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Gerhard erwachte auf seinem Sofa aus einem unruhigen Schlafe. Er hatte sich hartnäckig geweigert, zu Bett zu gehen, obgleich der Doktor dringend dazu geraten. Ich habe keine Zeit, krank zu sein, hatte er bei sich gesagt, und das war auch sein erster Gedanke, wie er jetzt, bei dem matten Lichte der verhängten Lampe, die, als er einschlief, noch nicht gebrannt, nach der Uhr sah. Er erschrak – beinahe zehn! So hatte er über vier Stunden geschlafen: was mochte während der langen Zeit nicht alles geschehen sein! etwas Gutes sicher nicht! kam doch das Schlimme jetzt Schlag auf Schlag! Und Edith, die ihn heute nachmittag vergeblich erwartet, war nun sogar ohne Nachricht geblieben! konnte er nicht das wenigstens noch ins Werk setzten?
Er hatte sich erhoben und versuchsweise einen Gang durch das Zimmer gemacht. Er fühlte eine große Mattigkeit in den Gliedern und eine peinliche Schwere und Dumpfheit im Kopfe; doch auch das würde sich wohl verlieren. Der Arzt hatte versichert, die Wunde habe nichts zu bedeuten: eine tüchtige Schramme, die bereits zu bluten aufgehört; es sei die Erschütterung von dem Schlage, die allerdings beachtet sein wolle, aber ebenfalls nach der nötigen Ruhe sich verziehen würde.
Wenn der Mann nur zugleich gesagt hätte, wie ich die finden soll! murmelte Gerhard.
Es tastete an der Tür; Anton kam herein, auf den Fußspitzen, verwundert, das Sofa leer zu finden, und sehr ungehalten, als ihm der Freund nun aus dem dunkeln Hintergrunde des Zimmers entgegentrat.
»Es ist ein Elend mit dir«, rief er; »erst willst du nicht zu Bett, dann bleibst du nicht einmal auf dem Sofa. Und ich war so froh, als ich dir vorhin die Lampe brachte, daß du fest schliefst. Ich bin allerdings wie ein Mondenstrahl still aus und ein geschlüpft.«
»Ich hätte dich gern als Mondenstrahl gesehen«, sagte Gerhard.
»Gott sei Dank, daß du wenigstens noch Witze machen und lächeln kannst«, erwiderte Anton seufzend; »ich kann es nicht mehr. Oh, diese Welt! ich glaube jetzt sicher, sie geht unter. Wie soll eine Welt existieren, auf der es nur noch Verrückte gibt, wenn ich mich und zur Not dich ausnehme. Dich freilich nur, falls du dich sofort von mir zu Bett bringen läßt.«
»Ich will es tun, sobald ich einen Brief geschrieben, den du mir auf jeden Fall besorgen mußt – nach Kosenow.«
»Ist nicht mehr nötig. Es war bereits vor drei Stunden von dort jemand – nun, mit einem Worte: man war hier, um sich zu erkundigen. Die Geschichte war schon nach Kosenow gekommen, natürlich mit den nötigen Übertreibungen. Es schien, man hat dich mindestens für halbtot gehalten; man war sehr aufgeregt und nur mit einiger Mühe davon abzubringen, dich selbst aufzusuchen und sich zu überzeugen, daß man von uns nicht belogen werde.«
»Von uns?«
»Von Herrn Zempin und mir. Man ist mit Herrn Zempin noch eine Stunde allein gewesen; dann ist man wieder fortgefahren.«
»Man? weshalb sagst du nicht: Fräulein Edith?«
»Nun eben!« sagte Anton; »aber jetzt tu mir die Liebe, Alter, und laß dich zu Bett bringen!«
Gerhard, der sich aufs Sofa geworfen, antwortete nicht. Edith war ihm so nahe gewesen, er hatte sie nicht gesehen! Was mochte sie mit ihrem Onkel besprochen haben? Hatte sie ihn ins Vertrauen gezogen? ihm alles gesagt? sie hielt so viel von ihm! und, wenn man Julie glauben durfte, er von ihr! Und doch! es war ein unerträglicher Gedanke, daß jemand, es sei auch, wer es sei, das Heiligtum seiner Liebe betreten sollte!
Anton hatte sich Gerhard gegenüber an den Tisch gesetzt, bald den Freund verstohlen anblickend, bald seine gefalteten Hände betrachtend, zwischendurch leise seufzend und langsam den Kopf schüttelnd.
»Höre!« sagte er, plötzlich das Stillschweigen unterbrechend, »da du doch einmal nicht zu Bett gehen willst und auch soweit schon ganz hübsch grimmig zu sein scheinst, was immer ein gutes Zeichen ist – auf die Gefahr hin, daß du mir noch besonders bös wirst: bleib nicht länger hier in Kantzow, als unbedingt nötig! Na, ich dachte es doch, daß du in die Höhe fahren würdest! können denn ein paar alte Freunde und exzeptionell vernünftige Menschen nicht in aller Ruhe über so etwas sprechen! Sieh, Alter, du sagtest am ersten Abend – weißt du noch? – ich müßte von hier fort, das sei kein Aufenthalt für mich; hier ginge ich zugrunde. Ich sage heute nicht mehr, daß du unrecht hast. Und ich bin hier wenigstens dick und rund geworden, während du zusehends abmagerst, daß es ein wahrer Jammer ist und für mich ein Beweis, wie spottschlecht dir das Klima bekommt, oder die Kost, oder der Rotspon, der entschieden für dich zu schwer ist. Wenn es nun noch bis zum Herbst so fortginge, würdest du keinen Schatten mehr werfen. Und dann, ganz offengestanden: diese Gesellschaft ist nicht deine Gesellschaft, ich meine, die du haben mußt, wenn du dich wohlfühlen sollst: Zyklopen, sage ich immer, Zyklopen! keine Menschen! von unsereinem kann der zehnte erst die Steine vertragen, mit denen sie um sich werfen. Und mein runder Plebejerschädel ist zehnmal härter, als dein ovaler Aristokratenkopf. Nimm zum Exempel ein solches Ungetüm, wie meinen Freund Hinrichs, mit dem ich ganz vortrefflich zurechtkomme, während du mit ihm heute morgen ja wohl schon wieder aneinandergeraten bist, wie vorgestern mit ziemlich der Hälfte von allen den jungen Herren, die leicht noch schlimmer sind, als die alten. Und wie die Herren, so die Knechte. Du bist zu gut gegen die Kerls, hundertmal zu gut! daran sind die groben Klötze nicht gewöhnt, sie vertragen es nicht; sie vertragen nur eben so grobe Keile, und wenn sie jemand nicht keilt, wollen sie ihn wenigstens zum Dank dafür totschlagen: du hast's heute an dir selbst erfahren, und was heute nicht geschehen ist –«
»Mit einem Worte«, rief Gerhard, den Freund unterbrechend; »Herr Zempin wünscht, daß ich gehe!«
»Nun gar!« erwiderte Anton, »Wie kommst du darauf? das ist ein ganz absonderlicher, ein ganz wunderlicher Gedanke.«
Anton blickte dabei an dem Freunde vorbei, und seine Stimme, die von Anfang an nicht sicher gewesen war, zitterte hörbar.
»Wunderlich oder nicht: ich will es wissen, und auf der Stelle! in genau denselben Ausdrücken, in denen du deinen Auftrag erhalten hast!«
»Ausdrücken – Auftrag!« erwiderte Anton; »ich habe keinen Auftrag.«
»So doch einen Wink, den ich zur Not auch verstehe – zum Teufel, Mann; ich bin nicht in der Wartelaune!«
»Ich gebe dir mein Ehrenwort, ich habe keinen Auftrag, auch keinen Wink bekommen, den ich an dich weitergeben sollte. Was ich vorbringe, dafür darfst du niemand als mich verantwortlich machen. Freilich, wenn du so auf mich einfährst, tut es mir leid, daß ich überhaupt angefangen.«
»Ich bitte dich um Verzeihung; du sollst nicht wieder über mich zu klagen haben. Aber dann mußt du mir reinen Wein einschenken. Was du bis jetzt vorgebracht, waren nur Scheingründe.«
»Scheingründe nennst du das«, rief Anton entrüstet, »solche balkenverklammerte Gründe, wie Aristophanes sagt! höre, du bist schwer zu befriedigen! Das heißt – ich habe allerdings noch ein paar andere, mit denen ich aber – unter uns – nicht gern herausrücke, weil – indessen – wenn du durchaus willst: Alter, ich bin jetzt positiv davon überzeugt: Zempin ist auf dich eifersüchtig. Ob mit Recht oder Unrecht – na, Gerhard, wir sind allzumal Sünder und saufen Unrecht wie Wasser, sagt die Schrift – ich würde wie Rotspon gesagt haben, aber das ist Geschmacksache – und daß Frau Julia eine entzückende Dame ist – ei, Alter – das zu sehen, dazu braucht man nur überhaupt Augen im Kopfe zu haben und nicht einmal so hübsche, braune wie du, was hierzulande sowieso eine Seltenheit ist, und in das Seltene sind ja die lieben Weiberchen ohne weiteres wie vernarrt. Auch ein veritabler Baron kommt ihnen nicht alle Tage in die Fingerchen, womit – ich meine mit den Augen und der Baronschaft – ich übrigens deine sonstigen Ehrenqualitäten keineswegs erschöpft haben will – im Gegenteil! wenn ich ein Frauenzimmer wäre, ich würde mich auch in dich verlieben; jetzt danke ich Gott, daß ich dein Freund bin und dich bloß zu lieben brauche. Aber die Frauenzimmer sind einmal euch hübschen Kerlen gegenüber wie die Motten, die ins Licht fliegen. Sie haben dich ja schon alle hier umschwärmt und angeschwärmt, ohne daß du es, glaube ich, gemerkt hast. Nun, und denkst du denn, daß Leute, die, wie Zempin, bisher die Generalpächter der Frauengunst im zehnmeiligen Umkreise waren, so etwas ganz gelassen ansehen können? und wenn sie auch scheinbar den jungen Sieger auf seinem Triumphzuge mit Teilnahme begleiten oder gar: Evoe, Bacche, Evoe! rufen, nicht im stillen bei sich sagen: der Schwerenöter, wenn er mir nur nicht ins Gehege kommt! Für diese Furcht gibt es für sie keine Assekuranz: sie haben zu oft das sechste Gebot mitsamt dem: Was ist das? verletzt. Unglücklicherweise bist du nun vorgestern beim Feste so schauderhaft liebenswürdig gegen Frau Julia, und gestern abend eine volle Stunde und bei verschlossenen Türen – höre, Alter, ganz unter uns: es war etwas stark, und man braucht gerade kein geborener Vulkan wie unser guter Zempin zu sein, um da ein bißchen Feuer zu speien. Und heute muß die arme Frau wieder gerade auf den Flur kommen, als du in die Tür trittst, und über deinen Anblick in Ohnmacht und Krämpfe fallen und in Gegenwart des Doktors und Salchens und eines halben Dutzend Frauenspersonen ihren eigenen Gatten Mörder! nennen – ich glaube sogar: blutiger Mörder! – na, Gerhard, ganz unter uns: dergleichen würde uns auch keinen allzu großen Spaß machen, besonders wenn mein liebes Salchen ganz in aller Stille das Feuer schürt und von Briefen spricht, die du ihr – ich meine nicht Salchen, sondern Julien – aus dem Bureaufenster zugesteckt haben sollst und was dergleichen Abscheulichkeiten – von Salchen, meine ich – mehr sind. In summa –«
»In summa«, rief Gerhard; »du hast die moralische Überzeugung, daß Herr Zempin mich der Niedertracht fähig hält, ihm zum Danke für seine Gastfreundschaft die Frau zu verführen.«
»Hör, du, ich glaube, er traut eher seiner Frau zu, daß sie dich verführt.«
»So habe ich die Wahl zwischen dem Schurken und dem Gecken – ich danke für beides.«
»Wußte ich; und eben deshalb will ich dich aus dieser verfänglichen Situation herausheben, um so mehr, als ich, ganz ehrlich gestanden, an die Aufrichtigkeit von Frau Julias plötzlicher Leidenschaft für dich noch immer nicht so recht glauben kann; und du also sozusagen für nichts und wieder nichts in das böse Dilemma gerätst. Die Geschichte mit Bagdorf hat zu lange gespielt und ist zu ernsthaft gewesen, und solche Pandorenbüchsen wie Frau Julia haben immer einen doppelten Boden. Versteh mich recht, Alter!«
»Ich verstehe dich vollkommen, und du sagst mir leider nichts, worüber ich nicht schon längst klar wäre, obschon ich in den letzten Tagen – gleichviel! ich habe es satt, darüber zu rätseln: ich gehe morgen!«
»Nun gar! morgen! so eilig ist es nicht.«
»Oder übermorgen – jedenfalls, sobald sich ein anständiger Vorwand finden läßt, den der erste beste Brief gewährt, der für mich kommt.«
Gerhard war aufgesprungen und schritt im Zimmer hin und her; er fühlte nichts mehr von Schwäche. Anton war sitzengeblieben, sich abwechselnd bald die linke, bald die rechte Schläfe krauend. Plötzlich sagte er:
»Höre, Gerhard, könntest du es nicht so einrichten, daß dabei ein anständiger Vorwand für mich abfiele?«
»Ein Vorwand – wozu?«
»Mit dir zu gehen.«
Er hatte sein Gesicht gewandt und versuchte das alte drollige Lächeln, brachte es aber nur zu einer trübseligen Grimasse.
»Was treibt dich auf einmal fort?« fragte Gerhard, der wieder auf dem Sofa Platz genommen.
»Wenn ich es mit einem Worte beantworten soll«, erwiderte Anton, »so nenne ich das inhaltschwere: Salchen! – Gerhard, das ist eine furchtbare Person! Ich habe ihr den Brief des Alten gezeigt, sie hat mir dies kostbare Dokument in Fetzen gerissen, vor die Füße geworfen. Und doch, wenn ich hier bleibe, heiratet sie mich – an Händen und Füßen geknebelt, wie weiland König Gunther – aber sie heiratet mich, und dann magst du nach acht Tagen auf meinem Grabe beten, denn länger hielt ich es nicht aus – nein – nicht acht Stunden, keine acht Minuten! Denke dir um Gottes Willen, sie hatte gestern den Schlüssel an ihrer Kommode stecken lassen, wo sie ihre Papiere sorgfältig verwahrt – ich wollte endlich einmal wissen, wie alt sie eigentlich sei – und da fand ich die Bescherung: fünfunddreißig! jawohl, fünfundvierzig ist sie nach dem Taufscheine! und daneben ein verbrauchtes altes Gebiß und einen großen Haufen verfilzter schwarzer Locken! es war entsetzlich!«
Anton schauderte wie gestern, als ihm der Larose wie Tinte schmeckte; Gerhard konnte sich trotz seiner trüben Stimmung des Lachens nicht erwehren.
»Lache nur«, sagte Anton, »wer wie du Tag für Tag geschwelgt in der Blumen Süßigkeit – hat gut lachen, wenn sich ein armer Teufel, wie ich, in die Nesseln setzt.«
»Dann also ernsthaft: hast du ihr positive Versprechungen gemacht?«
»Sie behauptet es – aber was behauptet ein solcher ehewütiger Satan nicht! Es ist ein hartes Wort, aber, weiß es Gott, Gerhard: die Person hat den Teufel im Leibe, oder auch mehrere. Sie behauptet, ich hätte dich zu keinem anderen Zweck hierher gebracht, als um mich von ihr loszueisen; behauptet außerdem: ich hätte sie verleitet, ihre fünftausend Taler an Zempin zu geben, während sie es nur getan hat, um Zempin für das Retzower Projekt, mit dem sie sich, wer weiß wie lange trägt, günstiger zu stimmen. Nun soll ich Ärmster vor dem Risse stehen, denn daß ihr Geld mit dem anderen flöten gegangen, ist ja wohl seit heute morgen gewiß. Ich hätte auch heute mit in Retzow sein sollen und ihre Rechte vertreten, sagt sie. Ich! Rechte vertreten! kannst du dir einen solchen Nonsens vorstellen! und gegen Zempin, dessen Tasche mir offen gestanden, solange was drin war, obgleich ich zu meiner Ehre sagen muß, ich habe von dieser Freiheit den bescheidensten Gebrauch gemacht! Und wenn ich wirklich die Wechsel bezahlen soll, die ich für ihn ausgestellt, so sind das starke Prozente, und es war, milde gesprochen, ein wenig kurios von Zempin, mich in eine solche Situation zu bringen. Er leidet an kuriosen Einfällen. Hat er mir doch heute nichts weniger zugemutet, als Anna Garloff zu heiraten!«
»Das ist eine Unwürdigkeit«, rief Gerhard erregt.
»Dachte ich anfangs auch«, erwiderte Anton, »aber dann dachte ich wieder, ein Ertrinkender klammert sich an das Bein des ersten besten, der in seiner Nähe schwimmt – was ja ebenfalls nicht hübsch ist, weil der Mann sich verständigerweise sagen müßte, daß er sich dadurch nicht rettet und den anderen mit in die Tiefe zieht. Aber, höre, wenn die so schwarzgrün unter einem gähnt, höre – ich glaube, da ist es mit dem Verstande und der Moral und der Delikatesse und all dem Brimborium noch weniger weit her als sonst schon, und die Bestie, die in uns allen steckt, stellt sich auf die Hinterbeine und zerfleischt und zerreißt, wer in ihre Tatzen kommt. Und in dem Manne steckt eine schlimme Bestie, glaube mir, der ich ihn solange kenne: eine gewaltige, gänzlich ungezähmte, die noch immer ihren Willen gehabt hat und sich eine Welt, in der sie ihren Willen nicht hätte, gar nicht vorstellen kann und dann diese Welt gleich in zehntausendmillionen Stücke schlagen möchte. Tyrannennatur – Tyrannenlaune! und worauf verfällt die nicht, um sich Luft zu schaffen! Denke an den verstörten Saul und den holden David! Der hatte auch weiter keine Schuld, als daß er keine hatte, und das war gerade ausreichend, um ihm den königlichen Zorn, respektive Wurfspieß zuzuziehen. Und ein bißchen Schuld hast du sogar: ich denke in diesem Augenblicke nicht an Frau Julia, aber Salchen erzählt mir, du habest gestern morgen mit dem Grafen eine lange Unterredung gehabt – sie hat natürlich an der Tür gehorcht – es ist eine Spezialität von ihr – und da sollt ihr beide ja greuliche Dinge über Zempin gesprochen haben. Salchen will nicht beichten, und ich habe sie mit den fürchterlichsten Drohungen dingfest oder vielmehr mundfest zu machen gesucht, daß sie kein Wort davon an Zempin sagt. Das hieße richtig, Öl ins Feuer des ehelichen Zwistes gießen, und Zempin haßt keinen Menschen wie den Grafen; ich habe immer im stillen gedacht, weil er für sein Leben gern selbst ein Graf wäre, oder ein Fürst, oder König – warum auch nicht: er hat es ja dazu! Oh, Richard, oh, mon roi! Ein Kreuzzug – höre! das wäre so was für ihn gewesen! Assur, Joppes Strand, Askalon, beturbante Sarazenenköpfe, braune Weiberbusen, Schwerterklirren, Lautenklimpern – alles Unsinn, ich gebe es zu – vanitas vanitatum! aber doch im großen Stil, aus dem vollen und nicht aus dieser miserabeln Gegenwart, in der nicht einmal mehr die Haus- und Hofnarren recht gedeihen, geschweige denn die gekrönten! Ach, wahrhaftig, mir tut das Herz weh, wenn ich das so recht bedenke, ich würde weinen, wenn ich mich nicht schämte, und wenn ich nicht so durstig wäre. Du hast wohl nicht noch von gestern – von dem Larose – wahrhaftig, da auf der Kommode! – ein ganz stattlicher Rest! Aber ich darf dich nicht länger wachhalten – es wäre unverantwortlich; können ja morgen weiter deliberieren. Du darfst auf keinen Fall aus dem Zimmer, der Doktor hat es mir doch besonders auf die Seele gebunden. Soll ich dich zu Bett bringen? nein? gute Nacht also! und höre – den Rest nehme ich mit – es ist wirklich schade darum, und meine Zigarren sind auch zu Ende, und ich muß etwas zur Beruhigung meiner Nerven tun.«
Der gute, leichtlebige Mensch hatte ihn allein gelassen – allein mit sich und dem Heer von schmerzlichen Gedanken, das noch sein Kissen umschwärmte, als Mitternacht längst vorüber war. Die letzte Mitteilung Antons, daß Salchen seine Unterredung mit dem Grafen belauscht, hatte seine ohnehin schon fieberhafte Aufregung auf das äußerste gesteigert. Sollte der dünne Faden reißen, an dem das Geheimnis hing? sein und Ediths Geschick in der gemeinen Hand eines Salchens liegen? Es war ein furchtbarer Gedanke. Er versuchte, sich seine Unterredung mit dem Grafen ins Gedächtnis zu rufen, die einzelnen Ausdrücke, Wendungen, um sich womöglich zu überzeugen, bei dem schnellen Wechsel der Redenden und dem raschen Tempo, in welchem gesprochen wurde, habe ein Lauscher, der nicht den Sachverhalt bereits kannte, unmöglich ein deutliches Bild desselben gewinnen können. Aber schon ein undeutliches Bild, eine Ahnung der Wahrheit in der Verräterseele dieses Weibes, und es konnte der Funke werden, vor dem er den Grafen gewarnt hatte – der Funke, der das Glück der Zempins in die Luft sprengte. Ach, mit diesem Glücke war es wohl sowieso vorüber, aber gerade das würde ihm die Hände gebunden haben, ganz abgesehen von seiner Liebe zu Edith, seiner herzlichen Teilnahme an Ediths Vater. Schien es ja nun leider gewiß, daß Zempin ihm seine Freundschaft entzogen; daß er seiner eigenen Freundschaft nicht wert – der Mann lag am Boden, verwundet, hilflos trotz seiner Riesenkraft – sollte er ihm, dessen Stolz so tief, so tief gedemütigt war, noch den Gnadenstoß versetzen mit der Kunde, daß der Vater, dessen er sich so rühmte, ein Dieb und Mörder gewesen! das Vermögen der Zempin von vornherein nichts weiter, als eine blutige, mit tückischer Hinterlist und feiger Grausamkeit erraffte Beute? Nimmermehr! es war ihm, als ob er ebensogut selbst einen Meuchelmord hätte begehen können!
O schlimme, schlimme Nacht! Wie die aufgescheuchten Gedanken hin und her hasteten in dem verwüsteten Gehirn! Wie es in den Schläfen siedete und hämmerte, mochte er den fieberheißen Kopf auf diese oder jene Seite wenden! Wie die gequälte Brust nach Atem rang! Wie die zuckenden Hände bald die Decke von dem brennenden Körper schleuderten und wieder über die fröstelnden Glieder zogen!
Und draußen heulte und raste der Sturm durch den sausenden Park, und der Regen hämmerte gegen die klappernden Scheiben!
Wollte es denn nimmer Morgen werden, wenn schon die mitleidslose Nacht keinen Schlaf für ihn hatte!
Und endlich kam der Schlaf, aber es war nicht der erquickende, glieder- und kummerlösende – eine trübe Dämmerung nur, durch welche die Gedankenjagd weiterraste, schattenhafter, gespenstiger, fürchterlicher. In lichterlohen Flammen stand das Schloß, auf dessen höchster Zinne Maggie und Lafing tanzten, während er über den Burghof durch die Haufen wütender Knechte, die nach ihm mit Stangen und Sensen schlugen, die gerettete Edith trug, zu der Zugbrücke, die unter seinen Füßen in den Wallgraben sank, in den Teich, in den brausenden See, daß er unsägliche Kraft nötig hatte, den Kopf des geliebten Mädchens über dem Wasser zu halten, bis er plötzlich sah, es war nicht Edith, sondern Anna, als aus dem Chaos ein Scheusal tauchte – Vadder Deep, der mit plumpen Händen an dem Gewande des Mädchens zerrte und zerrte und dabei fortwährend lächelte. Das arme Kind flehte mit todesbangen Blicken zu ihm auf und sank, und er mit ihr tiefer, tiefer, abgrundtief, in purpurne Waldesnacht, in welcher Julie auf schlankem Zelter vor ihm herjagte, sich häufig im Sattel wendend, mit den kleinen Händen winkend. Nun hatte er sie erreicht, er fühlte ihren heißen Atem über seine Stirn wehen, das Wallen des weißen nackten Busens an seiner sich dehnenden Brust; sein lechzender Mund trank ihre Küsse; – sie glitt aus seinen Armen, aus der Zimmertür, durch die er ihr nachstürzte auf den Turnierplatz, an dessen entgegengesetzten Schranken der schwarze Ritter auf mächtigem Rappen hielt, das Visier geschlossen, die Lanze hochgerichtet. Ich fürchte dich nicht! Du bist kein König und kein Ritter; ein schnöder, plumper Bauer, wie dein Vater, und kannst, wie er, nichts als einen wehrlosen Edelmann morden. Hier ist mein Handschuh! Heb ihn auf, wenn du es wagst! Der schwarze Ritter öffnete das Visier: es war Zempin; aber dann war es ein schönere, fremder Mann, den er nie gesehen, und der ihm doch so bekannt und kein anderer als sein Großvater war. Der sah ihn an mit liebevollen Blicken, denen sein Herz entgegenwallte, und mit zornfunkelnden Augen, vor denen sein Herz erbebte, und wies mit der eisernen Hand nach den Schranken, wo auf dem Throne Johann ohne Land saß in preußischer Gardekürassieruniform – Vetter Odo, der sich totlachen wollte, daß er das reiche Erbe nun doch an sich gerissen; und alle die Herren und Damen lachten mit, die Schranken bebten und barsten und krachten zusammen über der heulenden, wimmernden Menge, die nach allen Seiten in den finsteren, blitzedurchzuckten Wald stob, daß nur er und Edith übrigblieben an dem Hünengrabe, unter dem der Großvater begraben lag. Und oben in den grünen Tannen rauschte es feierlich, und er trat zu Edith und sprach. Ich habe jetzt nur dich, sei du mein Weib und erlöse mich und entsühne diese schnöde Welt! Aber Edith schüttelte den Kopf und wies auf den Stein, an dem der Förster lehnte und auf die Worte deutete, die da geschrieben standen. Er wollte die Worte lesen, er vermochte es nicht; je mehr er sich mühte, desto verworrener wurde die Schrift; unendliche Angst ergriff ihn; er wußte, Ediths und sein Glück hing daran, daß er die Worte lesen konnte. Der Falk da oben kann's, sagte der Förster, das ist auch ein Räuber und Mörder – er hatte die Flinte an der Wange, der Schuß krachte – es war nicht der Falke, es war Edith, die er durchs Herz geschossen –
Mit einem fürchterlichen Schrei fuhr Gerhard in die Höhe.