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XV

Durch die rußige Glasdecke der Bahnhofshalle brach das ruhevolle Goldlicht eines sonntäglichen Junimorgens.

Dort, wo die drei mächtigen Rundbögen ins Freie hinauswiesen, war eine solche blauleuchtende Helle aufgespeichert, daß man glauben konnte, beim Ausfahren in ein sonndurchstrahltes Meer hineinzutauchen.

Die buntschleifigen Fähnchen der ausgeputzten Jungmädchenschaft rieben sich an den Sonntagsröcken der eifrigen Jünglinge, von denen ein jeder sich als unentbehrlicher Festordner fühlte.

Da waren Turnvereine und Gesangvereine … Da waren Ruderklubs und Rauchklubs … Auch ein ganzes Warenhaus war da.

Und mitten in diesem fröhlich lärmenden Gewühl ein still-glückliches Paar, das vorsichtig um sich schauend und in gemessenem Abstande – so daß die Zusammengehörigkeit immerhin angezweifelt werden konnte – einem der vorgeschobenen Wagen zusteuerte.

Lilly schritt voran, und immer von neuem sah sie die Gesichter derer, denen sie entgegenkam, in einer Art von feierlicher Spannung erstarren, – eine stumme Huldigung, die sie wohl kannte, die sie aber noch nie mit so viel Glücksempfinden erfüllt hatte wie heute, da der einzige auf der Welt, dem sie gefallen wollte, als Zeuge hinter ihr ging.

Ihm zu Ehren war sie ganz in festlichem Weiß. Pikeerock und Jäckchen – eine flatternde Seidenbluse, – der weiß umschleierte Strohhut tief in die Stirn gedrückt, – das glänzende Braunhaar in großen Wellen darunter hervorquellend … Ein weißes Zephirwollentuch trug sie über den Arm gehängt zum Schutze gegen die Abendkühle, denn es war abgemacht, daß man sich um keinen der heimwärts fahrenden Züge kümmern, sondern bleiben wolle, solange man nicht müde war.

In einem Abteil der dritten Klasse saßen sie nun listig lächelnd in zwei gegenüber liegende Ecken gedrückt und sprachen kein Wort.

Gemeinsam fuhren sie hinaus ins Unbekannte.

»Folg mir,« hatte er gesagt, »und laß dich überraschen. Wir wollen eine Entdeckungsfahrt machen. Das Ziel kenn' ich selber nur höchst ungenau. Sonst wär's ja auch keine Entdeckungsfahrt.«

Dieses Gefühl des fraglosen Hingegebenseins war ein neues, köstliches Glück.

Wohl eine Stunde mochte vergangen sein, und das Coupé hatte sich längst geleert, da winkte er ihr: »Aussteigen«.

»Wo sind wir?«

»Ist es nicht egal, wo wir sind?«

Ach, wie hatte er recht! Nicht einmal nach dem Namen des Bahnhofs schaute sie aus.

Sie schritten durch die holprige Hauptstraße eines kahlen Landstädtchens, auf dessen gelben Mauerstirnen der Sonnenschein lag wie eine einschläfernde Hand … Die niedrigen Türen der Kaufläden waren geschlossen, und vor der unteren Hälfte der ärmlichen Schaufenster hingen Laken, um anzuzeigen, daß es Sonntag war.

Orgeltöne zogen wie leise, dumpfe Winde um die Straßenecken … Aus einem Einfahrtstor kam ein Truthahn und kollerte sie an. Da war's mit dem Orgelgetön vorbei.

Die Häuser wurden seltener. Von den freien Feldern her kam ein Hauch wie von reifendem Korn, aber das Gedüfte der gelben Lupine legte sich schwer dazwischen … Kleewiesen breiteten ihre weißgetüpfelten Teppiche, und im Hintergrunde standen auf sandgelben Hügeln die schwarzen Kiefernkronen.

Auf der schattenlosen Chaussee, in deren Mitte kleine Wirbel silberweißen Staubes vor ihnen herfegten, schritten sie fröhlich drauf los.

Er wußte alles, und er sah alles:

Wie der Falk über dem Weidengebüsch, mit den Flügeln trillernd, in den Lüften stand … wie das wilde Kaninchen, seinen weißen Bürzel hebend, mit drolliger Eile von dannen kugelte … In jedem Augenblicke gab es etwas Neues.

Seit der versunkenen Generalszeit war sie nicht mehr durch den blühenden Frühling gegangen.

»Ach, hätt' ich damals einen Führer gehabt wie ihn,« dachte sie, »alles wäre anders gekommen!«

Dann, als der Fichtenwald mit seinem heißen Atem sie umfing, lief ein Eichhörnchen ihnen fast über die Füße, schoß an einem Stamm empor und blieb schließlich in Mannshöhe wie versteinert sitzen.

Beide sahen sich an, des Augenblicks gedenkend, der sie zusammengeführt hatte.

Lilly ging bis auf drei Schritt an das Tierchen heran, aber es rührte sich nicht.

»Ich komm' mir vor wie verzaubert,« sagte sie. »Wenn es mit uns zu reden anfinge, so würd' ich mich nicht wundern.«

Und vor Seligkeit aufseufzend, warf sie sich in das graue, knisternde Moos.

Er tat es ihr gleich. Die Augen mit den gespreizten Fingern halbbeschützt, lagen sie auf dem Rücken und blinzelten zur Sonne auf, deren Lichter durch das dünne Fichtengezweig auf sie herniedersickerten.

Die Eichkatze hatten sie schon beinahe vergessen. Da ertönte plötzlich dicht über ihnen ein pfeifendes Gekreisch und das Rascheln eines jagenden Emporlaufs.

Bis dahin hatte das verängstigte Geschöpf sie angestarrt und sich nicht zu rühren gewagt.

»Da hast du's,« sagte Konrad; »solang unsere Menschensprache aus dem Gewehrlauf kommt, werden sie sich schön hüten, mit uns zu reden.«

»Aber verzaubert sind wir hier doch,« lachte sie. »Ich wenigstens habe noch nie in meinem Leben so wonnig dagelegen und mich von der Sonne bescheinen lassen … Etwa du?«

»O doch,« erwiderte er, »auf ein Mal besinn' ich mich genau.«

»Wie denn? Wo denn?« forschte sie eifersüchtig – wie auf jeden Glücksmoment seines Lebens, den nicht sie ihm geschaffen hatte.

»Ach, es ist nicht viel daran zu erzählen,« begann er. »Es war in Ravello. Ein Felsennest, nicht weit von Amalfi – hoch über dem Meer … Ein Märchenwinkel, sag' ich dir … Voll alter, maurischer Paläste … halb bewohnt und halb Ruinen … Da sind vergitterte Marmorhöfe – mit verfallenen Brunnen, – und die Myrten und die Lorbeeren wuchern drum 'rum – und alles ist voll von kleinen weißen Kletterrosen … In den einen besonders hätt' ich für mein Leben gerne 'reingemocht … Es gab da eine kleine, geheimnisvolle Galerie, die wie ein silbernes Gewebe gegen den dunkelblauen Himmel stand, und so allerlei … Und weil sich nie einer sehen ließ, der den Dummenjungenstreich hätte beobachten können, – es wohnen nämlich nur noch ein paar Olivenbauern da – so bin ich richtig eines Tages, immer von Zacke zu Zacke – über das haushohe Portal geklettert – auf der einen Seite 'rauf, auf der andern 'runter.«

»Herrlich!« rief Lilly.

»Ja, drin war ich nun. Und als ich all die schönen, fremden Motive zunftmäßig beguckt hatte, hab' ich mich auf die warmen Steinstufen lang hingeworfen und mich von der Sonne bescheinen lassen … Gerade wie wir beide jetzt zwischen den märkischen Kiefern … Und dabei – denk dir – sind die kleinen, blaugrünen Eidechsen, die du so liebst, langsam und vorsichtig angekommen und fix über mich weggelaufen.«

»O Gott!« sagte Lilly glückselig.

»Wie ich nun so dalag und der alte Marmorbrunnen Musik dazu machte, bin ich auch richtig eingeschlafen. Aber das soll man hübsch bleiben lassen, denn man kann den Sonnenstich davon kriegen, selbst im vollen Winter. Mir wär's auch übel gegangen, wären nicht Reisende gekommen und hätten über das Tor weg mit Stöcken und Steinen nach mir geworfen, um mich aufzuwecken. Mir war ganz rot und schwindlig vor Augen … Und an Zurückklettern gar nicht zu denken … Sie mußten denn auch den Torschlüssel vom Sindaco holen, – und vor dem hatt' ich schließlich noch ein großes Verhör zu bestehen … Wer ich wäre und ob ich nicht wüßte, daß das Eindringen in den Garten verboten sei … Aber eingesteckt hat man mich Gott sei Dank nicht, denn alle Leute haben sich auf die Stirn getippt und gesagt: › è matto – ist verrückt.‹«

»Schadet nichts,« lachte sie, »so hast du doch wenigstens deinen Willen gehabt und bist in dem verbotenen Garten drin gewesen. Andere Leute stehen draußen vor dem Gitter und müssen auch zufrieden sein.«

»Dies Vergnügen werden wir vielleicht heute noch haben,« meinte er. Und sie schluckte die Neugier herunter.

»Übrigens schadet's auch gar nichts, wenn man sich ab und zu im Draußenstehen übt,« fuhr er fort. »Denn weiß der Himmel: gerade das Glück, nach dem man sich im Augenblick den Hals ausreckt, ist meistens so 'n verbotener Garten.«

Erschrocken sah Lilly ihn an.

Wie meinte er das?

Beider Augen trafen sich in scheuem Verstehen.

Die hoffende Unruhe, die sie mit Namen nicht zu nennen wagte, rieselte plötzlich wie ein Krankheitsschauer an ihr herab.

»Komm,« sagte sie aufspringend, und schritt, ohne sich nach ihm umzuschauen, eilends voran.

Der Wald lichtete sich. Nun gingen sie an einem sumpfigen Busche entlang, in dem weiße Birkensäulen von moosigen Sockeln aus schlank und heiter in die Höhe strebten.

Die mittagswarme Luft zitterte in kleinen Wellchen … Von irgendwoher klang eine Kirchenglocke. Aber nirgends war ein Gehöft zu sehen, und plötzlich standen sie vor einer Gabelung des Weges und wußten nicht aus noch ein.

»Jetzt heißt es sich entscheiden,« sagte er, horchte eine kleine Weile nach der Richtung des Glockentones hin und wandte sich dann ohne Bedenken der rechten Seite zu.

»Ich wünschte übrigens,« fuhr er fort, »ich hätte in meinem Leben gerade jetzt auch so eine Glocke vor mir, auf die ich einfach loslaufen könnte.«

Und dann erzählte er ihr, daß er zur Zeit vor einem Scheidewege stünde. Man habe ihm einen Posten angeboten, der in Anbetracht seiner jungen Jahre nicht ohne Bedeutung sei, und ehe er ihn annähme, müsse er sich klar werden, ob er ihn mit der Fortführung seiner Lebensarbeit vereinbaren könne.

»Es ist sicherlich ein sehr hoher Posten?« fragte sie stolz. Hätte man den Drang gefühlt, ihn zum Minister der schönen Künste oder zum Kaiser von China zu machen, sie würde sich nicht im mindesten gewundert haben.

Aber er wollte nicht recht mit der Sprache heraus.

»Ich möchte dir lieber mit der fertigen Tatsache kommen,« erwiderte er.

Und sie gab sich zufrieden. – – – –

Rotleuchtende Dächer krochen aus dem Buschwerk hervor. Der Spiegel eines Sees blinkte als schmale Silberlinie am Rande des Horizonts.

»Ist es das?« fragte Lilly.

»Wohl möglich,« meinte er.

»Sei doch nicht so geheimniskrämerig,« schalt sie scherzend. »Bisher bin ich brav gewesen und hab' nichts gefragt. Aber nun erzähl doch endlich, was und wie.«

»Nachher, wenn wir da sind,« lachte er. »Ich kenne dich, ich möchte dich nicht vor der Zeit eifersüchtig machen.«

Ja, wenn eine Frau im Spiele war!

Eine andere Frau!

Sie ließ sich nichts merken, aber als sie weiterschritt, wurde ihr ganz übel zu Mute, – teils vor Hunger, teils vor Kümmernis.

Mit seinem graugrünen Schilfgürtel und seinem glitzernden Lichterspiel lag nun der See in hellblauer Frühsommerschönheit vor ihnen.

Nicht weit vom Ufer, auf umbuschter Höhe, stand ein Wirtshaus – »Logierhotel« lautete sein Schild – ein rotgelbes Scheusal, in jener barbarischen Fachwerkskunst erbaut, die zwischen Palast und Scheune die Mitte hält.

Aber ringsherum erhoben sich mit weit ausholendem Laubdach drei, vier uralte Linden, und auf den weißen Bänken darunter saß es sich stimmungsvoll und vergnüglich.

Nach der linken Seite hin wich der See bis in dunstige Fernen zurück, auf der rechten lag hinter dem Schilfe der Bucht ein Bauerndorf, mit seinen moosgrünen Strohdächern und seinem stumpfen, verwitterten Kirchturm in Busch und Röhricht halb versteckt.

Und neben ihm, kaum ein paar hundert Schritte von dem Lindensitz entfernt, erhoben sich in mächtigen Zacken und Wölbungen die Laubkronen eines herrschaftlichen Parkes, aus dessen Innern hie und da ein Leuchten kam von Säulen und Brücken und weißem, weinumsponnenem Mauerwerk.

Das mochte wohl der »verbotene Garten« sein, hinter dessen Gittern sie heute stehen sollten.

Wie schön das war und wie geheimnisvoll!

Angler kamen vom See herauf, krebsrot und schnaufend vor Durst, die einzigen Gäste außer ihnen, wie es schien. In diesen stillen Winkel mochte sich der Strom der Sonntagszügler noch nicht verirren.

Die Speisekarte aber, die eine mit allen Wassern der Großstadt gewaschene Wirtin dienstfertig lächelnd herbeitrug, zeigte sich von schwindelnder Reichhaltigkeit. Schade nur, daß elf Zwölftel aller Herrlichkeiten soeben alle geworden waren.

Lilly sollte das Menu machen, aber sie wollte nicht. Die fremde Frau, die sicherlich im Spiele war, bedrückte ihr Gemüt. Und nur wie durch einen dunklen Flor sah sie die lachende Welt, die ihnen ihre frühsommerlichen Schätze willig vor die Füße warf.

»Angelangt sind wir nun,« sagte sie seufzend. »Jetzt beichte endlich: um was für eine Frau handelt es sich?«

Er lachte hellauf.

»Also, du weißt schon, daß eine Frau im Spiel ist?«

»Auf wen sollte ich denn sonst eifersüchtig sein?«

»Verdienen tut sie's schon, denn was Schöneres hab' ich mein Lebtag nicht gesehen. 's ist nur schade, daß sie von Marmor ist.«

Ach, wenn's weiter nichts war!

»Ich bin und bleib' ein altes Schaf,« lachte sie, und er küßte ihr abbittend die Hände.

Dann, während sie den bestellten Fisch erwarteten, erzählte er ihr die Vorgeschichte der heutigen Pilgerfahrt:

Während seines römischen Aufenthalts hatte er eines Tages in den Schaufenstern eines Kunsthändlers einen antiken Frauenkopf entdeckt, arg verwittert, aber von so hochgestimmter und dunkler Schönheit, daß er immer wieder vor das Haus geschlichen war, um ihn heimlich zu betrachten. Und eines Tages hatte er den Händler in der offenen Tür mit einem deutschen Herrn in eifrigem Gespräch getroffen, das trotzdem nicht recht vorwärts wollte, weil einer den andern nicht verstand. Da war er als Dolmetsch dazwischen getreten und hatte zu seinem Schmerze erfahren müssen, daß der Handel um seinen Liebling ging, den der Landsmann, ein ältlicher Gutsbesitzer von freundlichen Formen und nicht kulturlos, zu erwerben wünschte. Sich selbst zum Trotz war er nach Kräften bemüht gewesen, den Kauf zu stande zu bringen, und hatte von dem Baron eine Einladung bekommen, sich nach der Rückkehr die Marmorbüste in seinem Parke anzuschauen, – er solle sich mit eigenen Augen überzeugen, daß ihr keine unwürdige Stätte zugedacht sei.

»Dann ist das ja gar kein verbotener Garten für uns,« rief Lilly, die Arme glückselig nach den grünen, geheimnisvollen Wänden hin ausstreckend. »Dann dürfen wir ja hernach mitten hinein.«

Aber Konrad machte ein bedenkliches Gesicht.

»So einfach ist das nicht. Denn – überleg' mal – als was sollte ich dich vorstellen? … Meine Frau bist du nicht … Meine Schwester nur für uns beide, und um uns unter sonst einem Rechtstitel zusammen 'rumzutreiben, sind wir beide zu jung.«

Eine plötzliche Bitterkeit stieg in ihr auf. Wieder einmal fühlte sie sich verachtet, verfemt, ausgestoßen aus der Gemeinschaft aller Ehrlichen.

»Hättest du mich nur zu Hause gelassen!« stieß sie hervor. »Ich bin dir ja doch nur zur Last.«

»Ach, Lilly,« sagte er, »was hab' ich von allen Marmorfrauen der Welt! Ich steh' doch lieber mit dir hinter'm Zaun, als daß ich ohne dich durch den ganzen Park stolzier'.«

Sie streichelte versöhnt und dankbar seine herabhängende Hand.

Und dann – endlich! – kam auch der Karpfen.


Zwei Stunden später schritten sie eine endlos lange, anderthalbmannshohe Mauer entlang, in der – leider – sich nirgends ein Durchguck finden ließ.

Der kam erst, als an der Parkecke das Mauerwerk ein Ende hatte und statt seiner – in rechtem Winkel weitergehend – ein hoher, moosiger Zaun das umfriedete Gebiet begrenzte.

An den Staketen vorbei blickten sie nun eine Strecke weit ins Innere hinein.

Uralte Platanen wölbten ihre Dome über schattigen Winkeln … Linden und Rüstern drängten sich dazwischen … Um Rasenplätze herum schlangen sich Blattgehänge mit großen, violetten Blumenaugen darin … Aus dem Hintergrunde, von einem Hügel her, den Schwarztannen düster umragten, schaute feierlich ein Rundtempelchen mit toskanischen Säulen und grünschillerndem Dache.

»Da müßte sie drinstehen,« sagte Konrad. Aber das Tempelchen war leer.

Sie machten sich also auf die Suche. Keine Ritze des Laubwerks entging ihnen. Hier leuchtete etwas und dort. Eine Ceres war da und ein flötenblasender Waldgott. Aus einem Zypressendickicht heraus schien eine Mariensäule zu grüßen. Doch das Marmorantlitz, nach dem sie verlangten, fand sich nicht.

Sie schritten weiter. Ein Fluß, der aus dem Innern des Parkes herausquoll, kreuzte den Weg. Eine plumpe, graue Bohlenbrücke, wie sie auf jeder Landstraße zu finden ist, führte hinüber.

Aber hundert Schritt entfernt, zum Parkgebiet gehörig, stand eine andere, die schneeweiß schimmernd ihren Bogen kühn und doch anmutig über das Wasser warf.

»So sehen die Brücken in Venedig aus,« sagte er.

»So wandelten die Götter nach Walhall,« sagte sie.

Und seufzend machten sie Halt und schilderten einander die Wonnen, die man empfinden müßte, wenn man über jene Brücke ginge.

Aber von ihrer Marmorfrau war auch hier nichts zu erblicken.

Jenseits der Brücke, dort, wo das Dorf begann, trat der Park eine Strecke weit zurück. Eine Reihe hoher Weymouthskiefern, die hinter dem Zaune entlang lief, schaute ernst herüber.

Auf der Dorfstraße herrschte sonntägliches Treiben. Klavier und Fiedel erklangen vom Tanzboden, und das Schollern einschlagender Kegelkugeln dröhnte dazwischen.

Teilnahmlos gingen beide an allem vorbei. Ihr Sinn stand nach dem »verbotenen Garten«, der von einem Augenblick zum andern ihre Sehnsucht in immer engere Bande schlug.

Zwischen den Dorflinden versteckt, kauerten bröckelnde Mauerpfeiler, an denen die morschen Zaunlatten sich mühsam festhielten.

Hier war das Laubdickicht der Innenseite den Augen undurchdringlich. Efeu und Waldrebe zogen von Stamm zu Stamm ihr Lianengeranke, und Flieder- und Spiräengebüsch erhob sich wuchernd dazwischen.

Es war, als habe der Herr des Gartens noch eine zweite lebendige Mauer gezogen, um sich und seines Lebens Gefährten in lachender Einsamkeit zu vergraben.

Eine Weile gingen sie am Zaun entlang, vergebens bemüht, wie vorhin drüben einen Durchblick zu erspähen.

Da standen sie plötzlich vor einem alten, dreiteiligen Parktor, das mit seinen Vasen und Säulen, seinem zerspellten Glockenstuhl und dem Spitzengewebe seines schmiedeisernen Gitters zwischen blühenden Akazien halb versunken dalag.

Hier endlich gab es einen offenen Blick tief in das Innere hinein.

Eine grade Tannenallee führte in dunkler Feierlichkeit dem Schlosse zu; doch von dessen Baulichkeiten war auch an dieser Stelle nichts zu sehen. Die standen wohl seitwärts, von Nadel- und Laubwerk den Blicken entzogen; – nur die vorspringende Freitreppe, auf deren Pfeilern Marmorputten ihre schneeweißen Flügel hoben, gewährte in der Ferne dem suchenden Blick ein Ausruhen.

»Ach, ist das schön!« seufzte Lilly, und dann, das Gesicht gegen die Eisenblätter pressend, verlangte sie bettelnd und in scherzender Weinerlichkeit, eingelassen zu werden.

»Genau so hab' ich damals in Ravello vor dem Gittertor gestanden, – nun weißt du, wie es tut.«

Da, als er das sagte, wurde ihr klar, daß auch ihr diese Empfindung längst nicht mehr fremd war, daß sie sie schon oftmals erlebt hatte – körperlich und seelisch – gradeso wie heute.

Wo war das doch gewesen?

Wo hatte sich ihr das kalte Eisen genau so wie hier gegen die Wangen gedrückt?

Richtig, – das war es!

So hatte sie früher manches liebe Mal vor der vergitterten Tür gestanden, die zu der Vordertreppe des Hauses Liebert & Dehnicke führte, jener stolzen, lorbeerbeschatteten Treppe, deren Stufen ihr entweihter Fuß niemals betreten würde.

Das war auch so ein verbotener Garten!

Verbotene Gärten überall! …

»Wollen wir nicht gehen?« bat sie leise. »Uns wird ja doch bloß das Herz schwer.« – – –

Hand in Hand wanderten sie den ganzen Weg zurück, so nahe als möglich am Zaun entlang, und sprachen über weitentlegene Dinge.

Aber ihre Augen wichen nicht von den umworbenen Stätten, und die gemeinsame Sehnsucht, die sie einander nicht zeigen wollten, damit kein Vorwurf hindurchklänge, verklärte und vergoldete das alles mit einem lachend-seligen Märchenschein.


Der Abend kam.

Veilchenfarbene Schleier legten sich über die Wiesen, und die kupfrigen Fichtenstämme lohten wie Fackeln. Je tiefer die sinkende Sonne in das Röhricht hineintauchte, desto mehr verlor der See sein kühles, blaues Silber und schmückte sich mit rotgoldenem Netzwerk.

Er sah nun aus, als hätte er die Erfüllung aller irdischen Verheißungen an sich gerissen und trüge sie spielend auf seinen Schultern.

Da hielt es die beiden nicht länger am Ufer.

Unten an der Badestelle des Logierhotels, wo jetzt in der Abendkühle allerhand frohes Volk durcheinander plätscherte, lag ein Boot, das für billiges Geld zu mieten war.

Konrad nahm die Ruder zur Hand, Lilly setzte sich ans Steuer.

Wasserpflanzen strichen mit leisem Sausen an den Wandungen dahin. Der Kiel schnitt durch einen wogenden Teppich von Blütenstaub.

Zwischen den junggrünen Stauden des heurigen Rohres standen gelbgrau und verwittert die Überbleibsel des Vorjahrs. Dunkle Binsen säumten die Ränder, und die Schwertlilie pflanzte ihre goldenen Zelte dazwischen …

Die Laubmassen des Parkes, der über Röhricht und Schilf hinweg zu sehen war, ragten in den Himmel wie purpurne Mauern.

Als Lilly darauf hinwies, meinte Konrad wegwerfend: »Ach was, gar nicht dran denken.«

Aber er schielte doch immer wieder hinüber.

Lilly, die kaum je in einem Boote gesessen hatte, wußte mit dem Steuer nur wenig Bescheid. Erst probierte sie eine Weile, dann warf sie, kurz entschlossen, die Stricke beiseite, breitete ihr weißes Wollentuch über die Bretter des Bodens und machte sich da unten ein Nest zurecht.

Zu Füßen Konrads niedergekauert, lag sie da, den Rücken gegen den Steuersitz gelehnt. Und so, den Blick im Blauen verloren, fing sie an, Pläne zu schmieden, wie sie ihr künftiges Leben einrichten könne, um sich mit einem verzweifelten Schwunge ins Land der Ehrlichen zurückzuretten.

Musikstunden geben – für Anfänger reichte es aus – und sich von dem Erlös für das Theater vorbereiten, wohin ihr Talent sie wies. – Oder, besser noch, für die wissenschaftliche Laufbahn … Denn ihr Geist mußte ja mit dem seinen gleichen Schritt halten lernen. Eine würdige Freundin mußte sie ihm werden, solange er ihrer Freundschaft bedurfte.

Oder – damit anderen Leuten kein Leid geschähe – ins Ausland gehen, deutsche Sprachlehrerin werden und wiederkommen als eine Neue, Entsühnte, sobald er sie rief. –

Oder – – ach was »oder!«

Liegen und träumen und das Glück dieser Stunde austrinken bis auf die Neige.

Entdeckung und Tod – eines bedeutete so viel wie das andere – kamen zeitig genug.

Die Sonne zerrann hinter blutroten Schleiern. Nähe und Ferne hüllten sich nun ganz in violetten Dunst. Alles schien zu Licht und Luft geworden, nur das Röhricht, das mit seinen schlanken, schwarzen Stäben die Abendglut durchgitterte, behielt seine Körperlichkeit.

Das Laubwerk des Parkes schmolz langsam zu einem Klumpen Finsternis zusammen.

Nun schien er zwiefach ein verbotener Garten, mit Schauern und Geheimnissen erfüllt bis zum Rande, für alle Zeiten ins Unerreichbare zurückgesunken.

Da, wie das Boot langsam an der Grenze des Schilfes dahinfuhr, tat plötzlich eine blaue Buchtung sich auf, die in der Richtung zum Parke hin keilförmig ins Land hineinschnitt und drüben an ihrer Spitze kein rechtes Ende zu haben schien.

Konrad hob die Ruder hoch, blieb ein paar Augenblicke regungslos und fuhr dann mit einem Freudenschrei in die Höhe.

»Was ist? Was ist?«

»Du besinnst dich auf den Fluß, der auf der anderen Seite aus dem Park 'raus kam?«

»Wie werd' ich nicht?«

»Der muß also auch irgendwie 'rein gekommen sein, – was?«

»Natürlich.«

Er wies mit der Hand nach dem hellglänzenden Zipfel.

»Das ist er.«

»Und du meinst am Ende – –?« Sie wagte es gar nicht auszudenken.

»Ich meine, wir durchqueren jetzt zu Wasser den ganzen dunklen Erdteil.«

So glückselig war sie, daß sie jubelnd aufsprang und ihm einfach um den Hals fiel, als ob es zwischen ihnen niemals Abmachungen und Schwüre gegeben hätte.

Langsam glitt das Boot in den Flußlauf – zwischen weidenbestandene Wiesen, auf denen in weißen Schwaden die Abendnebel ruhten. Blinkende Bauernhäuschen standen dahinter, und Fischernetze spannten sich von Zaun zu Zaun.

Dann – bei einer Biegung – tat sich in mächtiger Wölbung ein dunkles Laubtor vor ihnen auf.

»O Gott!« rief Lilly.

»Pscht!« machte er. »Von nun an muß alles ganz heimlich geschehen, sonst werden wir am Ende wieder an die Luft gesetzt.«

Sein Ruderschlag war jetzt so leise, daß man ihn mit dem Plätschern eines springenden Fisches hätte verwechseln können.

So fuhren sie in die Höhlung hinein, in der die von hüben und drüben vorgeneigten Zweige sich zu einem krausen Dickicht verschränkten. Und stockdunkle Nacht umgab sie. Nur von rechts her drang hie und da ein Schein von sommerlicher Dämmerung zu ihnen nieder.

Auch Lampenlicht zuckte dazwischen, und Stimmengewirr erklang und Lachen und Gläserklirren – und ab und zu ein Akkord, wie wenn jemand mitten im Plaudern achtlos über die Tasten fährt.

Das Laubwerk wich auseinander. Der Blick nach dem Schlosse wurde frei. – Ein breiter, zweistöckiger Kasten, dessen derbe Schlichtheit in eine Zeit zurückwies, in der märkische Granden für künstlerische Daseinsgestaltung noch keinen Sinn besaßen. – Aber von der Freitreppe her schimmerten die Marmorputten, die sie Nachmittags aus der Ferne gegrüßt hatten.

Zwischen deren weißen Leibern saßen auf der Terrasse an langer Tafel, vom ungewissen Scheine der Windlampen fleckig beleuchtet, schwatzende, lachende, singende Gäste und schienen mit dem Wein zugleich den Rausch des Sommerabends in sich hineinzutrinken.

»Dort könnte er jetzt auch sitzen, wenn ich nicht an ihm hinge,« dachte Lilly, und ihr war, als müsse sie ihm Abbitte leisten.

Die Strömung trieb das Boot weiter. Wie die Vision eines Augenblicks schwand das Gastmahl dahin.

Am Giebelende des Schlosses vorbei, wo hinter den hellen Fenstern der Wirtschaftsräume dienstbereite Geister geschäftig auf und nieder rannten, glitten sie wieder in die dunkle Stille hinein.

Auf der rechten Seite ein Rasenplatz, die Rückseite des vielfenstrigen Baues begrenzend, mit alten Statuen und efeuumschlungenen Urnen darauf – auf der linken schon alles in Finsternis vergraben. Hier führte eine Lindenallee, die nach Jahrhunderten zählen mochte, am Flusse entlang und erstickte in ihren dunklen Hallen jeden Lichtstrahl.

Vielleicht barg sich hier das Marmorangesicht, nach dem ihrer beider Sehnsucht stand und nach dem Lilly in alle Winkel spähte, schweigend und heimlich, damit die Freude des Wiederfindens ihm nicht entrissen würde.

Die Bogenbrücke, die ihnen am Tage von weitem geleuchtet hatte, näherte sich.

Nach Walhall führte sie freilich nicht, sondern von einem Spiräenbusch in einen Hanfbusch, und unter ihrer Wölbung schlief ein Schwanenpaar, das vom Ruderschlag erwachte und um Brot bettelnd mit geblähten Flügeln hinter dem Kahne daherschwamm.

»Schwäne haben bloß noch gefehlt!« jubelte Lilly leise und suchte vergeblich nach einer Krume.

Dann, um ihnen besser nachzuschauen, drehte sie sich um, so daß ihr Nacken seine Kniee berührte.

»Darf ich so bleiben?« fragte sie ein wenig ängstlich.

»Wenn du's bequem hast,« antwortete er. Und in seiner Stimme lag ein liebkosendes Nachgeben, das ihr warm durch alle Glieder rann.

Um ihren Hut nicht zu zerdrücken, löste sie ihn und legte ihn auf das Sitzbrett am Steuer.

Nun konnte sie auch den Kopf ein wenig an ihn lehnen, und mit süßem Erschrecken spürte sie, wie seine Hand für einen Augenblick streichelnd über ihren Scheitel glitt.

Aber er schien schweigsam und in sich gekehrt, als drücke ihn eine Last, deren er nicht Herr werden konnte.

Und wieder war es ihr wie sonst auch oft, als hinge etwas wie ein Schleier zwischen ihm und ihr, ein Schleier, der selten wich und der ihr die wahren Züge seines Wesens zu verdunkeln schien, mochte sie sich noch so eng in Liebe an ihn schmiegen.

»Ach, wär' er doch froh!«

Der Park ging zu Ende.

Das Abendrot, durch keine Laubwand mehr verhüllt, flammte zudringlich über sie her. Der Zauber drohte zu verfliegen. Die Welt wurde nun wieder wie überall.

»Komm umkehren,« bat sie leise.

Und sie kehrten um und steuerten von neuem in die holdselige Halbnacht hinein.

Aber jetzt mußte er mit den Rudern ausgreifen, denn es ging stromauf, und Geräusch ließ sich nicht mehr vermeiden.

»Wenn sie uns nur nicht abfassen,« sagte er.

»Ach, die sind selber zu glücklich,« erwiderte sie, »die tun keinem Glücklichen was.«

»Es sieht ja beinah' aus wie eine Glücksburg, aber wer kann wissen, ob es nicht Attrappe ist?«

»Warum sollt' es das?«

»Ach du lieber Gott! Mit Blumen läßt sich die schwerste Wunde zudecken, und mancher Mann begräbt sich in Schönheit, weil er damit seine Kraft begräbt.«

Dieser Zweifel gefiel ihr nicht.

»Sie sollen aber glücklich sein,« rief sie leise. »Wer so viel geben kann wie die heute uns, der hat auch für sich genug.«

»Der Schluß stimmt nicht, Liebling,« erwiderte er. »Man kann einen Bettler zum reichen Manne machen und dabei ärmer sein als eine Kirchenmaus.«

»Sind wir denn Bettler?« fragte sie, sich zärtlich an ihm emporziehend.

»Nein, wahrhaftig! Wir sind keine Bettler,« erwiderte er hochaufatmend.

Dann kam ein Schweigen, und dann war es ihr, als fiele etwas Warmes, Feuchtes auf ihre Stirn herab.

Um Gotteswillen! er weinte. Weinte vor Glück!

Wie hatte sie das verdient. Sie, Lilly Czepanek, sie, die – –?

Um ihm die eigenen Tränen nicht zu zeigen, kroch sie ganz in sich zusammen. Es war zuviel. Gar nicht zum Aushalten war's. Man wollte schluchzen, schreien, ihm die Hände küssen, und man mußte die Fäuste einkneifen und die Handschuhe zwischen die Zähne stopfen, damit er ja nicht merkte, wie's in einem aussah.

Eine Wohltat schien es, daß, als sie sich langsam wieder dem Schlosse näherten, der Gesang einer Frauenstimme ihnen entgegenkam.

In dunklen, hallenden Tönen, mit herzaufpeitschenden Steigerungen durchsetzt, schlug er an ihr Ohr.

Was war das doch? Das war doch aus Tristan? Sie hatte ihn von der Bühne noch niemals gehört, aber das konnte nur aus Tristan sein.

Fragend hob sie den Kopf.

»Isoldens Liebestod,« flüsterte Konrad, sich zu ihrem Ohre neigend.

Im tiefsten Dunkel stieß er das Boot ans Land. Kein Hauch durfte ihnen verloren gehen.

Oben auf der Terrasse waren Lachen und Schwatzen verstummt. Nur die Nachtigall im Lindendickicht ließ sich nicht stören und mischte ihre süße Raserei in das Todesjauchzen der Frau, die uns wie kein anderes Gebilde aus Gottes- oder Menschenhand das Nichtmehrdaseinwollen als höchste Bejahung des Seins empfinden lehrt.

Lilly, zitternd am ganzen Leibe, streckte die Hände über den Rücken weg nach den seinen aus. Sie mußte sich an ihm halten. Sie glaubte ins Leere zu sinken, wenn sie sich nicht an ihm hielt. Und erst, als sie seine warmen Finger zwischen den ihren fühlte, wurde sie ruhiger.

Der letzte Ton verflog. Die gewaltigen Arpeggien des Nachspiels starben dahin.

Kein Beifallslärm wurde laut. Ein jeder der Fröhlichen dort oben hatte begriffen, was er dem Augenblicke schuldig war.

Konrad löste mit einem schweigenden Druck seine Hände aus den ihren und griff aufs neue nach den Rudern.

Sie wehrte ihm nicht.

Der verbotene Garten versank …

Auf den Wiesen lag nun der rote Dämmer der Frühnacht. Kein Laut weit und breit. Trotzdem schien die ganze Welt erfüllt von Harfenklang und hallendem Gesang.

»Gesehen haben wir deine Marmorfrau nicht,« flüsterte Lilly, seine Kniee streichelnd, »aber ich muß immer denken, es ist vorhin ihre Stimme gewesen.«

»Ich denk' mir schon lange dasselbe,« stieß er leidenschaftlich hervor. »Sie sang auch gar nicht für die braven Leute da oben, sondern ganz allein für uns.«

»Ach, wenn ich's bloß nachsingen könnte!« seufzte sie.

»Versuch's doch.«

Vier, fünf Töne fand sie. Hier heraus und dort heraus. Aber es wollte sich nicht zum Ganzen fügen. – Auch drängte sich etwas anderes dazwischen, das in diesem Augenblicke mächtiger als alles in die Höhe quoll.

Mit dem Hohen Liede des Größten und des Reichsten mischte sich unbegehrt und ungerufen ihr eigenes armes Hohes Lied.

Und in das weite Schweigen sang sie hinaus:

»Du, den meine Seele liebt,
Sag' mir, wo Du Deine Herden weidest,
Sag' mir, wo Du schläfst im Mittagschatten,
Denn sonst muß ich irrend – –«

Sie hielt inne.

»Was ist das?« fragte er. »Das kenn' ich ja gar nicht.«

»Das ist – mein – Hohes – Lied,« erwiderte sie schwer aufatmend.

Noch nie hatte sie den Namen vor irgend einer Menschenseele in den Mund genommen.

» Dein Hohes Lied?« fragte er verwundert.

Da wurde es ihr plötzlich klar: Eine Stunde wie diese würde nie mehr kommen.

Dies war die Stunde, ihm das Geheimnis ihrer Jugend ans Herz zu legen.

»Wirf die Ruder hin und hör zu. Ich will dir etwas anvertrauen. Es wird dir vielleicht dumm erscheinen und albern. Aber mir war es immer wie ein Heiligtum.«

Wortlos legte er die Ruder über die Wandung.

»Du mußt dich auch neben mich setzen, damit ich dich ansehn kann.«

Er sandte einen prüfenden Blick nach dem Wasser ringsum.

Das Boot schwamm längst wieder ruhig auf dem Spiegel des Sees, auf dem alles Licht der Sommernacht sich in schillernd blauen und purpurnen Flächen gesammelt hatte. Nirgends eine Spur von Gefahr.

Dann tat er, wie sie verlangt hatte.

Sie hockten nun dicht aneinander gedrückt auf dem Boden des Kahns, mit den Köpfen gegen die Bank gelehnt, auf der Konrad so lange gesessen hatte.

Und sie erzählte.

Erzählte von dem Vermächtnis, das der verschwundene und verschollene Vater hinterlassen hatte, und welch eine Macht zu allen Zeiten davon ausgegangen war … Seien ihre Mädchenjahre schon ganz und gar davon erfüllt gewesen, so habe es später noch eine weit höhere und geheimnisvollere Bedeutung erlangt. Wie ein Sinnbild ihres Tuns und Treibens wäre es geworden. Wenn ihr Leben in Wirrsal und Nichtigkeit zerrann, dann hätte es geschwiegen, – oft Jahre lang – wenn aber ihre Seele einen Aufschwung nahm, wenn ihr Handeln und ihr Hoffen miteinander in Einklang standen, dann wäre es mit einemmal wieder dagewesen. Mit seinem leisen Singen hätte es ihr das Böse der Welt übertönt … Vor Schuld und Schmach hätte es sie nicht behüten können, aber sie innerlich wenigstens frei zu halten und empfängnisfähig für den, der da einst kommen sollte, das hätte es wohl vermocht.

Und nun dieser eine wirklich gekommen, da sei ihr zu Mute, als habe die Stunde der Erfüllung wie für sie, auch für ihr Hohes Lied geschlagen. Als müsse es jetzt ausziehen in alle Welt, sich alle Herzen erobern und seinem Schöpfer, wie ihr selbst, Entsühnung und Erhöhung bringen.

Sie hatte sich so in Begeisterung geredet, daß Ort und Stunde und alles versanken.

Nur den einen Gedanken hatte sie, ihm noch mehr von ihrem Innersten und Heiligsten vor die Füße zu werfen. Aber es war alles gesagt, mehr als sie geglaubt, daß sie je einem Menschen sagen würde. Mehr als sie bis zu dieser Stunde von sich selbst gewußt hatte.

Was als gut und hochgesinnt und hoffnungsvoll noch in ihr lebte, das hielt er jetzt in seinen Händen … Das andere – das Schlaffe, das Unreine, das, was ihr Herz und Leben verdorben hatte – das war nicht mehr da, das ging sie nichts mehr an.

Bei ihrem Erzählen hätte sie ihn gern ansehen wollen und hatte es doch nicht zu stande gebracht.

Nun sie fertig war, wagte sie sich ein wenig nach seiner Seite zu wenden.

Da gewahrte sie, daß sein Auge mit einem eigentümlich wirren, trunkenen Blicke auf ihr ruhte, einem Blick, den sie noch niemals an ihm wahrgenommen hatte, denn er pflegte seine Empfindungen stets wie zwischen zwei Fäusten zu halten.

Ihr Herz fing an zu pochen, und die hoffende Unruhe, die kein Ziel und keinen Namen hatte, wurde so stark, daß sie glaubte, ans äußerste Ende des Bootes fliehen zu müssen, um in seiner Nähe nicht zu ersticken.

Da sah sie, daß er die Augen schloß und den Kopf hart nach hintenüber gegen die Bank warf.

»Du wirst dir wehe tun,« flüsterte sie, und statt vor ihm zu fliehen, wie sie gewollt hatte, legte sie ihren Arm als Kissen zwischen seinen Hals und die drückende Kante.

Nun lag er an ihrer Brust und atmete schwer.

»Soll ich dir noch was draus singen?« fragte sie, zärtlich zu ihm niedergebeugt.

»Ja, ja, ja,« stieß er heraus.

Und sie sang, – mit halber, liebkosender Stimme, als wären es Wiegenlieder – sang alle jene Arien und Oden, die seit dem Tage, da die Seele der Mutter in ewige Nacht versunken war, nie mehr eines Menschen Ohr von ihr vernommen hatte.

Das von der »Rose im Tal« und der »Blume zu Saron«. Und jenes andere, in dem alle Zauber des Frühlings durcheinander klangen:

»Sieh', der Winter ist vergangen,
Blumen blühn in allen Landen,
Und die wilde Taube girrt.«

Mehr noch sang sie, immer noch mehr.

Wenn sie ihn fragte: »Ist's nun genug?« dann schüttelte er nur den Kopf und drückte sich enger in das weiche Nest.

Einmal schaute sie flüchtig auf und gewahrte, daß sie fest im Röhricht saßen, und daß es nun vollends Nacht geworden war.

Aber was kümmerte sie das? Irgendwie würden sie schon nach Hause kommen.

Nun fehlten nicht mehr viele: »Lege mich wie ein Siegel an dein Herz« und »Wie schön wandelst du, o Fürstentochter«.

Und dann vor allem jenes, dessen Beginn so seltsam mit den Erlebnissen des heutigen Tages zu stimmen schien:

»Laß uns wandern, Liebster, weit ins Feld.«

Zum Schluß hin freilich, wo es hieß:

»Laß uns schauen, ob der Rebstock blüht,«

da wollte es nicht recht mehr vorwärts gehen.

»Wo der Wein und die Granate blüht,
Will ich Dir mit lechzend offnen Lippen – –«

Weiter kam sie nicht. Der Atem fing an, ihr zu fehlen.

»Warum singst du nicht?« hörte sie seine Stimme sagen.

Ein Bienensummen, ein Glockenläuten war ringsherum.

»Tapfer sein,« schrie es in ihr, »sonst verlierst du ihn.«

Dabei fühlte sie, wie zwei zuckende Lippen sich nach den ihren hintasteten.

Und da ging's denn rasch zu Ende mit aller Tapferkeit.


Mitternacht war längst vorüber, als das Boot ans Ufer stieß.

Die Badestelle lag dunkel und verlassen da, aber in dem Logierhotel schimmerte noch Licht.

Sehr zaghaft klingelten sie an der Tür.

Für verspätete junge Ehepaare sei immer noch ein Zimmer frei, sagte die dienstfertig lächelnde Wirtin.


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