Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil


I

Lilly war gerade vierzehn Jahre alt, als ihr Vater, der Kapellmeister Kilian Czepanek, eines Tages verschwand.

Und das kam so:

Er hatte tagüber Klavierstunden gegeben, dazwischen geflucht und Selter mit Mosel getrunken, – denn es herrschte eine barbarische Hitze, – war auch ab und zu ins Speisezimmer gewutscht, um einen Kognak zu heben oder die Lavallierekrawatte zurecht zu rücken, hatte Lilly, die über ihren französischen Vokabeln brütete, dabei die braunen Hängelocken gezaust und war hierauf von neuem nach der guten Stube hin verschwunden, wo die Schülerinnen von Stunde zu Stunde wechselten und nur die Dissonanzen und die Flüche blieben.

Als das letzte Unglückswurm sein Pensum abgehaspelt und die Flurtür hinter sich zugeschlagen hatte, war er nicht mit dem üblichen Zorn und dem üblichen Hunger wieder zum Vorschein gekommen, sondern war von vornherein in der guten Stube geblieben, wo er heute weder pfiff noch weinte, noch auf den Tasten sich sattraste, wie es sonst nach vollbrachtem Tagewerk wohl geschah, sondern im Gegenteil kaum ein Lebenszeichen von sich gab. Ab und zu ein tieferer Atemzug – sonst nichts.

Lilly, die alles, was ihr schöner Papa tat oder nicht tat, eifrig beschäftigte, ließ das Vokabelbuch vom Schoße gleiten und schlich ans Schlüsselloch.

Durch dieses sah sie ihn vor dem großen Pfeilerspiegel stehen, in ein aufmerksames Selbststudium vertieft. Ab und zu erhob er die linke Hand und drückte sie wie ein Verzweifelnder gegen die seidenweichen, dunklen Künstlerlocken, die von Mama täglich mit Bay-Rum und französischen Ölen hingebungsvoll gepflegt wurden.

Mit feuchtroten Wangen und wild-gierigem Augenspiel starrten er und sein Spiegelbild einander an, und Lillys Herz weitete sich in Liebe zu dem vergötterten Papa.

Sie kannte dieses Vormspiegelstehen wohl. Es war die Art, wie er sich mit dem verlorenen Leben und der verhudelten Liebe abzufinden suchte, wie er die große Welt, allwo die Herzoginnen und die Primadonnen des entschwundenen Lieblings sehnend gedachten, in den Bereich seiner Persönlichkeit zurückzauberte.

Gleich einem gealterten Liebesgott stand er da, mit kleinen Trinkerwülsten unter den Augen und dem Ansatz zu einem Bäuchlein.

Beide, Mama und Lilly, sorgten ja für ihn mit nie nachlassender Begeisterung. Denn beide sahen in ihm eine Art Paradiesvogel, der sich durch einen glücklichen Zufall zwischen den Wänden eines Zimmers gefangen hat und den es nun mit Aufbietung aller Kräfte im Käfig zu erhalten gilt.

Von Rechts wegen hätte Lilly längst schon am Klavier sitzen müssen, denn stillliegende Tasten waren im Hause Czepanek Zeitverschwendung und Frevel am lieben Herrgott.

Vier, fünf Stunden mußte sie täglich üben. Oft, wenn Papa, vom heiligen Geiste des Schaffens ergriffen, die ihr zugeteilte Zeit vergessen hatte, begann ihre Arbeit erst gegen Mitternacht. Und dann saß sie erfroren, mit schlaftrunkenen Augen, nach allen Richtungen daneben hauend, bis gegen Morgen. Manchmal sogar fand Mama sie in der Frühe mit verschränkten Armen, auf den Tasten liegend, in unerwecklichem Kinderschlaf.

So war es gekommen, daß sie von dem künftigen Künstlertum, für das der väterliche Ehrgeiz sie bestimmt hatte, nicht viel wissen wollte und sich lieber über einem verbotenen Schmöker zu schaffen machte, um Papa dann später mit einem genial-falschen Primavistaspiele zur Verzweiflung zu treiben. Aber heute hatte sie gerade die Pathétique am Kanthaken, und mit der läßt sich nicht spaßen, das weiß bekanntlich schon jedes Wickelkind.

Darum war sie auch nahe daran, sich dem in träumender Selbstbetrachtung Versunkenen bemerkbar zu machen, da knackte die Hintertür. Mit einem gewaltigen Satz ihrer langen Beine floh sie vom Guckloch, denn Mama trat, mit Tischgeräten beladen, ins Zimmer.

Das Herdfeuer hatte ihre früh welken Wangen hoch gerötet; die hagere Gestalt, in die der vorstehende Bauch – eine Folge von mißlungenen Geburten – gleichsam einen Knoten machte, hielt sich gestrafft, und aus den einst schönen Augen, die ein stumpfer Ehegram längst in zwei trübe Ritzen verwandelt hatte, blitzte etwas wie Stolz und Erwartung.

Denn für heute hoffte sie ihn und seinen Gaumen zufrieden zu stellen.

Als die Teller auf der Tischplatte klirrten, öffnete sich die Vordertür, und Papas schwarzer Lockenkopf, den die Abendsonne spiegelnd umrandete, erschien in der lichtgefüllten Spalte.

»Was Teufel, schon Abendbrot?« sagte er und sah mit einem eigentümlich wirren Blick in die Runde.

»In zehn Minuten,« erwiderte Mama, und die Freude an der Extraüberraschung, die seiner wartete, umspielte wie ein seliges Geheimnis ihre gelben, rissigen Lippen.

Er trat vollends ein, atmete ein paarmal tief auf und sagte dann mit einem Anlauf, als fiele das Sprechen ihm schwer: »Ich hab' eben gesehen, an meinem Handkoffer ist 'n Riemen entzwei –«

»Brauchst du ihn denn?« fragte Mama.

»Den Handkoffer muß man immer parat halten,« erwiderte er und ließ dabei die Augen fortwährend in die Runde wandern. »Man wird mal plötzlich zur Vertretung gerufen, an diesen oder jenen Ort, und dann ist er nicht da.«

Nun war es in der Tat im vergangenen Winter passiert, daß ein Berliner Klaviervirtuose, der den Osten abzugrasen unternommen hatte, so um Bromberg herum mit seinem Zuge im Schnee stecken geblieben war, und daß das Komitee der Nachbarstadt Papa telegraphisch gebeten hatte, statt seiner zu spielen. Aber jetzt, mitten im Sommer, da alle Konzerte ruhten, lag ein ähnlicher Fall kaum im Bereich des Möglichen.

»Minna muß ihn gleich nach dem Abendessen zum Sattler tragen,« sagte Mama, die sich wohl hütete, dem Jähzornigen zu widersprechen.

Er nickte ein paarmal ganz bedächtig und ging in sein Schlafzimmer, während Mama zur Küche lief, um dem ihm zugedachten Leckerbissen selber die letzte Weihe zu geben.

Wenige Minuten darauf kam er wieder zum Vorschein und hielt den Koffer, der ziemlich prall aussah, in der herabhängenden Hand.

Vor dem Wäscheschrank blieb er stehen. »Ich möchte eigentlich mal wissen, Lillychen,« sagte er, »ob die Partitur der Quere nach reingeht. Wenn man später zu Aufführungen fährt, weißt du –«

Die Partitur des »Hohen Liedes« wurde nämlich im Wäscheschrank aufbewahrt, damit, wenn in Papas Abwesenheit einmal Feuer ausbrechen sollte, dies höchste Kleinod von jedem der Angehörigen sofort gerettet werden konnte.

Lilly sah sich nach dem Schlüsselbund um, aber den hatte Mama wohl mit nach der Küche genommen.

»Ich werd' sofort nachfragen,« sagte sie.

»Nein, nein,« rief er hastig, und durch seinen Körper ging ein Schütteln, wie Lilly es schon oft bemerkt hatte, wenn gerade von Mama die Rede war. »Erst will ich die alte Schwarte mal selber zum Sattler tragen –«

Lilly erschrak bei dem Gedanken, daß ihr allberühmter Papa sich in einen dunklen und schmutzigen Handwerkerladen hineinbemühen solle.

»Um Gottes willen!« rief sie und langte dabei nach dem Ledergriff, um die Sache auf der Stelle statt seiner zu besorgen.

Aber er ließ sie nicht nahe kommen.

»Für so was bist du schon viel zu groß, Mädelchen,« sagte er, und seine Augen glitten aufleuchtend über ihre jungfräulich hochgeschossene Gestalt, an der Hüften und Busen schon damals in zartem Linienspiel sich rundeten. »Bist ja schon beinahe eine Signora.«

Er tätschelte ihr ein paarmal die Backen, rüttelte ein wenig an dem Schloß des Wäscheschrankes, wobei er bitterböse die Lippen zusammenkniff, gab sich einen plötzlichen Ruck, und mit einem scheuen, höhnischen Blick nach der Küche hin – Lilly kannte auch diese Blicke – ging er rasch aus dem Zimmer.

Ging und kam niemals wieder.


Die Nacht, die diesem roten Sommerabend folgte, ist Lilly Stunde für Stunde in Erinnerung geblieben.

Die Mutter saß in der Frisierjacke auf dem Fensterbrett und blickte aus heißen, ängstlichen Augen bald nach rechts, bald nach links die Straße hinunter. Wenn von weitem ein Schritt auf dem verfahrenen Pflaster daherstolperte, zuckte sie auf und schrie: »Nu kommt er!«

Lilly fühlte, daß es mit ihrer Pathétique heute keine Not haben würde. Ein dumpfer Druck in der linken Brustgegend bewog sie, sich für alle Fälle an den heiligen Joseph zu wenden, zu dem sie seit ihrer Firmung zeitweilig in zärtlichen Beziehungen stand. In St. Annen hatte sie vor seinem Altar – rechts vorne, zweite Kapelle – schon manche träumend-müßige Stunde zugebracht und zu dem lieben, braven, schönbärtigen Angesicht manchen gegenstandslosen Seufzer heimlich emporgesandt. Aber heute versagte sein Trösteramt vollkommen. Und ärgerlich und ernüchtert gab sie ihm den Laufpaß.

Um zwölf ließ das letzte Fuhrwerk sich hören.

Um eins wurden auch die Fußgänger seltener.

Um halb zwei erhob sich ein staubiger Wind, der nach Sand schmeckte und die Lampe zu verlöschen drohte.

Zwischen zwei und drei schleppte nur noch der Nachtwächter sein schlürfendes Paar Schuhe durch die enge, hallende Gasse.

Um drei rasselten die Abfuhrwagen, und zugleich wurde es hell.

Zwischen drei und vier kochte Lilly der Mutter eine siedend heiße Tasse Kaffee und aß selber das kalt gewordene Abendbrot auf, denn von dem Warten und dem Weinen hatte sie einen mörderlichen Hunger bekommen.

Zwischen vier und fünf zog eine Kette junger Nachtschwärmer vorbei, die Kußhände zur Mutter emporwarfen, und, als sie sich notgedrungen vom Fenster zurückziehen mußte, ihr ein Ständchen brachten … Feine, reine Stimmen übrigens, wie Lilly allem Kummer zum Trotz feststellte; guter Vortrag und richtige Einsätze. Ohne die pedantische Liedertafelklappe, die Papa so sehr verabscheute. Vielleicht sogar Schüler von ihm, die seine Wohnung nicht kannten.

Kaum hatten sie sich davon gemacht, da saß die Mutter schon wieder auf ihrem Posten.

Lilly kämpfte mit dem Schlafe.

Wie durch einen Schleier hindurch sah sie das dünnliche Blondhaar über der Stirn der Mutter im Morgenwinde wehen, sah die spitze, rotgeweinte Nase bald nach rechts, bald nach links sich drehen, je nachdem soeben ein Geräusch sich hören ließ; sah die Nachtjacke wie eine weiße Fahne schlottern und die mageren Beine in nervösem Spiel sich unaufhörlich aneinander reiben. Dann sollte sie zum soundsovielten Male die Geschichte von dem Handkoffer und dem Wäscheschrank erzählen, aber die Augen fielen ihr zu.

Und dann plötzlich fuhr sie mit einem Schrei hoch auf: die Mutter war in Ohnmacht hintenüber geglitten und lag da wie ein Stück Holz.


 << zurück weiter >>