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In tiefster Erregung, welche von den Mitteilungen des Försters in seiner Seele nachzitterte, mochte Gerhard eine Viertelstunde schärfsten Trabes durch den Tann geritten sein, als er, aufschauend, plötzlich den Braunen anhielt. War er denn auf dem Wege nach Kosenow? er hätte in dem Tempo längst aus dem Seitenwege, der zum Forsthause führte, auf dem Hauptwege, ja, in Kosenow selbst sein müssen, und er befand sich noch immer im dichtesten Walde auf einem vielgewundenen Pfade, aus dessen durchweichtem Boden der schnaufende Braune mit Mühe die Hufe zog.
Gerhard hatte zu wenig Gelegenheit gehabt, den Wald zu durchschweifen und kennenzulernen, als daß er sich, nachdem er einmal aus der Richtung gekommen, so leicht hätte orientieren können. Jedenfalls war er in diesem Reviere nie zuvor gewesen, denn nirgends, auch nicht um die Hünengräber herum, hatte er so mächtige, hochragende Tannen gefunden, als unter denen er jetzt dahinritt, nachdem er sich aus dem Schlamme des Pfades im Dickicht herausgearbeitet. Der Boden war durchaus trocken; dafür aber auch der Weg völlig verschwunden, und indem er nun zwischen den dicken Stämmen bald rechts, bald links durchzukommen suchte und hier um eine kleine Insel von Unterholz sich wenden, dort um einen Baum, den der Sturm der letzten Tage niedergeworfen, lenken mußte, konnte er nach wenigen Minuten nicht mehr zweifeln, daß er sich völlig verirrt habe.
Was seine Situation wahrhaft bedenklich machte und seine Ungeduld vermehrte, war, daß die Dunkelheit von allen Seiten zugleich den Wald einzuhüllen begann, trotzdem seine Uhr, wie er eben noch erkennen konnte, erst auf acht wies. Freilich mußte die Nacht unter den Riesenbäumen früher anbrechen, zumal die schwarzen Wolken fast die Wipfel streiften. Nur daß es nicht so eigentlich mehr Wolken waren, sondern ein dichter, schwarzgrauer, wallender, jagender Dunst, aus dem sich dann und wann eine dunklere Masse abhob, deren Bewegung und Richtung man zur Not erkennen mochte. Der sturmartige Wind war den ganzen Tag streng östlich gewesen. Kosenow lag vom Forsthause südöstlich. Er ritt dann freilich eben genau in der entgegengesetzten Richtung, also ungefähr auf Bulitz oder Retzow zu, aber es war am Ende besser so: er durfte hoffen, schneller in ein Terrain zu kommen, das er genau kannte; der Braune hielt sich wacker, das jetzt Versäumte ließ sich, sobald er erst wieder auf dem rechten Wege, durch verdoppelte Eile ungefähr wieder einbringen, und sein waidmännischer Instinkt sagte ihm, daß der Schlag Hochwald bald zu Ende sein und er dann auf einen Weg oder eine Schneise kommen müsse; und da, ehe er's sich noch versehen, war ein Weg und – er hatte richtig kalkuliert – der Weg, der ihn in wenigen Minuten aus dem Walde und auch alsbald nach Retzow führen würde.
Zwar brauchte er jetzt nur wieder umzukehren, denn diesen Weg durch den Wald kannte er; es war derselbe, den er heute morgen hatte reiten wollen, um nicht zu früh nach Kosenow zu kommen. Aber eben deshalb, weil es der längere, tat er besser, über Retzow zu reiten. Und er brauchte gar nicht einmal bis dahin; er konnte, wenn er sich, die Schwanenwiese zur rechten, links am Waldessaume hielt, auf den Fahrweg gelangen, der von Retzow an den Hünengräbern vorüber fast in gerade Linie auf Kosenow lief.
Gerhard hatte das alles ruhig bedacht, um diesmal seiner Sache sicher zu sein. Ein abermaliger Irrtum wäre jetzt um so unbequemer gewesen, als es eben wieder zu tröpfeln begann: vom Tröpfeln zum wolkenbruchartigen Regen war heute nur ein Schritt.
Und dann – die Schwäche, die ihm im Laufe des Tages wiederholt so peinlich gewesen, überkam ihn abermals und stärker, als je zuvor. Die Kopfwunde, die er gar nicht beachtet, begann heftig zu schmerzen, während ihm seltsam-unheimliche Schauer den Rücken hinabrieselten. Er mußte sich gestehen, daß er sich nicht allzulange mehr im Sattel werde halten können.
Er warf einen langen, prüfenden Blick zum Himmel. Was war das? Vor ihm, wenn auch weiter südlich, traten plötzlich die zerrissenen Ränder einer ungeheuren schwarzen Wolke hervor in einem schmutzig rötlichen Lichte, das alsbald die breite Masse zu erhellen begann. Die Helligkeit breitete sich mit jeder Sekunde weiter und wurde in demselben Maße intensiver: kein Zweifel, es brannte auf einem der benachbarten Güter!
Gerhard hatte kaum diese Überzeugung gewonnen, als er seine Schwäche, seine Schmerzen nicht mehr fühlte und dem Braunen die Sporen in die Flanken stieß. Galt es doch dem Feinde, vor dem jeder Landmann eine nur zu begründete Furcht, gegen den er den tiefsten Abscheu hat! Und mit jedem Sprunge des Pferdes wurde es ihm mehr zur Gewißheit, daß es Kantzow war, welches brannte – Kantzow, das in diesem Augenblicke von Herrn und Herrin verlassen! von ihm verlassen war, dessen Obhut man es anvertraut! auf dem sich kein Mensch befand, der irgend eine Autorität ausüben oder auch nur beanspruchen konnte – es hätte denn Salchen sein müssen, oder der kaum zurechnungsfähige Unterinspektor!
Oder sollte er sich doch irren? nicht in der Richtung, aber in der Entfernung des Feuers? Indem jetzt die Tannen, durch die er dahinjagte – auf die Gefahr, mitsamt dem armen Braunen Hals und Beine zu brechen – immer kleiner wurden, hätte die Helligkeit nach dem Horizont zu wachsen müssen, während sie dort entschieden abnahm, ja, höher in den Zenit zu steigen schien. Und selbst, wenn es in Camerow oder Lassow, die in derselben Richtung lagen, brannte, war dies Phänomen unerklärlich. Vielleicht, daß die Dichtigkeit der Dunstmassen, welche die unteren atmosphärischen Schichten erfüllten, dem Lichte nur nach oben auszustrahlen verstattete!
Nun hatte er den Rand des Waldes erreicht – dieselbe Ecke, hinter welcher heute morgen der Wagen, der die Leiche Anna Garloffs trug, in dem Walde verschwand. Vor ihm lag die Schwanenwiese, jenseits Retzow; links südlich Kantzow: er hätte jetzt das Feuer sehen müssen! Es war wohl ein matter Schein in den unteren Wolkenschichten nach der Seite, aber das war nur ein Widerschein der Wolke oben – wie diese nur den Widerschein eines Feuers zurückwarf, das ihm bis dahin der Hochwald verdeckt hatte, und das er nun deutlich über den Wipfeln sah, die sich dunkel davon abhoben.
In jähem Entsetzen starrte er hin.
Vergebens, daß er sich sagte, er habe sich bereits einmal geirrt und könne sich wieder irren; – der Trost wollte nicht verfangen; sein Herz klopfte schneller und schneller, wie er jetzt, so oft er sich im Sattel wandte, bemerkte, daß der Schein heller und heller wurde und sich allmählich über den ganzen östlichen Horizont breitete. Und jetzt sah er auch deutlich die einzelnen feuerdurchleuchteten Rauchwolken, die emporqualmten und von dem Winde seitwärts über den Wald getrieben wurden. Die Situation war völlig klar: er konnte keinen Augenblick länger daran zweifeln, daß diese Feuerwolken von den Scheunen und Ställen in Kosenow, vielleicht von dem Herrenhause selbst aufstiegen.
Und in dem Moment, wo ihm diese Gewißheit kam, hatte er die volle Überlegung und Ruhe wiedergefunden. Er erinnerte sich, gehört zu haben, daß die Löschvorrichtungen in Kosenow durchaus unzureichend seien; wie er sich durch eigenes Anschauen überzeugt, daß sich eine neue, vortreffliche Spritze nebst allen nötigen Apparaten in Retzow befand. Deep würde sich nicht beeilen, dem bedrängten Nachbargute zu Hilfe zu kommen: er war der Mann danach, Kosenow abbrennen zu sehen, ohne den Finger zu rühren! aber, wie die Sachen lagen: einer direkten Aufforderung von seiner Seite würde der Mann entschieden Folge leisten. Es handelte sich um einen Umweg von höchstens fünf Minuten.
Als wüßte der Braune, was es gelte, flog er auf dem sandigen Wege am Waldsaume hin, dann rechts den Feldweg nach Retzow. Nur im Vorüberjagen hatte Gerhard den Schwanensee gesehen, an dessen Rande sich die Weiden gespenstisch abhoben von dem Wasser, dessen noch immer bewegte Fläche unheimlich flimmerte: da tauchten auch schon die Gebäude von Retzow auf, da hielt er vor der Tür. Drüben an der Scheune stand ein angespannter Wagen – eine Chaise, wie es schien, sonst regte sich nichts auf dem Hofe.
Er hatte sich aus dem Sattel geschwungen und den Zügel durch den Ständerring gezogen. Den Ständer hatte er eben noch gesehen, den Ring mußte er durch schnelles Tasten finden; so stark dunkelte es bereits in dem Schatten des Hauses und der alten Linden, durch deren dichtes Gezweig der Wind sauste. Eine breite Gestalt trat in die halb offene Tür und wollte sich, schnell, wie sie herausgetreten, zurückziehen. Im Nu war Gerhard auf den Stufen, unmittelbar vor der breiten Gestalt.
»Es brennt in Kosenow, Herr Deep! ich muß mich wundern, daß Sie noch hier sind und, so muß ich annehmen, auch Ihre Wagen und Leute. Es ist keine Sekunde zu verlieren!«
»Ah, der Herr Baron!« sagte Vadder Deep in dem Tone jemandes, der eben erst den, der zu ihm spricht, an der Stimme erkennt, »– wo kommen denn Sie her? Ich bin es nur just gewahr geworden, dachte, es sei in Zulitz! Will gleich den Leuten Bescheid sagen und anspannen lassen – komme selbst mit – in zehn Minuten spätestens! Reiten Sie nur getrost hinüber – in zehn Minuten!«
»Ich bleibe solange – der Braune muß sich verschnaufen. Eilen Sie, Herr Deep!«
»Da sind die Leute schon«, sagte Vadder Deep.
In der Tat kamen aus der zerfallenden Spelunke, die in Retzow als Leutehaus galt, ein paar Männer, welche der mit jeder Sekunde heller werdende Schein herausgelockt hatte.
»Es brennt in Kosenow!« rief Gerhard ihnen entgegen; »die Spritze und die Wagen heraus! Zwei Louisdor, wer zuerst vom Hofe kommt! und dem Spritzenmann vier!«
Die Männer mochten die Stimme des jungen Barons, der in Kantzow jetzt allmächtig war, erkannt haben; und Vadder Deep stand bei dem Baron – es hatte also mit den Louisdors seine Richtigkeit, und Vadder Deep ließ den Baron hier kommandieren, wie er in Kantzow kommandierte; da konnte man das halbausgetrunkene Schnapsglas schon im Stiche lassen; bei einem Feuer gab's Schnaps vollauf!
Andere dunkle Gestalten tauchten auf: Rufe und Gegenrufe – Rennen und Laufen hierhin, dorthin – nach den Ställen, zu den Wagen, die in einer Ecke des Hofes nebeneinander aufgefahren waren – nach der Scheune, wo die Spritze und die Wasserkufen standen –
»Sie sehen, die Leute haben den besten Willen«, sagte Gerhard; »wenn eine Säumnis eintritt, mache ich Sie dafür bei dem Herrn Grafen verantwortlich.«
Gerhard hatte es, ungeduldig und zornig über Vadder Deeps Langsamkeit, der sich noch immer nicht von der Schwelle gerührt, in lautem, drohendem Tone gerufen. In den dunkeln Flur fiel ein Lichtstreifen aus der Tür einer Hinterstube, die eben halb geöffnet wurde. Gerhard sah die undeutliche Silhouette einer Frau, die einen gellenden Schrei ausstieß. In demselben Moment wurde die Frau aber bereits von jemand, der hinter sie getreten, zurückgerissen und die Tür wieder zugemacht. Gerhard stürzte nach der Tür. Die, welche den Angstschrei ausgestoßen, mußte die arme Wahnsinnige sein! Er hatte sie ihm nachlaufen sehen; sie war dann weiter gerannt quer durch den Wald und – so oder so – in Deeps grausame Hände gefallen! Die Chaise draußen war die, aus der sie gestern nacht Jochen Schnut entsprungen war; Jochen Schnut war's, der sie in jenem Zimmer festhielt.
Gerhards eilender Fuß war in dem dunkeln Flur an irgend einen Gegenstand gestoßen; bevor er die Tür erreichte, hatte Deep ihn eingeholt. Mit einer Kraft, die er dem Alten nimmer zugetraut, warf er sich ihm entgegen und suchte ihn von der Tür wegzudrängen. Es gelang für ein paar Momente; dann hatte ihn Gerhard auf die Seite geschleudert und die Tür aufgerissen. Das Gemach war hell genug durch eine Lampe, die auf dem Tische vor dem Sofa brannte, erleuchtet, dennoch traute er seinen Augen kaum: an dem Tische stand Julie im Reiseanzug, den Hut auf dem Kopfe, schreckensbleich nach der aufspringenden Tür starrend, während die lange und dünne Gestalt Bagdorfs sich durch das geöffnete niedrige Fenster drängte und sofort in dem Dunkel des Gartens verschwand. Der Gegensatz zwischen dem, was er erwartet, und dem, was er sah, war zu stark: Gerhard brach in lautes Gelächter aus.
»Töten Sie mich lieber!« rief Julie.
Sie hatte sich ihm zu Füßen gestürzt und hielt seine Knie umklammert, während er sich vergeblich von ihr zu befreien suchte.
»Töten Sie mich! Endigen Sie Ihr Werk! Es ist alles Ihr Werk! Nach Ihrem grausamen Brief heute morgen – wie kann ich noch leben!«
»Versuchen Sie's noch einmal mit Bagdorf; vielleicht kommt er wieder zur Tür herein, nachdem er sich aus dem Fenster salviert?«
Abermals wolle er sie von sich abstreifen; sie ließ sich, krampfhaft festhaltend, hin und her durch das Gemach zerren.
»Der Elende!« schluchzte sie; »der jämmerliche Feigling! ich hätte ihn fortgejagt – noch heute nacht – auf der nächsten Station – sobald er mir diesen Dienst getan – der andere hätte mich ja doch freigeben müssen: die Entführte, die Ehebrecherin! – ich hätte ihm seine Schande reich bezahlt – ich bin jetzt reich – ihm ist es ja doch nur um das Geld zu tun!«
Die Tränen flossen ihr in Strömen über das bleiche Gesicht aus den starren, weit aufgerissenen Augen. Es mochte ein Gran von Wahrheit sein in dem, was sie da, vor Schluchzen halb unverständlich, herausstieß. Nur hatte das Stück schon zu oft gespielt und er nicht die Zeit, es, wie die anderen Male, zu Ende zu hören.
Er sagte ihr das mit ruhiger, fester Stimme; sie ließ seine Knie los und stand auf
»So ist's auch mit mir zu Ende«, murmelte sie, nach dem Sofa schwankend.
Aber bevor sie es erreicht, blieb sie stehen, lauschend.
Durch die halb offene Tür über den Flur vernahm man deutlich, wie die Hufe eines Pferdes auf das holprige Pflaster vor dem Hause, dann auf die Trittstufen schlugen. Im nächsten Moment erschallte – noch von der Haustür her – eine laute, zornige Stimme, der eine andere heisere Stimme antwortete; und wieder im nächsten kam's über den Flur schweren, eiligen Schrittes.
»Retten Sie sich!« schrie Julie, mit beiden Händen Gerhard nach dem Fenster drängend, während ihres Gatten Gestalt schon auf der Schwelle stand.
»Diesmal hattet ihr vergessen, die Tür zu verschließen!«
»Ich hatte heute keinen Tür zu verschließen, so wenig wie vorgestern abend«, erwiderte Gerhard; »wenn Ihnen meine Versicherung nicht genügen sollte, werde ich meine Worte vertreten, wie es unter Männern von Ehre der Brauch ist. Für jetzt habe ich in Kosenow Dringenderes zu tun. Und noch eines: ich schlage mich nur mit Gentlemen; Sie werden an dieser Dame zu zeigen haben, daß Sie auf jenen Titel Anspruch machen dürfen.«
Er schritt an Zempin vorüber, die Augen fest auf ihn richtend, den Überraschung, Wut, Unentschlossenheit, oder was immer es war, sprachlos und regungslos machten. – Neben seinem Braunen vor der Haustür stand Zempins gewaltiger Rappe, schnaubend, mit gesenktem Kopfe; die großen Schaumflecken auf Hals und Brust und Weichen konnte Gerhard selbst durch die Dunkelheit erkennen, die in unmittelbarer Nähe des Hauses herrschte, während sonst über den Hof, besonders über die Scheunenwand drüben, an der die Chaise, worin Julie mit ihrem Buhlen hatte fliehen wollen, noch immer hielt, eine unsichere Helligkeit flimmerte. Die Wagen wurden eben angespannt; Spritze und Wasserkufen waren wenigstens hinausgeschoben. Gerhard ritt noch einmal an die Leute heran und wiederholte seine Aufforderung, ihm schleunigst zu folgen und das Versprechen der Belohnung. Mehr konnte er jetzt nicht tun. – »Ich habe schon zu viel Zeit verloren«, sagte er bei sich, während er von dem Hofe dem Walde zusprengte, über dem bis in den Zenit der rote, unten von grauweißen Wolken durchwirbelte Feuerschein stand.