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Unter einem halbverfallenen Torfschuppen auf freiem Felde hatte Gerhard vor dem Unwetter Schutz gesucht, das ihn mit unglaublicher Wut auf dem Wege zwischen Teschen und Kosenow überfallen. Der treue Braune stand neben ihm, wie er jetzt auf einem umgestülpten Karren saß. Das Pferd zitterte in dem rauhen Winde, der durch die Ruine strich; er selbst schauderte vor Frost, und doch brannte die Stirn in der aufgestützten Hand.
Aber es war nicht das Gefühl seiner Schwäche, was ihn an dem schauerlichen Orte festhielt, als der Regensturm vorübergebraust war und sogar die Nachmittagssonne sich mühte, aus den jagenden Wolken hervorzublicken. Er sollte nun von Edith Abschied nehmen, Abschied für immer! Konnte er den bitteren Kelch nicht eine Spanne Zeit, und wäre sie noch so kurz, von den Lippen fernhalten? Was würde er ihr sagen? was konnte er ihr sagen, ohne daß die großen, treuen Augen verwundert, erschrocken zu ihm aufblickten und sich dann abwandten, den grausamsten Schmerz zu verbergen, den eine edle Frauenseele empfinden mag? Würde da der Trost vorhalten, den er sich fortwährend wiederholte, daß es kein anderes Mittel gab, ihr das Entsetzliche jetzt und in Zukunft zu verbergen?
Und er durfte nach dem Besuche beim Grafen freilich mehr als je hoffen, es werde das geschehen können. Der Pastor hatte den edlen Herrn ganz richtig beurteilt. Der plötzliche Umschwung in den Glücksumständen des Kantzowers; die Entschlossenheit, mit der die Baronin Basselitz an dem Plane einer Verbindung zwischen Lafing und Maggie festhielt, trotzdem die Gräfin, wie es schien, dagegen mehr als nur Andeutungen über das Geheimnis hatte fallen lassen; seine eigene wiederholte positive Erklärung, daß er auf keinen Fall und unter keinen Umständen selbsttätig in der Angelegenheit auftreten und ebensowenig, falls jene Dokumente sich fänden – was ja überdies der Gipfel der Unwahrscheinlichkeit sei – von ihnen Gebrauch machen und den Vachaschen Erbschaftsstreit wieder anfachen werde – das alles hatte die Stimmung des Grafen offenbar völlig verändert, obgleich er sich die Miene gab, bei reiflicher Überlegung die fast unbesiegbaren Schwierigkeiten eines juristischen Beweises denn doch eingesehen zu haben. Und darin habe ja Gerhard völlig recht; die Ehrenrettung des verstorbenen Vicomte sei auch ohne dies eine vollkommene; und was die Schädigung betreffe, die der Staat durch die Unterschlagung der ihm zufallenden Kriegsbeute erlitten – obgleich selbst diese Frage, wie Gerhard so scharfsinnig nachgewiesen, eine offene sei – so könne man mit gutem Gewissen den jetzt definitiv für den Fiskus gewonnenen Retzower Forst als Kompensation ansehen. Überdies müsse er gestehen, sich von dem Herrn Deep eine ganz andere und günstigere Meinung gebildet zu haben, nachdem er ihn heute vormittag besucht und ihm ausführlich berichtet, wie er auf völlig legale Weise durch kluges Haushalten des Ersparten und allerdings nicht minder kluges Benutzen der finanziellen Bedrängnisse der Herren Zempin allmählich zu einem bedeutenden Vermögen und schließlich so weit gekommen, daß er sich als Besitzer von Retzow betrachten dürfe. Herr Deep werde sich in dieser seiner Eigenschaft bemühen, ihm – dem Grafen – in jeder Weise gefällig zu sein, habe ihm auch sofort bei der Exploration der Hünengräber, die immer ein Lieblingswunsch auch von ihm gewesen, zu jeder freundnachbarlichen Hilfsleistung bereit erklärt; werde, sobald der Herr Graf befehle, und wär's noch heute abend, mit den Vorarbeiten beginnen und sie hoffentlich so weit fördern, daß der Herr Graf sozusagen nur noch die letzte Hand daranzulegen brauche.
Dann war der Graf auf den Selbstmord von Anna Garloff zu sprechen gekommen, wo er sich denn auf Gerhards Bitte sofort bereit erklärte, dem unglücklichen Vater seinen Wunsch zu gewähren: die durch Gesetz und Sitte geforderte Verweigerung eines ehrlichen Begräbnisses würde dem armen Manne ja das Herz brechen! Schließlich war der Graf untröstlich, Gerhard bestätigen zu müssen, daß Herr Johann Zempin allerdings zu einer namhaften Freiheitsstrafe verurteilt sei; indessen habe er sofort, ohne einen desfallsigen Antrag des Damnaten abzuwarten, einmal aus eigener Initiative bis zur vollständigen Genesung des Kranken die selbstverständliche Sistierung der Urteilsvollstreckung beantragt, sodann bei Onkel Exzellenz die Niederschlagung der Angelegenheit auf dem Gnadenwege befürwortet; er hege nicht den mindesten Zweifel, daß allerhöchsten Orts einem betreffenden Gesuche gern Folge gegeben werden würde. Es gereiche ihm zu aufrichtiger, hoher Freude, Gerhard diese Mitteilungen machen zu können, welche – so erlaube er sich anzunehmen – dessen Empfang heute in Kosenow, wenn möglich, eine noch ganz andere Weihe verleihen dürften.
Gerhard hatte seinen Dank ausgesprochen, ohne auf die letzte Andeutung einzugehen. Sie konnte nur einen Sinn haben: der Graf war – und dann unzweifelhaft durch Deep – von seinem Verhältnis zu Edith unterrichtet. Und nun glaubte er auch erst das diplomatische Verhalten des Grafen in dem rechten Lichte zu sehen: der Graf wollte sich dem eventuellen Schwager des Basselitzer Barons auf jede Weise gefällig erweisen und wußte jetzt ganz genau, weshalb Gerhard so ängstlich beflissen war, nicht an ein Geheimnis zu rühren, dessen Enthüllung ihm die Verbindung mit der Dame seiner Wahl für immer unmöglich machen mußte.
So konnte er sich auch nur das gnädige Lächeln der Gräfin deuten, die zum Schlusse der Unterredung in das Zimmer kam, weil sie fürchtete, über so vielen wichtigen Dingen vergessen zu werden und doch auch ihre innigsten Wünsche für die baldige Genesung des Herrn Zempin und beste Empfehlungen für Fräulein Edith dem Herrn Baron mitgeben möchte. Es sei so schade, daß er nicht bleiben könne! Soeben hätten sich die Baronin Basselitz mit Baron Bogislaf und Fräulein Maggie zu einem Nachmittagsbesuche anmelden lassen. Sie würden gewiß den Rückweg über Kosenow nehmen, wenn sie erwarten dürften, den Baron dort noch vorzufinden.
Dann abermals ein gnädiges Lächeln und Darreichen der schönen weißen Hand zum Kusse und erneute Freundschaftsversicherungen des Grafen, der ihm durchaus seinen Wagen aufdringen wollte und empfindlich schien, als Gerhard das gütige Anerbieten entschieden ablehnte und seinen Braunen wieder bestieg.
»Und nun komm, du treues Tier«, sagte Gerhard, »und trag deinen Herrn durch die letzte, die schwerste Leidensstation!«
Ein Ritt von einer halben Stunde brachte ihn auf den Hof von Kosenow. Es dauerte geraume Zeit, bis er einen Knecht aufgetrieben, dem er das Pferd übergeben konnte. Freilich erfuhr er von dem Manne, daß das Fräulein bereits vor einer Stunde weggefahren sei, er wisse nicht zu sagen wohin, er glaube, nach Kantzow – vielleicht könne der Herr Baron im Hause von Frau Sara das Nähere hören.
Gerhard ging in das Haus; die Alte, die aus dem Korridor kam, an dessen Ende das Schlafzimmer des Kranken lag, begegnete ihm auf dem Flur. Es kostete ihm Überwindung genug, die Person anzusprechen; aber es gab kein anderes Mittel, die nötigen Erkundigungen einzuziehen. Nur mit sichtbarem Widerstreben gab die Alte unbestimmte Antworten: ja, Fräulein Edith sei seit einer Stunde fort, vielleicht nach Kantzow, vielleicht auch nicht; sie habe nicht die Ehre, vom Fräulein gesagt zu bekommen, wohin Fräulein gehe, und wann sie wiederkehre; gestern sei sie ja wohl drüben gewesen. Der Herr Baron werde am besten wissen, weshalb Fräulein im Lande herumkutschiere, während der Vater krank läge. Ob der Herr Baron den Herrn sprechen könne? daran sei gar nicht zu denken, der Herr schlafe; er schlafe immerfort und solle sich wohl den Tod davon holen, daß er plötzlich geweckt werde! Warum sei denn der Herr Baron nicht vorgestern oder gestern schon gekommen? Das Fräulein sei immer nach der Tür gelaufen, wenn sich etwas auf dem Hofe geregt habe!
Gerhard mußte es aufgeben, bis zu dem Kranken zu gelangen. Er habe nicht die Zeit, auf die Rückkehr das Fräuleins zu warten; möchte ihr aber ein paar Worte schreiben und fände gewiß das Nötige in ihrem Zimmer.
Er machte der böswilligen Alten jeden Widerspruch unmöglich, indem er, ohne ihre Einwilligung abzuwarten, auf den Salon zuschritt, dessen Tür er glücklicherweise unverschlossen fand. Er trat hinein und zog die Tür hinter sich zu.
Die Alte hatte nicht gewagt, ihm zu folgen; er sah sich allein in dem schönen, weiten Gemache, das ihm heute in dem trüben Lichte des düsteren Spätnachmittags von einer unsäglichen Schwermut erfüllt schien. Hier hatte ihm die Sonne seiner Liebe zuerst gestrahlt, viel – viel zu schön, als daß sie nicht alsbald wieder hätte untergehen sollen. – Wäre ich klüger gewesen, ich hätte es damals schon wissen können; aber welcher Mensch ist klug, wenn ihm neidische Götter ein höchstes Glück vor die trunkenen Augen gaukeln? Ich bin der Spiegelung entgegengeeilt, hochklopfenden Herzens; nun hat der Sand der Wüste, der es erzeugt, das Trugbild wieder verschlungen, und alles ist öde und leer um mich, den Verschmachtenden!
Was sollte er tun? Verzichten auf den letzten Glückesschimmer? sie nicht noch einmal, zum letzten Male, sehen? nicht sein Haupt lehnen dürfen an die geliebten Knie? sein Herz erleichtern von der Tränenflut, die seine seufzende Brust beklemmte, die starren Augen brennend machte? So grausam konnte das Schicksal sein?
Mochte es denn sein Ärgstes tun? Mochte es den Unschuldigen verschlingen mit dem Schuldigen! Mochte es den Enkel büßen lassen, was der Ahn gefrevelt! Mochte jenes Pult, an dem der Unglückselige einer treulos verlassenen Frau seine Schuld gebeichtet, wieder dem Enkel dienen, wenn er der einzig Geliebten schrieb, daß er sie verlassen müsse, weil – nun, weil es wohl irrende Menschen gibt, die Mitleid und Erbarmen haben, aber nur einen ewigen, allwissenden Gott, vor dem nichts verjährt, und der der Väter Sünde rächt bis ins vierte und fünfte Glied!
Er hatte sich an den Sekretär gesetzt, auf dessen offener Platte eine geschlossene Briefmappe lag, woraus unbeschriebenes Papier, wie es schien, hervorragte. Er wollte einen Bogen herausziehen; es waren ihrer mehrere; auf dem einen stand von Ediths Hand unter dem Datum des Tages: Lieber, einzig, ewig Geliebter! Ich muß Dir schreiben, da ich Dich vorgestern, gestern nicht gesehen; ich muß –
Nichts weiter! Sie mochte dann wohl noch einen Moment gezögert haben und war entschlossen aufgesprungen, einen letzten Versuch zu machen, ihm zu sagen, was sie in der Verzweiflung, ihn zu sehen, hatte schreiben wollen.
Was?
Ihren Kummer, ihre Sorgen, ihre Angst – alles, alles, was ihr schönes Herz belastete; was ein edles Herz nur dem Geliebten und auch ihm nur Hand in Hand und Lippe auf Lippe anvertrauen kann.
Und er sollte ihr schreiben, daß der einzig, ewig Geliebte –
Hatte er das Herz dazu? hatte er die Hand, der Treuen, Guten den Dolch ins Herz zu stoßen?
Neben dem Blatte lag der Band des Wilhelm Meister aufgeschlagen. Seine Augen irrten von dem Blatte in das Buch; mechanisch las er, was ihm eben zuerst in die Augen fiel. Es war die Szene auf dem Grafenschlosse, als die schelmische Baronesse sich den frevlen Scherz erlaubt, Wilhelm als Grafen auszustaffieren, und nun der allzu Folgsame in dem Hausrock des Grafen, beim Scheine der Argandschen Lampe, die vor ihm, dem im großen Sessel Sitzenden, steht, die schöne Gräfin erwartet – in nicht geringer Verlegenheit.
›– jeder weibliche Reiz, der jemals auf ihn gewirkt hatte, zeigte sich wieder vor seiner Einbildungskraft. Marianne erschien ihm im weißen Morgenkleide und flehte um sein Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre schönen Haare und ihr einschmeichelndes Betragen waren durch ihre neueste Gegenwart wieder wirksam geworden, doch alles trat wie hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn er sich die edle, blühende Gräfin dachte, deren Arm er in wenig Minuten an seinem Halse fühlen sollte, deren unschuldige Liebkosungen er zu erwidern aufgefordert war –‹
Wie wundersam ihn das berührte! Wie eine Situation, von der wir genau zu wissen glauben, daß wir uns bereits einmal darin befunden. Die Personen freilich und ihre Charaktere, die Namen selbst sind verändert: die damals Marianne hieß, heißt jetzt Julie; aus der Philine ist eine Maggie geworden, und nicht der blühenden Gräfin wallt das Herz entgegen, sondern Edith; aber der vorausschauende Geist weiß mit Sicherheit, was nun kommen wird, wenn es auch nicht das Bild des Grafen ist, das der Pfeilerspiegel zeigt neben dem Sekretär, sondern das von Ediths Vater, der mit einem Lichte in der Hand aus der Tapetentür, dem Spiegel gegenüber, hereintritt, unbeweglich ein paar Momente stehenbleibt, und die Tür sachte wieder hinter sich zumacht.
Gerhard strich sich über die heiße Stirn, die brennenden Augen: es war so grauenhaft deutlich gewesen, das Bild! die ungeheure Gestalt, das buschige Haupt, die großen und doch knabenhaften, in Verwunderung oder Schrecken erstarrten Züge des guten, sehr abgemagerten und bleichen Gesichtes – der halb erblindete Spiegel hatte alles wohl gezeigt – um die gelbe Flamme der Kerze war ein trübfarbiger Ring gewesen; – selbst das leise Schließen der Tür glaubte das überreizte Ohr vernommen zu haben! – War er auf dem Wege, wahnsinnig zu werden? War er es bereits?
Oh, nur noch ein wenig halt aus, mein armer Kopf! du gequältes Herz!
Er versuchte zu schreiben; die Feder entsank der zitternden Hand nach den ersten Worten. Vielleicht ließ sich sagen, was sich nicht schreiben ließ. Er glaubte nicht daran; aber dies war unmöglich.
Er war aufgestanden und schritt in dem Gemache hin und her, das er vielleicht, das er wohl sicher nie wieder betreten würde. Von solcher Unruhe, Ungewißheit, Angst mochte der Großvater gefoltert gewesen sein vor der verhängnisvollen Fahrt, vor der ihm das ahnende Herz sagte, daß sie die letzte seines abenteuerlichen Lebens. Waren die kunstreichen Finger noch einmal über die Tasten des alten Klaviers dort geglitten? hatten noch einmal die Weisen des Lieblingsmeisters ertönen lassen? – Was war's gewesen? Don Juans übermütiges: Treibt der Champagner? oder des Komturs schauerliche Mahnung? – hatte er dem hochaufgeschossenen blöden Jungen, der ihn so liebte, noch einmal die Wangen gestreichelt? ihm gesagt, daß er nicht weinen solle? er wolle ihn später holen in seine schöne Thüringer Heimat, wo die Wälder höher ragten, die Vögel fröhlicher sängen und die Fernen duftiger blauten? War dann auch noch zu dem Papagei getreten, mit dessen Kapriolen er sich eine und die andere der unendlichen Stunden zu verkürzen gesucht? hatte ihm ein letztes Stück Zucker in den krummen, gesprächigen Schnabel gesteckt? ihm ein letztes Mal das graue Gefieder gekrault? – Und hatte das wunderliche Geschöpf zum Abschied dieselbe Leidensmiene gemacht, wie jetzt? – Armes Tier, warum kauerst du zitternd mit gesträubten Federn auf deiner Stange? du hast Wasser und Futter! die gütige Herrin hat dich nicht vergessen in der Sorge dieser Tage! Sorgst du um sie? um den kranken Herrn? weißt, daß das längst geborstene Glück von Kosenow nun vollends zerspringen wird? geht es mit dir selbst zu Ende? bist müde, zu sehen, wie die Welt nach hundert Jahren noch immer dasselbe Tal des Leides ist? im Indianer- wie im Pommernlande?
Der sterbende Vogel hob die halb verglasten Augen; Gerhard konnte es nicht länger ertragen; er eilte aus dem Gemache durch die offene Terrassentür in den Garten auf den Hof, wo der Knecht den Braunen hielt; saß auf und sprengte dem nahen Walde zu.
Er hatte ihn noch nicht erreicht, als ihm zwei Equipagen entgegenkamen, in deren erster er sofort die große offene Kutsche der Baronin Basselitz erkannte, die allein im Fond saß; in der folgenden, die noch zurück war – einem eleganten Jagdwagen – saßen zwei: ein Herr und eine Dame – er konnte nicht darüber im ungewissen sein, wer die zwei waren. An ein Ausweichen war nicht zu denken; in der nächsten Minute war er an der Kutsche, die bereits hielt. Die Baronin war auf die Seite gerückt, an der er vorbei mußte, und streckte ihm weit die Hand entgegen.
Woher? und wohin?
Gerhard sagte, daß er von Teschen über Kosenow komme und zum Förster wolle.
»Das ist brav von Sie!« sagte die Baronin; »wäre schon selber zu dem Manne gefahren, der ein alter Protegé von mich ist, hatte man heute keine Zeit; tu's vielleicht noch, wenn ich von Teschen komme, wo wir eine Visite machen wollen; muß sich doch mal präsentieren, das junge Paar! Na, man immer 'ran!«
Der zweite Wagen hielt nun ebenfalls, dicht hinter dem ersten. Gerhard grüßte von dem Schlage der Kutsche aus; Lafing war sofort herabgesprungen und kam auf ihn zu; Maggie, die sitzengeblieben, lächelte und winkte mit der Hand.
»Wundern sich, daß wir in zwei Wagen kommen, da doch in meiner alten Karrete Platz für achte ist«, rief die Baronin; »aber ich kann das Getue und Gehabe und die ewige Löffelei von die beiden nicht aushalten. Na, Lafing, brauchst darüber nicht rot zu werden! und du, Kleine, brauchst dir nicht zu verschleiern! Der Herr Baron gönnt euch das; nicht wahr, Herr Baron? Und nun, Lafing, steig man wieder ein und fahrt vorauf, ich habe noch ein paar Worte mit dem Baron zu sprechen.«
Lafing eilte zu seinem Platz zurück; auf dem nicht breiten Wege mußte der Jagdwagen langsam vorüberlenken; Maggie, die auf der linken Seite saß, kam dabei Gerhard so nah, daß er, trotz des weißen Schleiers, ihre glühenden Wangen sah; sie wagte die Augen nicht aufzuschlagen, sie wagte nicht zu grüßen; sie wagte sich nicht zu regen, als Lafing, der endlich den Hut wieder aufgesetzt hatte, jetzt, als sie eine kleine Strecke entfernt waren, den Arm um sie schlang – Gerhard dachte flüchtig daran, was sie wohl gegeben hätte, wäre ihr diese Demütigung erspart geblieben!
Die Baronin hatte ihn noch näher herangewinkt, indem sie ganz in die Ecke rutschte, und sagte in einer Art von rauhem Geflüster:
»Das ist eine heillose Geschichte! und ich bin überzeugt: mein alter Freund, der Kantzower, steckt dahinter; er hat nach diese Seite nie etwas getaugt, und nach manche andere auch nicht. Er mag sich nur vor dem Garloff in acht nehmen; der hat sein Leben lang keinen Spaß verstanden, und dies ist kein Spaß, Gott sei's geklagt! Die arme Dirn! Der arme alte Mann! Lohn's Sie Gott, Baron, daß Sie sich seiner annehmen! Aber ich bin ja immer mit Sie einverstanden, auch in dem, daß Sie von die andere alte Geschichte nichts wissen wollen, die der Graf – na, Sie verstehen mir! – Das fehlte mich noch gerade, habe ich zu den Grafen und zu die Gräfin gesagt: wenn wir erst anfangen wollten, in unsere Familiengeheimnisse zu kramen und wie Hans und Kunz zu ihr Vermögen gekommen, dann könnten wir jawohl alle samt und sonders ins Zuchthaus wandern. Ich danke dafür! An dem da – die Baronin wies rechts hin nach der Gegend, wo Kantzow lag – wäre mich trotz alledem nicht so viel gelegen und an seine liebe Frau noch weniger, und sie sind ja heute reicher, als je. Aber wenn Sie dem Alten« – sie wies geradeaus auf Kosenow – »ein Haar auf seinem guten, ehrlichen Kopfe krümmen, dann haben Sie es mit mich zu tun! – Na, Herr Baron, Sie werden zu meiner schönen Rede Ja und Amen sagen. Sie brauchen mich keine Konfidenzen zu machen; ich weiß von die Kleine, wie der Hase läuft. Und ich wünsche Sie von ganzem Herzen alles Glück und Segen, und wird nicht fehlen, denn die Sie sich ausgesucht haben – na – ich sage weiter nichts, als: die ist echt gut, ich wollte man, die andere wäre halb so. Und vor Ihnen, Baron, habe ich ordentlich ein mütterliches Gefühl, und wenn ich eine Tochter hätte, und Sie wollten ihr – weiß es der liebe Gott, Baron – ich wüßte nicht, was mich, nächst das Glück von mein Lafing, eine größere Freude machen könnte. Na, nun leben Sie wohl und reiten Sie, sobald Sie bei den Förster gewesen, nach Hause. Sie sehen mich gar nicht so aus, als ob Sie heute viel zuzusetzen hätten. – Fort, Karl!«
Die Baronin hatte sich die Tränen, die ihr reichlich über die vollen Wangen gelaufen waren, energisch abgewischt und sich in ihre Ecke zurückgelehnt. Die Kutsche rollte davon; Gerhard verfolgte seinen Weg; der Wald nahm ihn auf
Die Begegnung mit der Baronin hatte ihm wohlgetan. Diese Worte, diese Tränen hatten nur aus einem Herzen kommen können, dessen angeborener Adel sich trotz aller Leidenschaften, die es früher oder später durchtobt, siegreich behauptet. Er hatte eine aufrichtige und energische Freundin mehr auf der Welt; und sein dankbares Gemüt wußte den hohen Wert eines solchen unverhofften Schatzes in diesem Augenblicke voll zu schätzen. Selbst die Anspielung der Baronin auf sein Verhältnis zu Edith hatte ihn keineswegs verletzt. Hätte die Unterredung länger gedauert, wäre er nicht so verwirrt gewesen, so unfähig, seine Gedanken zusammenzuhalten und auszusprechen – er fühlte, daß er der großherzigen Frau seine Zweifelsqualen gebeichtet, daß er sie gebeten haben würde, ihm beizustehen in seiner Not, mit ihm, für ihn zu entscheiden. Und er glaubte, ihre Antwort voraus zu wissen; ja, er versuchte, diese Antwort in die ihr eigentümliche krause, drastische Form zu kleiden, die ihn anfangs so häßlich berührt und jetzt so freundlich anmutete. Er mußte über den Versuch lächeln und erschrak, daß er noch lächeln konnte. Großer Gott! so weit war es gekommen mit ihm, der so gern lachte!
Er brauchte sich keine Gewissensbisse darüber zumachen: es war nur ein Aufatmen der gepreßten Brust gewesen, kurz wie der Sonnenblick, der eben durch die grünen Wipfel geschienen, und dem bereits wieder das Dunkel gefolgt war, das sich jetzt tiefer und dichter in den Wald senkte. Er war vorher noch nie nach der Försterei gekommen; er wußte nur, daß er von dem Hauptwege, der gerade auf Basselitz führte, links in einen Nebenweg abbiegen mußte. Eben hier zweigte sich ein solcher ab; war es der rechte?
Eine morsche Brücke führte über den Graben; drüben unter den bemoosten Tannen saß auf dem Steine eine weibliche Gestalt, die sich bei seiner Annäherung erhob und anfing zu knixen und Handküsse zu werfen. Wie kam sie hierher, die arme Wahnsinnige?
Sie war auf ihn zugelaufen und hatte den Steigbügel geküßt.
»Man wartet schon so lange auf den gnädigen Herrn Baron; ich habe gesagt, daß ich dem Herrn Baron entgegengehe, denn der Herr Baron sei mir einen kleinen Dank schuldig von wegen des Briefes, den ich für ihn nach Zarnewitz getragen, und würde gewiß kommen, wenn ich ihn darum bäte. Und dann wollte ich dem Herrn Baron sagen, daß ich den Monsieur Baptiste doch lieber nicht heiraten möchte, wenn Herr Zempin auch gestern abend selbst bei mir vorgesprochen und die besten Worte gegeben hat, und mich in einer schönen Chaise nach Grünwald schicken wollte, wo mich der Monsieur Baptiste erwartet. Dann hätte er mir auch einen französischen Kammerdiener mitgeben müssen und nicht den Jochen Schnut, der mich unterwegs geschlagen hat, als ich aus dem Wagen sprang, weil er so nach Branntwein roch. Ja, schnarch du nur erst einmal! und heidi über die Felder durch die dunkle Nacht zu meinem alten Schatz! Der schlägt mich nicht und gibt mir zu essen und zu trinken, und es ist eine so schöne Leiche, und das Fräulein aus Kosenow hat so schöne Blumen gebracht, ich habe mir auch eine ins Haar gesteckt, in einem halben Jahre ist die Trauer um, und dann machen wir Hochzeit.«
Die Alte nestelte in dem grauen Haar an der halbentblätterten Rose, zupfte an den verblichenen Bändern und begann, neben dem Braunen herzulaufen. Gerhard bat sie, zurückzubleiben und nachzukommen; sie knixte und warf Kußhände, während er eiligst davonritt. – »Der alte Fluch geht wieder um«, murmelte er; »und niemand kann ihn bannen.«
Der Weg mündete im dichtesten Forst auf eine Lichtung, an deren Rande, von den Riesenbäumen hoch überragt, die altertümliche Försterei lag: das auf den Giebeln mit Hirschgeweihen geschmückte Wohnhaus und ein paar Nebengebäude, zusammen ein kleines Gehöft bildend, das nach dem Wege hin mit einer niedrigen, grün überwucherten Mauer, durch die eine Lattentür führte, geschlossen war. Auf dem Hofe vor dem Hause unter den dicken Kastanien stand ein Wagen, vor dem eben Johann Ewers die Pferde heranführte. Das Fräulein könne nicht länger warten, von wegen des Herrn, der heute wieder recht krank sei; wären auch schon in Kantzow gewesen; Fräulein werde sich so freuen, daß der Herr Baron nun doch gekommen.
Edith trat aus dem Hause; sie eilte die Stufen herab auf ihn zu; er hielt sie umschlugen; sie lehnte weinend den Kopf an seine Brust: »Endlich, endlich! Wie habe ich mich nach dir gesehnt!«
Er vermochte kein Wort zu erwidern; er konnte nur noch denken, daß, wenn sie sich wirklich trennen müßten, dieser Augenblick der letzte seines Lebens sein möchte.
Der Förster stand in der Tür; Edith entzog sich Gerhards Armen ohne Hast und winkte dem Förster, der im Begriff war, sich zurückzuziehen: »Bleiben Sie, mein Freund! Ich habe keine Geheimnisse vor Ihnen.«
Der Förster drückte kräftig die Hand, die Gerhard ihm entgegenstreckte. Gerhard sagte ihm in wenigen Worten, daß er die Erlaubnis des Pastors und des Landrats mitbringe.
»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, erwiderte der Förster; »es wäre auch gar zu traurig gewesen, wenn mein armes Kind nicht einmal Ruhe in ihrem Grabe gehabt hätte. Wollen Sie die Stätte sehen?«
»Wir waren sicher, daß man dir nichts abschlagen würde«, sagte Edith, während sie durch das Haus nach dem Garten gingen; »ich mußte zum Vater zurück, und Herr Garloff meinte, du kämest vielleicht erst sehr spät; da haben wir sie denn vor einer halben Stunde bestattet.«
Aus dem kleinen, sorgfältig gepflegten Garten gelangte man in ein Tannenwäldchen, dessen Dunkel hier und da durch eine Birke erhellt wurde. Aus einem runden Platze hob sich eine Edeltanne hoch empor, die, ihr starkes Gezweig nach allen Seiten ausbreitend, den offenen Raum beinahe überdachte. An dem Fuße des herrlichen Baumes war der Grabhügel bereits geschüttet, den ein alter Mann, welchen Gerhard nach seiner Kleidung für einen Gehilfen des Försters nahm, mit ausgestochenen Rasenstücken bekleidete. Der Alte zog die Mütze, machte sich dann aber gleich wieder an seine Arbeit; der Förster sprach leise zu ihm, wozu der Alte von Zeit zu Zeit nickte. Edith hatte auf das Kopfende des Hügels, der schon fertig war, Blumen gestreut, die sie aus einem dastehenden Korbe nahm; Gerhard folgte ihrem Beispiele; aber sein Herz war nicht bei der Schlafenden da unten. Ediths Worte: ich habe keine Geheimnisse vor Ihnen, hatten ihn peinlich berührt. Sie mochte ja nur ihr Verhältnis gemeint haben, von dem der Förster wohl bereits gestern durch den geschäftigen Vadder Deep gehört, oder sie selbst ihm aus diesem oder jenem Grunde Mitteilung gemacht. Aber wenn er den Worten eine andere Bedeutung beimessen mußte? wenn Edith wußte, was vor ihr verborgen zu halten sein Sinnen und Trachten und Mühen alle diese Tage hindurch gewesen war?
Der Förster hatte das leise Gespräch mit dem Gehilfen beendet und sich zu ihnen gewandt. – »Es ist Zeit, Fräulein Edith«, sagte er.
»Ich bin im Begriff«, erwiderte Edith, und dann zu Gerhard: »Herr Garloff bittet dich, ihm eine halbe Stunde zu schenken. Hernach erwarte ich dich, der Vater sehnt sich so sehr nach dir und –«
Sie hatte seine beiden Hände ergriffen und starrte ihm angstvoll in die Augen. »Du bist krank!« rief sie.
»Ich bin nicht krank«, sagte Gerhard; »geh! ich komme bald.«
Edith stand zweifelnd; des Försters Blick ruhte prüfend auf Gerhard.
»Ich bin nicht krank!« wiederholte Gerhard ungeduldig; »aber die Minuten sind kostbar; du darfst den Vater nicht länger allein lassen.«
»Ich begleite den Herrn Baron nach Kosenow«, sagte der Förster.
»Ich schicke den Wagen zurück«, rief Edith.
Sie hatte sich entschlossen losgerissen und eilte aus dem Wäldchen durch den Garten in das Haus. Gleich darauf hörten die Zurückgebliebenen das Geräusch des Wagens.
»Kommen Sie hinein, Herr Baron«, sagte der Förster; und dann Gerhards stumme, bange Frage beantwortend, mit leiser, mitleidsvoller Stimme: »sie weiß es nicht.«
Er hatte Gerhards Arm ergriffen und führte den mechanisch Folgenden in das Haus.