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Der Pfad, welchen Gerhard aufgefunden und den bereits sorgfältig ausgeglichene, aber noch erkennbare Pferde- und Räderspuren als sicher bezeichneten, führte gerade auf den See zu. Er hatte hier nichts mehr zu tun, nachdem er seine Vermutung, das Vadder Deep sein Heu bis auf den letzten Halm ins Trockene gebracht, bestätigt; aber an dem schilfumbuschten Ufer des Sees stand eine Gruppe Weiden; er wollte den Braunen ein paar Minuten in dem Schatten verschnaufen lassen, bevor er den Heimweg antrat.
Schon hatte er sich der Baumgruppe auf wenige Schritte genähert, als er bemerkte, daß zu deren Füßen, hart am Rande des Wassers, den Kopf in beide Hände gestützt, ein Mann saß, der nach dem grünen Jagdkleide und der Flinte, die er zwischen den Knien hielt, zu schließen, der Vater des Mädchens auf dem Hofe von Retzow, der Förster Garloff sein mußte. Schlief der Mann? war er gänzlich versunken in seine Gedanken? hatte der weiche Rasengrund den Hufschlag des Pferdes völlig verschlungen? – er rührte sich noch immer nicht aus der Stellung, als jetzt Gerhard in seiner unmittelbaren Nähe stillhielt. Das glatte, blinkende Wasser, das dichte, ragende Schilf, dessen harte, schwerterscharfe Halme unbewegt standen, als wären sie aus Metall, die hohlen, verkrüppelten Weiden mit den wie in Angst gesträubten Zweigen, an welchen sich keines der graugrünen Blätter bewegte, und unter ihnen die regungslose Gestalt des Mannes, der, gegen alle Jägerart, so gar keinen Sinn mehr zu haben schien für die Außenwelt, daß er einen Reiter bis auf ein paar Schritte an sich herankommen lassen konnte, ohne auch nur aufzusehen – es lag für die gedrückte Seele des jungen Mannes etwas Unheimliches, Grauenhaftes in dieser Situation.
»Guten Tag, Herr Förster!« sagte er, eben laut genug, um die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, falls er nicht wirklich schlief
Aber er mußte geschlafen haben; denn wie er sich nun jäh aufrichtete, blickten die tiefliegenden Augen unter den grauen, buschigen Brauen verwirrt, wie traumumsponnen, zu dem Reiter empor, der höflich grüßend den Hut lüftete und den Mund zu einem freundlichen Worte öffnete, das nicht über seine Lippen kam. Denn urplötzlich ging in dem Gesicht des Mannes eine seltsame Veränderung vor. Die Augen schienen sich aus den tiefen Höhlen drängen zu wollen, die wettergebräunten Wangen wurden erdfahl wie eines Sterbenden, und die eben noch so festen Züge verzerrten sich zu einer schauerlichen Maske des äußersten Entsetzens. Und nun, wie einen Spuk abzuwehren oder einen wirklichen Feind, sprang der Mann auf die Füße, das Gewehr an die Wange reißend. Fast in demselben Moment aber setzte er wieder ab, drückte die Hand vor die Augen, als ob er sich überzeugen wolle, daß er wache. Als die Hand dann wieder herabsank, sah Gerhard ein noch blasses, aber verhältnismäßig ruhiges, tief durchfurchtes, ausdrucksvolles, ja edles Antlitz.
Diese sonderbaren Wandlungen hatten sich so schnell vollzogen, daß Gerhard kaum Zeit geblieben wäre, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen oder zu tun. Aber er hatte in der Tat gar nicht an sich gedacht und beeilte sich nun, den Mann, den sein plötzliches Erscheinen so erschreckt hatte, um Entschuldigung zu bitten. Dann nannte er seinen Namen und fügte hinzu, welches Geschäft ihn hergeführt, und wie er schon längst vorgehabt, den Herrn Förster in seinem Hause aufzusuchen, um das Handwerk zu grüßen, denn er selbst sei ein halber Forstmann, da sein Besitz – genauer der Besitz seiner Familie, den er zu verwalten habe – zum größten Teil aus Bergwald bestehe.
Gerhard hatte mit solcher Ausführlichkeit von sich Rechenschaft gegeben, um den Mann vertraulich zu machen und ihm Zeit zu lassen, völlig wieder zu sich selbst zu kommen. Er schien auch seine Absicht zu erreichen: während er sprach, verschwanden die letzten Spuren von Erregung und Verwirrung aus des Försters Mienen, die nun vielmehr jenen Ausdruck in sich gefaßter Ruhe und Willensenergie annahmen, die man ihm als die charakteristischen Eigenschaften des Mannes bezeichnet hatte. Dabei bemerkte Gerhard, daß er keineswegs so alt sei, wie er ihn sich vorgestellt und wie er ihm im ersten Moment erschienen, wenn auch der bis auf die Mitte der Wangen reichende Backenbart, sowie das kurz geschorene, sehr dichte Haar völlig grau waren. Haar- und Barttracht, der Schnitt der Züge, der soldatische Ausdruck, hatten Gerhard unwillkürlich an die Bilder der Kämpfer aus den Freiheitskriegen erinnert, bevor er, als der Förster den Hut abnahm, die fürchterliche Narbe bemerkte, die aus dem Haar heraus breit und rot quer über die Stirn bis an das linke Auge hinablief und wirklich von ihm, wie zur Erklärung auf Gerhards Blick, als ein lebenslängliches Andenken an den Tag von Waterloo bezeichnet wurde.
Der tiefe, etwas hohle, aber feste Klang der Stimme, die einfache, korrekte Weise sich auszudrücken harmonierten völlig mit der fast vornehmen Erscheinung und der soldatischen Haltung, und Gerhard fand es in diesem Falle noch besonders leicht, seinem Grundsatze zu folgen: jeden Menschen als seinesgleichen zu behandeln. Ja, er fühlte sich ganz entschieden zu einem Manne hingezogen, der so augenscheinlich nicht zu der großen Herde gehörte, und dem er schon um deshalb willigen Anspruch auf seine Teilnahme einräumte, weil er zweifellos unglücklich war. So konnte kein Glücklicher sprechen, so konnte kein Glücklicher blicken! und dann klang ihm noch immer das ›Mein armer Vater!‹ aus dem bleichen Munde der Tochter im Ohr.
Er mochte sich nicht enthalten, bei einer schicklichen Wendung des Gesprächs, das er ohne Aufdringlichkeit fortzuführen wußte, seiner Begegnung mit dem jungen Mädchen zu erwähnen, und es schien ihm kein gutes Zeichen, daß der Förster diese Äußerung nur mit einem schnellen, finster prüfenden Blick erwiderte, wie er denn allem, was nur den Anschein des Persönlichen hatte, geflissentlich auswich, während er auf sachliche Fragen höflich bereitwillige Auskunft gab. Zu Gerhards Verwunderung war er auch mit der thüringischen Waldwirtschaft genau bekannt. Er verdanke diese Kenntnis, sagte er, den paar Büchern, die er besitze, und ein wenig der geringen Beobachtung, die er habe anstellen können, als er nach der Schlacht bei Leipzig durch jene Gegend kam, ja in einem detachierten Jägerbataillon auf der Suche nach abgesprengten Fragmenten der französischen Armee ein paar Tage lang die Kreuz und die Quer durch Gerhards heimische Wälder strich.
»Ich wunderte mich schon«, sagte Gerhard, »daß Sie sofort in mir den Thüringer erkannt hatten.«
»Ich habe das gute Ohr und das treue Gedächtnis des gemeinen Mannes für Dialekte«, erwiderte der Förster; und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Ich lebe ja nur noch im Walde oder meinem stillen Hause und habe Jahre meines Lebens in völliger Einsamkeit verbracht; da behält man zuletzt selbst die einzelnen Stimmen über Jahrzehnte weg – wie gern man sie auch manchmal vergäße.«
Er schien unzufrieden mit sich, daß er sich zu so intimen Äußerungen hatte verleiten lassen, und schritt nun, die Entfernung zwischen sich und Gerhard um etwas vergrößernd, die Augen auf den Boden heftend, schweigend weiter; hier und da schleuderte er einen dürren Zweig, der über den Weg gefallen, auf die Seite, oder zögerte bei einer Stelle, wo die Holzwagen allzu tiefe Furchen in den weichen, schwarzen Boden geschnitten, ein paar Momente.
Man war längst im Walde, durch den der Förster einen etwas längeren, aber, wenigstens soweit der Wald reichte, völlig beschatteten Weg zu führen versprochen hatte. Jetzt lenkte er aus dem schmalen, vielfach gewundenen Pfade auf eine breite Schneise, und sie hatten bereits eine kleine Strecke darin zurückgelegt, als er plötzlich stehenblieb, um gerade vor sich in die Schneise hinabzustarren, die noch mehrere hundert Schritte in gerader Linie vor ihnen herlief.
Daß der Förster in seinem eigenen Revier den Weg verloren, war undenkbar; da Gerhard in der ganzen Schneise nicht das mindeste Auffallende entdecken konnte und doch auch nicht fragen mochte, blieb er für die Erklärung eines so seltsamen Betragens – denn der Förster stand noch immer unbeweglich – auf bloße Vermutungen angewiesen. Die zunächstliegende war, der Mann sei, wenigstens zeitweise, geistig gestört, was ja denn auch sein Benehmen bei der ersten Begegnung und zugleich den Kummer der Tochter erklären mochte. Dennoch sagte Gerhard eine Stimme, daß diese Annahme falsch sei. In dem Benehmen des Mannes war ihm immer fühlbarer etwas entgegengetreten, was ihn mit Achtung, ja mit einer Ehrfurcht erfüllte, wie er sie nicht allzu häufig vor einem Menschen empfunden: der Stempel eines besonderen Schicksals, das Zeichen eines ungewöhnlich großen Unglücks, das den Mann von den Reihen der übrigen absonderte und in die Einsamkeit bannte, um dort mit Gedanken zu leben, die das Haar vor der Zeit bleichten, mit Erinnerungen, die manchmal für sein inneres Auge sichtbare Gestalt annahmen.
Der seltsame Mann drückte die Hand gegen die Augen, gerade wie vorhin, nachdem er auf ihn angeschlagen, und sagte dann emporblickend:
»Es sind hier ganz in der Nähe, fast auf unserem Wege, ein paar recht wohlerhaltene Hünengräber. Würde es Sie wohl interessieren, die zu sehen?«
Hatte er über die einfache Frage so lange nachgedacht? Gerhard war überzeugt, daß es nicht der Fall war, daß ganz etwas anderes durch die Seele des Mannes gezogen. Immerhin! vielleicht bekam er einmal des Mannes wahres Gesicht zu sehen, wenn er vorläufig die Maske für das wahre Gesicht nahm.
»Gewiß!« erwiderte er, »ich habe bereits von den Hünengräbern sprechen hören; man beabsichtigt, wenn ich nicht irre, auf dem Platze eine Gesellschaft zu geben, ein Fest zu arrangieren.«
»Wer beabsichtigt das, wenn ich fragen darf?«
»Die ganz Nachbarschaft, soviel ich weiß; die Anregung geht wohl von Kantzow, ich meine, von Frau Zempin aus.«
»Und wann sollte das stattfinden?«
»Ich glaube, bereits in den nächsten Tagen.«
»Ist man um die Erlaubnis bei dem Herrn Oberförster eingekommen?«
»Bedarf es einer solchen?«
»Unzweifelhaft! Die Hünengräber liegen in einer Ecke des Forstes, die dort, wo die Schneise endet, von dem Wege aus, der von Retzow nach Kosenow geht, nach Süden in die Feldmarken von Kantzow und Kosenow hineinschneidet. Es sind ungefähr fünfhundert Morgen Hochwald, über die nun bereits seit mehreren Jahren zwischen dem Fiskus und den beiden Herren Zempin prozessiert wird. Früher wurde das Terrain zu dem Zempinschen Besitz gerechnet; aber der Herr Landrat will aus alten Plänen und Akten herausgefunden haben, daß es zur schwedischen Zeit Kronwald war und als solcher auch in die Hand der preußischen Regierung übergehen mußte. Die Regierung hat den Prozeß in erster Instanz gewonnen, und bis die zweite Instanz entschieden hat ist der Fiskus, wenn nicht Eigentümer, so doch Verwalter, und die Handhabung der Polizei steht bei ihm.«
»Und Ihr Herr Oberförster?«
»Würde schwerlich die Erlaubnis geben, bevor der Herr Landrat dafür gewonnen ist.«
»Ah so, und Sie selbst dürften selbstverständlich nicht durch die Finger sehen.«
»Ich pflege meine Pflicht buchstäblich zu nehmen und auszuführen; ich würde es tun, auch wenn es nicht die einzige Möglichkeit wäre, wie ein Mann in meiner Lage durchs Leben kommen und es ertragen kann.«
Der Förster brach ab und vergrößerte wieder den Raum zwischen sich und dem Reiter. So gelangte man schweigend bis an das Ende der Schneise. Dann ging es links ein paar Schritte auf dem Waldwege, bis zu einer Stelle, wo rechts zwischen den weniger dicht stehenden gewaltigen Stämmen eine kleine Lichtung sich öffnete.
Man war angelangt. Gerhard fragte, ob er absteigen und das Pferd zurücklassen solle; der Förster verneinte es; das Terrain bleibe eben, und er beabsichtige, den Herrn hernach durch den Tann bis an die hier sehr nahe Lisiere zu führen.
Er schritt voran, Gerhard folgte in einer sonderbar erwartungsvollen, ja feierlichen Stimmung. Es war so still unter den Riesenbäumen, deren schlanke Wipfel kein Lufthauch regte, aus deren dichtem Gezweig kein Vogellaut tönte. Dann und wann nur das leise Knacken eines trockenen Zweigleins unter den Hufen des Pferdes, die sonst unhörbar in den dicken Moosteppich sanken. Und oben blaute der Himmel so hoch, als stehe er hier weiter von der Erde; und der Sonnenschein, der hier und da auf die gewaltigen Säulen der Stämme glitt oder auf dem übersponnenen Boden lag, war matt und gedämpft, als ob er durch gemalte Kirchenfenster fiele.
Nun betraten sie die Lichtung selbst, einen fast ovalen Raum von mäßigen Dimensionen, in dessen Mitte sich die beiden Gräber türmten, welche sofort Gerhards Interesse in vollen Anspruch nahmen. Es waren die ersten, die er sah, und sie waren so wohlerhalten, daß sie ein vollkommen klares Bild der ursprünglichen Anlage gewährten. Ja, man durfte wohl mit Fug behaupten, daß wenigstens die kolossalen Blöcke, die, vier oder fünf an der Zahl und von oben nach unten an Größe allmählich abnehmend, die eigentlichen Gräber belasteten seit den Tagen, da jener Vormenschen starke Hände sie hier aufgerichtet, um keinen Zoll von der Stelle gerückt waren, wenn sie auch tiefer eingesunken sein mochten, oder der Boden sich um sie her erhöht hatte. Von den kleineren Steinen, welche als Umfriedung die größeren umgaben, lag wohl einer und der andere nicht mehr ganz auf seinem alten Platze; doch war auch der kleinste so mächtig, daß, wer immer sich an ihm versucht, bald genug davon abgestanden, wenigstens konnte man die ursprüngliche Anordnung noch überall erkennen. Die Blöcke und Steine, zwischen denen hie und da Ginster und Farren hoch aufgeschossen, waren fast überall mit einer dichten Moosdecke überzogen, nur der eine, größte, an dem Kopfende des bedeutenderen der beiden Gräber, war nach der Außenseite völlig kahl, wie Gerhard bemerkte, während er mit seinem Gefährten die ehrwürdige Stätte langsam umkreiste.
«Ist es doch, als ob die Stelle einer Inschrift harrte«, sagte er.
»Harrte? nur harrte?« erwiderte der Förster; – »für mich ist sie beschrieben, und ich lese, was da geschrieben steht, sehr deutlich – nur allzu deutlich!«
Gerhard, der abgestiegen war und den Braunen am Zügel führte, blickte erstaunt den Förster an. Die Stimme des Mannes hatte so seltsam schmerzlich und feierlich zugleich geklungen, daß dem Hörer auch nicht für einen Moment die Annahme wiederkam, er habe es doch mit einem Irrsinnigen zu tun. Es gab nur eine Auslegung der wunderlichen Worte: die Stätte war dem Manne durch eine Erinnerung – ob geweiht oder verflucht? – wer mochte es entscheiden! – merkwürdig auf jeden Fall. Gerhard hütete sich, eine Frage zur tun, die freilich nahe genug lag, auf die er aber sicher eine ausweichende Antwort erhalten hätte.
So sprach er denn lieber von dem mutmaßlichen Alter der Gräber, von dem wohlerhaltenen Zustande, und ob sie wohl jemals geöffnet wären? Der Förster meinte: nein; der Anschein spräche dagegen; überdies habe früher kaum jemand den Ort gekannt, da noch vor einem Menschenalter der Wald sich viel weiter nach Süden gezogen und erst von den Zempins, dem Vater und den Söhnen, so weit abgerodet sei. Es habe auch, bei der Gleichgültigkeit der Menschen dieser Gegend gegen alles Historische, schwerlich irgend jemand ein Interesse an diesen Dingen gehabt, bis neuerdings der Herr Landrat einen besonderen Eifer nach dieser Richtung an den Tag gelegt. Ja, er – der Förster – möchte vermuten, daß gerade der Wunsch, die Gräber öffnen zu dürfen, wozu er die Erlaubnis bei den Herren Zempin nachgesucht und nicht erhalten, die Veranlassung für den Herrn Grafen gewesen, weshalb er den alten, halb vergessenen Rechtsstreit aufs neue angefacht habe.
»Ich meine«, sagte Gerhard, »es wird die Regierung schließlich doch den kürzeren ziehen, wenn ich Sie recht verstanden, und die Herren Zempin so lange Jahre im unangefochtenem Besitz des Waldes gewesen sind. Nach meiner Auffassung sind infolgedessen die Ansprüche des Fiskus als verjährt zu betrachten.«
»Unangefochten war der Besitz nie«, erwiderte der Förster; »und verjährt?«
Er stand vor jenem großen Stein; seine Augen blickten starr auf die kahle Fläche, die für ihn beschrieben war:
»Verjährt? was verjährt denn? verjährt der Axthieb, den der ungeschickte Holzfäller in den jungen Stamm tat? nimmermehr! er wird nicht das, was er ohne den Hieb geworden wäre, auch wenn er ihn scheinbar verwindet: nicht so stark, nicht so hoch, und sehr wahrscheinlich ein verkrüppelter, unscheinbarer Baum, der kein Nutzholz gibt und nur noch dazu taugt, verbrannt zu werden. Verjährt die Wunde des angeschossenen Hirsches? Auch wenn er nicht ins Dickicht kriecht und verreckt und die Füchse ihn fressen – er bleibt ein Kümmerer: wir sehen's eine Zeitlang an, und daß er nicht wieder wird, und schießen ihn aus Mitleid vollends tot. Ist der Menschenleib aus anderem Stoff? Wir verbinden und bepflastern die Wunde – nun ja! und sie heilt auch und vernarbt auch, und nach dreißig Jahren zuckt's und brennt's in der alten Wunde. Und des Menschen Seele? des Menschen Herz? was verjährt denn da? die kleinste Unbill nicht, die man uns angetan, als wir noch ein Kind waren! die geringste Freundlichkeit nicht, die man uns erwiesen; keine heilige und keine unreine frevle Regung, keine gute und keine böse Tat! Und der Welt gegenüber? mag das Gesetz auch einmal ein Auge zudrücken und tun, als ob es vergäße, vergessen könnte – das wirkliche Leben starrt dich an mit grassen Augen, die sich nimmer schließen, und lächelt höhnisch, so du von Vergessenheit sprichst. Ist nicht die Zukunft das Kind des Heute, wie das Heute das Kind des Gestern? übernimmt nicht eines die Erbschaft des anderen? muß sie übernehmen, es mag wollen oder nicht? muß Gott selbst nicht die Sünden der Väter an den Kindern rächen bis ins vierte Glied? Ins vierte nur? da wär er gnädiger gegen die Menschen, als wir gegen die Tiere sind. Hören Sie den Falken? Der erste selbständige Schuß, den ich tat hier in diesem selben Walde – vor fünfzig Jahren, und ich war damals eben sieben – war auf einen Falken; denn mein Vater hatte mir gesagt, daß der Falke ein Räuber und ein Mörder sei, und der Forstmann verpflichtet, ihn zu töten, wo er ihm zum Schuß komme. Und ich schoß den Falken tot auf dem Gipfel der Eiche, in der sein Horst war. Aber die Jungen waren bereits flügge, und bei dem Schuß flatterten sie aus dem Horst in den Wald hierhin und dorthin. Und übers Jahr gab's wieder Falken und waren wieder Räuber und Mörder. Was konnten sie dafür? was tue ich, als meine Pflicht, wenn ich den da totschieße, wie die anderen auch?«
Der Falke, dessen Schrei sich wiederholt aus immer größerer Nähe hatte vernehmen lassen, kam eben über die Lichtung gestrichen, ohne die drohende Gefahr zu ahnen, als bis es zu spät war. Denn schon hatte der Förster das Gewehr im Anschlage, der Schuß krachte, und im Bogen sauste der Falke herunter in das Moos, das er, verendend, noch ein paarmal mit den langen Schwingen schlug. Der Förster nahm den toten Vogel auf und betrachtete ihn aufmerksam, bevor er ihn in seine Jagdtasche steckte, während Gerhard einige Mühe hatte, das erschrockene Pferd zu beruhigen. Der Förster entschuldigte sich:
»Ich hätte daran denken sollen«, sagte er; – »um so mehr, als ich das Pferd kenne; aber ich war ein unbequemer Mensch von jeher, und das Unglück und die Einsamkeit haben nichts daran gebessert.«
Ein flüchtiges, unsäglich schwermütiges Lächeln sänftigte für einen Moment den strengen Ernst der Züge; Gerhard wurde lebhaft an das blasse Gesicht der Tochter erinnert, die sonst dem Vater wenig ähnlich sah. Er dankte dem Förster für seine Begleitung, die er nun nicht weiter in Anspruch zu nehmen brauche. Dann bot er ihm, bereits vom Pferde herab, die Hand. Übersah der Förster die Bewegung, oder wollte er sie nicht sehen? Jedenfalls faßte er nur militärisch an seine Dienstmütze, bevor er das Gewehr, das er wieder geladen, über die Schulter hing und, sich wendend, gesenkten Hauptes über die Blöße davonschritt, während Gerhard in der entgegengesetzten Richtung nach Süden durch den immer lichter werdenden Wald auf das freie Feld und den Weg nach Kantzow lenkte.