Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Neuntes Kapitel.

Mehrere der Wetterbeobachter vor dem Hause hatten Gerhard begleitet, da die Wolkenwand, anstatt heraufzuziehen, beinahe schon hinter dem Dache der gegenüberstehenden Scheune versunken war. Es dauerte nicht lange, als sich so ziemlich sämtliche Herren auf dem Schießplatze eingefunden. Auch mehrere Damen waren gekommen, um mit geschlossenen Augen und abgewandten Gesichtern ein paar Kugeln zu verschießen, deren Spur auf der Scheibe, trotz des eifrigen Suchens der jungen Herren, nicht aufgefunden werden konnte. Dann waren sie, Arm in Arm, wieder davongeflattert, zur großen Befriedigung Herrn Zempins, der alle seine Liebhabereien ernsthaft nahm und so auch das Pistolenschießen, das, wie er sagte, nun einmal kein Kinderspiel und ebensowenig ein Damenspiel sei, was übrigens nach seiner Ansicht so ziemlich auf dasselbe hinauskomme.

Herr Zempin hatte den Rock ausgezogen und die übrigen Herren – da man doch einmal unter sich sei – gebeten, seinem Beispiel zu folgen. Er ging gern in Hemdsärmeln – wie Stude behauptete, um seine gewaltige Gestalt zu bester Geltung zu bringen –; aber heute war es nicht Eitelkeit und nicht Bequemlichkeit allein. Gerhard sah auf den ersten Blick, daß für dieses Mal der Riese die Wirkung des Weines, von dem er sonst völlig unberührt blieb, verspürte. Sein Gesicht glühte, und während die Säcke unter den Augen stärker heraustreten, schienen die Augen selbst kleiner geworden zu sein und einen anderen, herberen, schärferen, weniger offenen, ja manchmal fast wilden Ausdruck zu haben, den Gerhard nie zuvor bemerkt hatte, und der auch jedesmal abnahm oder völlig schwand, sobald Herr Zempin sich zu ihm wandte. Und das geschah sehr oft und immer mit der ritterlichen Höflichkeit, die dem Manne so wohl stand, und die er in dem Verkehr mit ihm noch stets herausgekehrt. Ja, Gerhard mußte bemerken, daß diese Höflichkeit heute etwas besonders Verbindliches und Herzliches hatte und so allerdings in den schärfsten Gegensatz trat zu den Schroffheit und Herbheit, mit der Herr Zempin einige andere aus der Gesellschaft behandelte, und seltsamerweise gerade solche, die er sonst völlig zu ignorieren schien, wie den schönen Schweden und den Studiosus Benz. Dem ersteren erklärte er mit einer Ironie, die nur zu durchsichtig war, daß es beim Pistolenschießen unzweifelhaft weniger auf eine zierliche oder gar gezierte Haltung ankomme, als darauf, daß man ein scharfes Auge und eine feste Hand habe, und daß der Herr Doktor vielleicht besser täte, beide noch ein wenig zu üben, bevor er mit firmen Schützen auf den Stand trete; – dem Herrn Studiosus, der sich allerdings auffallend ungeschickt anstellte, nahm er sogar die Pistole aus der Hand: wenn der Herr Studiosus durchaus jemand totschießen wolle, so müsse er, als Wirt, ihn doch im Interesse seiner übrigen Gäste ersuchen, daß er dann wenigstens mit sich den Anfang mache.

Vergebens bat ihn Gerhard, zuerst mit Blicken, und als diese unbeachtet oder unverstanden blieben, indem er ihn auf die Seite zog, mit ein paar freimütigen Worten, zu denen er in seiner herzlichen Teilnahme die Berechtigung fand, ein Spiel aufzugeben, das ihn allzusehr zu erregen scheine.

»Im Gegenteil«, erwiderte Herr Zempin; »ich muß heute Pulver knallen und Kugeln einschlagen hören, wenn ich nicht ersticken soll. Darin haben Sie freilich recht, man sollte den schönen Zorn nicht an so miserable Gesellen verschwenden, wie –«

Er brach jäh ab, und sein Gesicht wurde finsterer als zuvor. Als Gerhard, der Richtung der starren, zornigen Augen folgend, sich wandte, sah er Herrn Bagdorf, der auf den Schießplatz trat.

Gerhard hatte Herrn Bagdorf, der erst gegen das Ende der Mahlzeit gekommen war – in Reitfrack und Stulpenstiefeln – völlig unvorbereitet auf eine so große Gesellschaft, wie er sagte – nur ganz flüchtig gesehen und gesprochen, als er vorhin an der Laube vorüberkam, wo jener sich in seiner stutzerhaften Weise den Damen angenehm zu machen suchte. Wäre er doch da geblieben, dachte Gerhard jetzt; – ich muß versuchen, ihn wieder wegzubringen.

Er ging in dieser Absicht auf Bagdorf zu, als Herr Zempin mit überlauter Stimme rief:

»Nun, Herr Leutnant, haben die Damen Sie wirklich fortgelassen?«

»Sie haben mich sogar hierher geschickt«, erwiderte Bagdorf, höflich den Hut ziehend.

»Wirklich!« rief Herr Zempin; »indessen: die Gunst muß doch ein wenig gleichmäßig verteilt werden! Wir sind den Damen für ihre zarte Aufmerksamkeit sehr verbunden!«

»Kommen Sie, Herr Bagdorf«, sagte Gerhard; und dann zu Herrn Zempin mit Bedeutung: »Ich möchte Herrn Bagdorf die Araukaria zeigen.«

»Bagdorf schert sich den Kuckuck um Araukarien!« rief Herr Zempin; – »nicht wahr, Bagdorf? wir suchen nur das Schönste auf den Fluren, womit wir unsere Liebe schmücken! Hier, nehmen Sie! Sie sind ja ein famoser Schütze! Drei Schüsse um drei Flaschen Champagner! Wie?«

»Ich danke ergebenste, erwiderte Bagdorf; »meine Hand ist heute nicht so ganz sicher.«

»Sie haben heute schon zu viel Damenhände gedrückt, mon cher

Bagdorf erblaßte und warf einen schnellen, halb erschrockenen, halb ärgerlichen Blick auf Herrn Zempin, den dieser mit einem lauten und höhnischen Gelächter beantwortete, indem er sich zugleich umdrehte und, zu den anderen gewandt, rief: »Also weiter, meine Herren! wer war an der Reihe?«

Gerhard hatte Bagdorf am Arm genommen und mit sich fortgeführt.

»Ich glaube, er ist betrunken«; sagte Bagdorf.

Seine Stimme zitterte, und sein Arm zitterte.

»Ich fürchte«, erwiderte Gerhard; »er war schon vorher gegen ein paar andere Herren mehr als unartig.«

»Was sollte er auch speziell gegen mich haben? Wissen Sie etwas?«

»Nein«, erwiderte Gerhard; »ich weiß nichts.«

Und in demselben Moment schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: es müsse Julie sein, um die es sich handelte. Der wegwerfende Ton, in dem Herr Zempin heute vormittag über den Mann gesprochen, sein scheinbar durch nichts gerechtfertigter Ausfall eben, und – Bagdorf hatte während des Nachtisches wieder eine geraume Zeit neben Julie auf einem leer gewordenen Stuhle gesessen! Gerhard erinnerte sich des Umstandes erst jetzt. In demselben Augenblicke kam ihnen Julie entgegen. Hatte ihr die kurze Trennung bereits zu lange gedauert? war es Zufall?

Vielleicht ein Zufall; ebenso wie die Verwunderung, mit der sie nun die weißen kleinen Händchen zusammenschlug, vielleicht nicht gespielt war. Sicher ernst aber war der Schrecken, welcher sich in ihren Zügen malte, als Bagdorf auf ihre lachende Frage: »Sie sobald zurück! was bedeutet denn das?« mit verstörter Miene erwiderte:

»Ich wollte mich Ihnen empfehlen, gnädige Frau; ich habe vergessen – ich muß sofort nach Bulitz.«

Die Blicke der beiden begegneten sich.

»Wenn Sie durchaus zurückmüssen, darf ich Sie nicht halten wollen. Leben Sie wohl, und auf baldiges Wiedersehen! Sie wissen, wir haben für das Fest noch Unendliches zu besprechen!«

Der Ton, in dem Julie das sagte, war völlig ungezwungen, ganz in ihrer leichten, lebhaften Weise; und so war die Bewegung, womit sie jetzt, als Bagdorf ging, ihren Arm in Gerhards legte.

»Sie sollen mich noch ein wenig begleiten, lieber Vacha – oder muß ich auch Herr Baron sagen, wie die anderen? nein? ich danke ihnen, denn ich möchte recht gern vertraulich mit Ihnen sprechen – wie Emmeline, wissen Sie, in der Schweizerfamilie. Es ist mir lieb, daß Bagdorf gegangen ist und ich Sie auf diese Weise allein habe; Bagdorf – er wäre gewiß der letzte, vor dem ich à la Emmeline reden möchte. Erschrecken Sie nicht! ich will meinem Manne keine Konkurrenz machen: ich erwarte keine Konfidenzen von Ihnen; aber Sie erinnern sich, was ich Ihnen in der ersten Stunde gesagt habe: ich bin Ihre Freundin! Das klang keck, ruhmredig, nicht wahr? aber jede lady born and bread, wenn sie verheiratet ist, ist die mütterliche Freundin jedes unverheirateten gentleman born and bread, der in ihre Nähe kommt; und heute kann ich es Ihnen beweisen.«

Sie waren von dem Hauptwege abgebogen auf die schmaleren verschlungenen Pfade durch die Bosketts. Von dem Schießplatze kam dann und wann der Knall eines Pistolenschusses, von dem Rasenplatze tönte das Lachen und Rufen der Gesellschaft; hier in den schmalen Gängen war es einsam und still; in den Büschen sangen die Vögel der Abendkühle entgegen.

Gerhards Herz schlug unruhig. Was hatte ihm Julie zu sagen? oder wenn er nach ihren letzten Worten leider kaum im Zweifel sein konnte, daß sie nicht von sich selbst, daß sie von ihm, von Maggie sprechen wollte, wie sollte er es aufnehmen? durfte er an eine Freundschaft glauben, vor der ihn Maggie wiederholt gewarnt? eine Freundschaft, deren Aufrichtigkeit ihm ganz zweifellos niemals erschienen war und ihm jetzt – wenn er, was eben geschehen, irgend richtig gesehen und gedeutet – doppelt zweifelhaft erscheinen mußte?

»Sie beschämen mich, gnädige Frau«, sagte er, »durch eine Güte, die zu verdienen ich bis jetzt so wenig, so gar keine Gelegenheit hatte.«

»Ich will Ihnen gerade diese Gelegenheit geben«, erwiderte Julie, »indem ich, ohne daß Sie zürnen dürfen, alles vor Ihnen herausplaudere, was ich auf dem Herzen habe, wie ein rechtes Kind, das ich ja auch wirklich bin. Also: es ist gekommen, wie ich vorausgesehen, wie ich Ihnen vorausgesagt, daß es kommen würde, weil es kommen mußte: der kühne Schiffer hat sich nicht vor der Lorelei gehütet; er schaut nur hinauf in die Höh! Wie gesagt: das mußte kommen, und darüber verliere ich weiter kein Wort. Die Melodie ist eben zu wundersam und gewaltig; sie zwingt selbst solche, denen die Natur kaum ein bißchen Phantasie und Herz mitgegeben; sollen da andere kalt bleiben, die ganz Phantasie, ganz Herz sind, wie Sie, lieber Vacha! Widersprechen Sie mir nicht! wir Frauen verstehen uns darauf. Wir wissen euer Herz zu taxieren, als ob eure Brust von Glas wäre; wir sehen, wie groß es ist, wir fühlen, wie warm es ist. Und sehen wir's und fühlen wir's, fliegt euch unser Herz zu, wenn es ledig ist, und oft genug, wenn es gebunden ist. Das ist keine Freigeisterei der Leidenschaft – das ist ewiges Gesetz der Natur. Darf ich weitersprechen?«

»Ich bitte Sie«, sagte Gerhard.

Er brachte es kaum heraus. Seine Wangen brannten, seine Schläfen hämmerten.

»Denn nun verläßt mich doch mein kecker Kindermut ein wenig«, fuhr Julie fort. »Gut, wie Sie sind, und edel – so gut und edel, wie ich – ich sage es ohne Scheu – noch keinen Mann getroffen habe, Sie sind doch immer ein Mann, das heißt: Sie glauben sich durch Ihre Stärke und Klugheit gegen jede Gefahr geschützt, glauben, die schroffen Felsenriffe verachten zu dürfen. Wir Frauen aber, die am flachen, ruhigen Ufer wohnen und wohnen müssen, weil wir eben Frauen und keine Nixen sind –«

Durfte er es sagen? durfte er sagen: Sie wissen nicht, gnädige Frau, welche Pein ich ausstehe, denn Sie wissen nicht, daß Sie von meiner Verlobten sprechen? Er hoffte noch immer, dadurch, daß er nichts völlig in Abrede stellte, aber auch nichts unbedingt zugab, aus der peinlichen Verlegenheit, die ihm Juliens Neugierde bereitete, sich und sein Geheimnis zu retten. Denn schließlich war dies, konnte dies alles von ihrer Seite doch nichts anderes sein, als ein etwas gewaltsamer Versuch, die Wahrheit zu erfahren.

So gewann er es denn über sich, lächelnd in munterem Tone zu erwidern: »Ich wollte Sie nur bitten, gnädige Frau, wie töricht und verblendet Ihren klugen Frauenaugen auch die Schiffer erscheinen mögen, oder vielmehr gerade deshalb – der schönen Lorelei keines ihrer goldenen Haare zu krümmen. Die Mohren wäscht man ja nimmer weiß, und ›töricht, auf Besserung der Toren zu harren‹ singt der Dichter.

»Sie wollen mir mit jener feinen Ironie, die Ihnen so gut steht, das Mißliche, vielleicht Unschickliche meines Benehmens zu Gemüte führen«, erwiderte Julie. »Glauben Sie mir, ich habe ein leises Ohr für solche Mahnung und würde ihr unbedingt folgen, wenn ich Sie weniger lieb hätte, und dann – dasselbe leise Ohr hat auch den letzten Angstschrei eines Unglücklichen gehört, den die Wellen am Ende doch mitsamt dem Kahn verschlangen.«

Sie blickte zu ihm auf. In den sonst so munteren Augen, auf den sonst so lachlustigen Zügen lag ein Ernst, der Gerhard erschreckte. Aber er wollte die einmal angenommene Position bis aufs äußerste verteidigen.

»Also ein Märchen aus alten Zeiten?« sagte er.

»Leider kein Märchen«, erwiderte Julie, »sondern eine wahre, traurige Geschichte, die in allerneuester Zeit gespielt hat – vor zwei Jahren etwa – und die ich Ihnen erzählen will – sie ist nicht eben lang. Auch will ich sie so kurz wie möglich machen. Also: Er – der Name ist ja gleichgültig – war ein junger, sehr hübscher Mann, ein Bauerssohn freilich, aus – irgendwoher aus Mecklenburg – aber braver Eltern Kind, und selber brav, fleißig, tüchtig, bescheiden und nebenbei ein hübscher, ganz ungewöhnlich hübscher Mensch. Wir alle mochten ihn sehr gern; er war oft bei uns, so oft er konnte – ja so, ich habe noch nicht gesagt, daß er als Wirtschafter in Kosenow fungierte – und an mich hatte er sich angeschlossen. Er teilte mir alles mit: wie sauer er es sich habe werden lassen in seiner Jugend – lieber Gott! er war ja selbst noch ein halbes Kind mit seinen zweiundzwanzig Jahren! und wie die Eltern den letzten, schwer verdienten Groschen darangesetzt, daß er was Ordentliches lerne, und wie sein einziger Ehrgeiz sei, es dereinst den guten Eltern zu entgelten und, was er vor den zahlreichen jüngeren Geschwistern voraus habe, an diese wieder mit Zinseszinsen abzutragen. Sie werden ihm das nachfühlen können, lieber Vacha, der Sie selbst für Ihre Brüder von einer so rührenden Zärtlichkeit sind! Mit einem Worte, es war ein herziger, lieber Junge und – weshalb soll ich es nicht sagen, ich war ihm gut, ich hatte ihn lieb wie eine Schwester den Bruder.«

Julie zog ihren Arm zurück, und, sich abwendend, fuhr sie mit dem Tuche über die Augen, lächelte aber gleich wieder und sagte, Gerhards Arm abermals nehmend:

»Ich habe versprochen, kurz zu sein, aber Sie wissen, wovon das Herz voll ist – dem armen Jungen war es bald voll genug, ach! allzu voll! sein hübscher, treuherziger Mund floß über zu mir, seiner Freundin, in Lob und Preis der Einen, Einzigen, Unvergeßlichen. Ach! seine Begeisterung war so echt, so goldig rein! Und daß er begeistert, berauscht war, konnte ich es ihm verdenken, ich, die ich selbst unter dem ersten vollen Zauber der Wunderblume stand, die aus der Knospe brach! Aber warnen konnte ich, und gewarnt habe ich – ehrlich, redlich, auf Kosten oft meiner eigenen Empfindung, mit blutendem Herzen, wenn ich ein edles, schönes Herz so bluten machte. Und war ja doch alles vergebens! Ich sah es – auch in jenem Falle, wie heute – daß es kam, kommen mußte, und – dann war es da! Eines Abends – es war ein schwüler Juliabend wie heute – er war herübergejagt von Kosenow auf seinem eigenen Pferde – er besaß sonst nichts auf der Welt, und es war sein ganzer Stolz – und er traf mich hier in diesem selben Gange, und ich glaube, es war dieselbe Stelle. Was er mir alles gesagt in stammelnden, wütenden Worten unter tausend Tränen, ich weiß es nicht mehr – ich weiß nur, sie, sein Engel, sein Himmel war an nichts schuld, nur der Vater; er hatte eine fürchterliche Szene mit dem Vater gehabt; er könne nicht länger in Kosenow bleiben, er müsse von seinem Himmel, aus dieser Welt scheiden – ach! ich nahm es nur für ein Bild, ich riet ihm selbst, auf einige Zeit wenigstens unsere Gegend zu verlassen. Am nächsten Tage erhielt ich einen Brief – ein Gedicht vielmehr von seiner Hand – mein erstes und mein letztes überschrieben – ich bewahre es noch als teueres Andenken – und am nächsten Tage verbreitete sich das Gerücht: auf dem Darß – einer Halbinsel ein paar Meilen von hier – sei ein junger Mann, der – jedenfalls in der Nacht – zu nah an das steile Ufer geraten, mit seinem Pferde hundert Fuß hoch hinabgestürzt und auf den Steinen des Strandes zerschmettert. Es ist, wie Sie wissen, kein Märchen; ich brauche Ihnen also nicht zu sagen, wer der unglückliche Verunglückte gewesen ist.«

Julie schwieg; Gerhard kämpfte mit aller Macht, die Erregung, die ihn bei dieser Erzählung ergriffen, wenigstens nicht zu zeigen.

»Sie haben recht, gnädige Frau«, sagte er; »das ist eine traurige Geschichte; eine traurige, keine tragische. Es ist ein Unglück, gleich jeder anderen schweren Krankheit, die ihr Opfer dahinrafft. Man muß den Toten beweinen, wenn er es verdient; man kann die Hinterbliebenen: die armen Eltern, die Geschwister, die Freunde bemitleiden, aber man darf niemand einer Schuld zeihen. Das hat denn doch etwas Tröstliches, wenigstens in meinen Augen, wie alles, was wir aus der Hand der Natur empfangen.«

»Gewiß«, sagte Julie; »wir können eben den Lauf der Natur nicht ändern; und es ist die Natur der Nixen, daß sie oben auf dem abendsonnebestrahlten Felsen ihr Lied singen, während unten auf dem dunkel flutenden Rhein irgendein Unglück passiert.«

Gerhard blieb stehen.

»Gnädige Frau«, sagte er; »es ist vielleicht nicht recht, daß ich so lange geschwiegen; aber es wäre feig und unrecht in jeder Beziehung, wollte ich Ihnen jetzt noch länger verschweigen, daß Ihre Geschichte, der, wie mir scheint, noch andere nicht minder pikante folgen sollen, zur Heldin eine Dame hat, die seit heute morgen meine Verlobte ist.«

»Also wirklich!« rief Julie; »wirklich! – seit heute morgen! nachdem Sie die schreckliche Szene mit der Baronin gehabt – in dem Wäldchen, nicht? – ich sah Maggie von dort kommen – aber sie war so kühl, so gleichmäßig heiter, entschuldigte sich so ruhig bei der Baronin, daß sie sie habe warten lassen – sie sei eingeschlafen in der Hitze – und doch! doch! der arme, arme Bagdorf! Verzeihen Sie! Ich kann nun einmal nichts für mein Herz, das mit meinen Freunden fühlt und sich mit ihnen freut und mit ihnen leidet. Mein Gott! ich finde es ja so begreiflich: er kann sich mit Ihnen nicht messen, er hat es selbst herausgefunden, gestanden, mir geklagt – noch heute mittag bei Tisch – und daß er keine Hoffnung mehr habe. Und Ihnen – brauche ich es zu sagen, zu versichern, daß ich Ihnen alles Glück wünsche, und Heil und Segen, mein lieber Freund!«

Sie hatte seine beiden Hände erfaßt und wieder und wieder gedrückt, während sie zu ihm auflächelte.

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau«, erwiderte Gerhard, »für einen Wunsch, der selbst Ihrem guten Herzen nicht leicht fallen kann.«

»Nicht leicht?« erwiderte Julie eifrig; »mein Gott – einer von euch kann sie doch nur haben, und da muß man wahrlich von ganzem Herzen wünschen, daß es der Klügste, der Mutigste, der Bravste ist; denn daß er alle Klugheit und allen Mut nötig haben wird, um zu seinem Ziele zu gelangen, ist leider gewiß. Ja, lieber Freund, jetzt darf ich nicht nur, jetzt muß ich offen sprechen und ohne Bild. Ich sehe auf Ihrem Wege mehr als eine Gefahr. Nicht – ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir wert und teuer ist – als ob ich an Maggies Liebe für Sie, an Maggies Beständigkeit zweifelte! Sie ist ein so eigen geartetes Wesen! wer kann behaupten, auf den Grund ihrer Seele geschaut zu haben! und die rechte Liebe und Treue kommt ja auch erst mit dem rechten Ritter; die anderen waren eben die rechten nicht. Es sind – ganz im Vertrauen – noch einige da, außer Bagdorf; und nicht zu vergessen – den Baron von Basselitz. Aber selbst der Baron ist mir kaum noch bedenklich nach dem Strauß, den Sie heute morgen so mutig mit meiner guten Freundin, seiner Frau Mutter, bestanden. Ganz leicht wird sie Ihnen Ihren Sieg auch trotzdem nicht machen, sie gehört nicht zu denen, die eine Kränkung vergeben, und noch weiß sie ja gar nicht, wie unverzeihlich Sie ihren bis zur Tollheit aufgebauschten Stolz beleidigt haben. Sie sehen, lieber Freund, ich räume alle Hindernisse vor Ihnen weg mit geschäftiger Freundeshand; eines ist für mich zu schwer; es ist das, woran mein armer Wilhelm – er hieß Wilhelm Meink – wir sind ja jetzt im Reiche der Wirklichkeiten, und so darf ich den Namen nennen – zugrunde gegangen – der Wahnsinn von Maggies Vater.«

»Der Wahnsinn?« rief Gerhard.

»Wie soll man es anders nennen?« erwiderte Julie. »Es ist ein Familienzug. Nach allem, was mir der gute alte Vadder Deep erzählt, der ihn genau gekannt hat, ist schon der Vater der beiden Brüder wahnsinnig gewesen; dieselbe Selbstüberschätzung, dieselbe Rechthaberei, derselbe Hochmut und Eigendünkel, dieselbe Verschwendung, dieselbe Maßlosigkeit im Genuß bei der tyrannischsten Eifersucht. Das geht ja so schön Hand in Hand! Was hat die arme Maggie schon unter dieser Tyrannei gelitten! Von Edith spreche ich nicht: sie ist in ihrer kühlen Selbstvergötterung, in ihrem finsteren Mißtrauen gegen jede freie Regung des Geistes und Herzens – nur nicht des eigenen natürlich! – die echte Zempin. Aber Maggie mit ihrer beweglichen Phantasie, mit ihrem exquisiten Feingefühl für alles Schöne – auch ein Zempinscher Zug, wenn Sie wollen! – doch wie vergeistigt bei ihr, wie köstlich in das Anmutige, Spielende, Reizende, Liebenswürdige übersetzt! Und nun jede Regung ihres nach Schönheit und Liebe schmachtenden Herzens von der mönchischen Schwester bekrittelt, von dem wahnsinnigen Vater mit Füßen getreten! Ja, ja, Wahnsinn! es ist nichts anderes! Einen armen Knaben – denn er war ein Knabe in seinem frommen Glauben, in seiner rührenden Schwärmerei – zu mißhandeln bis aufs Blut, weil er ihn mit seinem Kinde – sie war ein Kind mit ihren fünfzehn Jahren – an einem Sommerabend in der Jasminlaube getroffen! Der Jasmin duftet betäubend an einem Sommerabend; aber das ist eine Entschuldigung für die Kinder, nicht für den Vater; für den Vater! merken Sie wohl! der Gatte, wenn er Zempin geheißen, hätte es freilich, ohne auf der Stelle zu morden, nicht tun können.«

Sie waren, in ihrer Erregung rascher und rascher vorwärts schreitend, bis an das Wäldchen gelangt. Julie hatte sich auf die Bank sinken lassen – dieselbe, auf der Gerhard vor ein paar Stunden mit Maggie gesessen. – Er war vor der Dame stehengeblieben, mit Teilnahme und Verwunderung auf sie hinabblickend. War diese Frau, die jetzt schluchzend das Taschentuch in das Gesicht preßte, dieselbe lachlustige, stets zu neckischen Worten bereite, von drolligen Einfällen übersprudelnde, aller Sentimentalität so gründlich abgeneigte Julie?

Und nun wischte sie sich die Tränen ab und rief, das Taschentuch zornig zerknitternd und die kleinen Füße hastig bewegend:

»Aber das ist ja wohl so euer Herrenrecht! Wann hättet ihr je an die selbstlose Freundschaft einer reinen Frau geglaubt! wie könntet ihr daran glauben, die ihr nicht rein seid, die ihr nur die Lust kennt, nur die Lust wollt, gleichviel woher ihr sie nehmt, ob von der Magd oder der Herrin, ob von der Dirne oder der Dame! von der einen noch lieber als von der anderen: ihr braucht euch da ja nicht einmal bis zur Bitte zu erniedrigen oder gar eure kostbare Freiheit unter das Joch der Ehe zu beugen! Oh, der Tyrannei! der feigen, brutalen Tyrannei, die sich womöglich noch in die Maske der allgemeinen Menschenliebe hüllt! – allgemeine Menschenliebe! Man müßte weinen, wenn es nicht zum Lachen wäre!«

Sie lachte höhnisch auf und brach dann wieder in zorniges Weinen aus; sie war außer sich. Es dauerte geraume Zeit, bis Gerhard sie mit freundlichen Worten nur einigermaßen beruhigen konnte. Ihr krampfhaftes Schluchzen wurde milder; sie hatte seine beiden Hände ergriffen, die sie plötzlich an ihren Busen, an ihre Stirn drückte:

»Oh, Sie sind gut, Sie sind mein guter Engel«, rief sie; »Sie retten mich vor Verzweiflung!«

Plötzlich sprang sie auf, sich das Haar aus dem Gesichte streichend, angstvoll um sich blickend:

»Mein Gott, was tue ich! wenn er uns so gesehen hätte! Er würde den Freund morden wie die Gattin! was sind ihm Freund und Gattin, wenn seine Eifersucht ins Spiel kommt! Ich bitte, ich beschwöre Sie – folgen Sie mir nicht! bleiben Sie hier! Er darf uns – niemand darf uns hier zusammen sehen! Dank! tausend, tausend Dank für Ihre Güte! und – vergessen Sie diese Stunde!«

Sie war davongeeilt in der Richtung des langen Heckenganges, der unmittelbar nach dem Hause führte.

Er hatte sich nun doch auf die Bank gesetzt; seine Knie zitterten, das Herz hing ihm schwer in der Brust, so schwer! in seinem betäubten Gehirn schwirrten und hafteten die Gedanken, der eine immer trauriger und schattenhafter als der andere, der eine vor dem anderen zurückbebend, wie Mitwisser schlimmer Taten, die sich einander nicht ins Gesicht zu sehen wagen.

Von dem Parke her ertönte ununterbrochen, und jetzt in der abendlichen Stille deutlicher als zuvor, das Lärmen und der Jubel der Spielenden auf dem Rasenplatze, zwischendurch dann und wann der dumpfe, kurze Knall der Pistolen. Und jetzt – wie an jenem ersten Abend, als er, die Gesellschaft suchend, sich hierher verirrt hatte und Edith traf – fing die Amsel über ihm in dem dichten Gezweig an zu singen, melancholisch-leise, als hauche eine einsame Seele ihre Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe in sanften Tönen aus.

Freundschaft und Liebe! Hatte die kleine weiße Hand, die er eben in der seinen gehalten, ihm nicht das stolze Bild des Freundes, die holde Gestalt der Geliebten verwischt und entstellt! Hatten sie ihm nicht im Laufe dieses einen Tages, was ihm hier lieb und wert und teuer geworden, zu entreißen versucht, entrissen, daß er sich fremder, einsamer, unendlich einsamer fühlte als am ersten Tage? Das Vögelchen da oben hatte doch sein Klagelied; – er hatte nichts, was ihm Trost gewähren, woran er sich halten konnte in diesem Chaos schmerzlicher Empfindungen, trostloser Gedanken – nichts! nichts!

Und doch! Eines!

Da hinten, auf der Grenze nach Zarnewitz, in der entferntesten Ecke des Gutes, mähten sie noch und banden Garben! Er wollte hin, mit mähen, binden, aufladen – arbeiten bis zur sinkenden Nacht im Schweiße seines Angesichtes; helfen, die Ernte in die Scheune bringen vor dem Gewitter, das heute am Himmel gestanden und wiederkommen und losbrechen würde, morgen – einen dieser Tage!

Er sprang empor und eilte aus dem dumpfen Wäldchen ins Freie.

Und als er den weiten, hohen Himmel über sich sah, und ein leiser Abendwind, der über seine heiße Stirn strich, ihm den frischen Duft der Wiesen und Felder auf weichen Schwingen entgegentrug, da atmete er tief, wie jemand, der, aus schweren angstvollen Träumen erwachend, sich besinnt, daß er jung und stark ist und die Arbeit, die er liebt und die ihn wieder liebt, seiner harrt.


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