswürdigen Aufmerksamkeit, die er noch eben erst von seiten des Grafen Westen erfahren, aus dem so überaus gnädigen Entgegenkommen der Frau Baronin, daß er unrecht getan, in diesem Falle selbst entscheiden zu wollen, anstatt die Entscheidung vertrauensvoll in die Hände so gütiger Nachbarn zu legen, und daß er sich bemühen werde, sein Unrecht sobald als möglich wiedergutzumachen.

Die Baronin hatte Gerhard, während er sprach, mit keiner Silbe unterbrochen, ihn dafür aber fortwährend mit Blicken angesehen, in denen Erstaunen, Unruhe, Mißtrauen, Unwille abwechselten. Bei seinen letzten Worten zog sie plötzlich ihren Arm zurück und rief mit einer Heftigkeit, die sie sich nicht im mindesten zu verbergen bemühte:

»Halten Sie mir für ein Kind mit meinen siebenundvierzig Jahren, daß Sie mir so mit Zuckerbrot den Mund stopfen? und selber in eins wegreden, wie ein reingewaschener Engel? Denken Sie denn, ich habe keine Augen im Kopfe und nicht gesehen, wie Sie da« – sie wies mit vor Erregung zitternder Hand auf den vor ihnen gehenden Herrn Zempin – »die schönsten Blicke gewechselt haben, als ich bei Ihnen hereinplatzte? und daß ich die Blickerei nicht verstanden: Halten Sie sich man stramm? Lassen Sie die Alte man gehörig abfallen! – wie? was? wie? können Sie das leugnen, mich ins Gesicht?«

Sie war stehengeblieben und starrte mit weit aufgerissenen, zornigen Augen Gerhard an, der den Blick fest erwiderte und mit aller Ruhe, die er aufbieten konnte, sagte:

»Verstatten Sie mir vorerst die Bemerkung, gnädige Frau, daß ich an den Ton, welchen die gnädige Frau gegen mich anzunehmen beliebt hat, nicht eben gewöhnt bin; sodann die Bitte, mir gütigst mitteilen zu wollen, worin ich eigentlich der gnädigen Frau dienen kann.«

»So!« sagte die Baronin, »mein Ton gefällt Sie nicht? Na, dann will ich mir möglichst kurz fassen, damit Sie sich nicht lange über mir zu ärgern brauchen. Mein Sohn mag das lütte Ding, die Maggie Zempin, gern und will ihr partout heiraten; fehlt man noch meine Einwilligung – denn ohne mir tut Lafing nichts – würde ihm auch schön bekommen. Vielleicht besinne ich mir, vielleicht auch nicht. – Aber ich will hier niemand haben, der mir dazwischenkommt – verstehen Sie mir?«

»Vollkommen«, erwiderte Gerhard; »bis auf den einen Punkt, weshalb die gnädige Frau gerade mich mit diesen schätzenswerten Mitteilungen beehrt.«

»Dann verstehen Sie mir gar nicht«, rief die Baronin.

Sie war dicht vor Gerhard hingetreten.

»Antworten Sie mich mit ja oder nein; lieben Sie das Gör, die Maggie, oder lieben Sie ihr nicht?«

»Ich bedaure, der gnädigen Frau alles und jedes Recht zu dieser Frage absprechen zu müssen«, erwiderte Gerhard, dem trotz der Gewalt, die er sich antat, das Blut in die Wangen schoß.

»Sie wollen mir nicht antworten?«

»Die gnädige Frau hat meine Antwort.«

»Und damit gedenken Sie mir fortzuschicken?«

»Ich bitte die gnädige Frau, sich zu erinnern, daß nicht ich es gewesen bin, der diese Unterredung gewünscht und herbeigeführt hat; und daß folglich nicht ich es bin, den die Schuld trifft, wenn das Resultat derselben der gnädigen Frau nicht gefällt. Wollen wir vielleicht die Promenade fortsetzen, gnädige Frau?«

Und er machte eine Handbewegung, indem er zugleich mit einer schicklichen Wendung ein wenig von der Baronin zurücktrat.

Die Baronin leistete seiner Aufforderung keine Folge, sondern rief, ohne sich von der Stelle zu bewegen, mit einer Stimme, die der Zorn heiser machte:

»So! so, so! So behandeln Sie die Basselitz? so denken Sie mit der Basselitz fertig zu werden? aber Sie kennen ihr sehr schlecht! die ist mit noch ganz anderen Leuten fertig geworden! Wer der Basselitz an den Wagen fährt, der mag sehen, wie er sitzenbleibt; die Basselitz bleibt sitzen, das kann ich Sie sagen!«

Und die Baronin schwang ihren großen, zusammengeklappten Sonnenschirm, wie ein Kutscher seine Peitsche.

»Haben die gnädige Frau sonst noch Befehle für mich?« sagte Gerhard.

Er zog mit höflicher Verbeugung seinen Hut, wobei er sich eines ironischen Lächelns nicht erwehren mochte. Das Lächeln schien die Baronin außer sich zu bringen. Ihre übervollen, noch eben zornroten Wangen wurden blaß, während die blitzenden Augen eine unheimliche gläserne Starrheit annahmen und der große, nicht unschöne Mund sich häßlich verzog. Sie wollte offenbar etwas erwidern, fand aber nicht das Wort, oder die Leidenschaft hatte ihr die Kraft geraubt: die Lippen zuckten nur ein paarmal tonlos. Dann kehrte sie sich auf den Hacken um und stürmte mit eiligen, mächtigen Schritten, fast laufend, den Gang zwischen den Blumenbeeten hinauf, Zempins nach, die bereits eine geraume Strecke voraus waren.

Gerhard wartete, bis sie das Paar erreicht hatte, das nun stehengeblieben war. Dann wandte er sich nach rechts, einer Plantage hochstämmiger Georginen zu, die eine vollkommene Deckung bot, und weiter an den Georginen hin, auf einen ihm wohlbekannten Pfad, der durch einige ganz neue Anlagen aus dem Blumengarten über die jetzt geschnittenen Wiesen des äußersten Parkes in das Tannenwäldchen führte, wo er, zumal in dieser Stunde, hoffen durfte, vor jeder Begegnung sicher zu sein.


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