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Lilly kränkelte. Kopfweh, Herzbeklemmungen, Müdigkeit, schlaflose Nächte, auch ab und zu ein Schwindelanfall. –
Der Arzt, der auf Herrn Dehnickes Betreiben gerufen wurde, ein vielgeschäftiger Hausabklapperer, sah sich vorerst aufmerksam in der Wohnung um – ein Milieu, das er zu kennen schien – und verordnete dann, ohne viel zu untersuchen, gesellschaftliche Zerstreuungen, Spazierengehen und Eisen – besonders viel Eisen.
Die Zerstreuungen mußten wegfallen, denn es fehlte an Gelegenheit, sie sich zu verschaffen, und auch mit dem Spazierengehen war es eine heikle Sache. Allein mochte sie nicht umhertrotten, und Dehnicke, der einzige, der zur Begleitung da war, liebte es nicht, häufig mit ihr auf der Straße gesehen zu werden. Um sie für späterhin nicht zu kompromittieren, wie er sagte. Die Wahrheit war wohl, daß er selbst durch die fremdartige und blumenhafte Schönheit seiner Gefährtin aufzufallen fürchtete.
Denn es mochte sich ereignen, was da wollte, Kummer, Not, Demütigungen aller Art mochten über sie dahergefegt sein, Langeweile und Ungenügen mit sich selbst mochten ihr Gemüt zermürben, ihr Äußeres verlor nichts dadurch. Im Gegenteil. Das milchig zarte Weiß, dem das straffe Goldbraun ihrer Wangen gewichen war, gab ihr einen neuen, weichen Reiz. Die großen, schmalen, langwimprigen Augen mit den schwer gesenkten Lidern – jene unwahrscheinlichen Lillyaugen – hatten einen müden, gebrochenen Glanz bekommen, als lägen alle schmerzlichen Rätsel der Welt hinter ihren Schleiern verborgen. Dazu kam noch die Junge-Königingestalt, die im letzten Jahre schlanker geworden war und das Frauenhaft-Ruhevolle von ehedem wieder verloren hatte. Man konnte sich wohl erklären, daß männiglich den Kopf nach ihr drehte und auch ihrem glücklichen Begleiter, den sie um ein Erkleckliches überragte, einen mitleidig-neidischen Seitenblick gönnte.
Und da er das alles gewahrte und als gesetzter und wohlangesehener Geschäftsmann nicht unnütz ins Gerede kommen wollte, so blieb er lieber mit ihr in ihren vier Wänden. –
Um die Mitte des Februar ereignete es sich, daß die Post ihr eine Einladung des Herrn Kellermann brachte, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
Das klang ulkig genug, und Herr Dehnicke, der zufällig auch geladen war, redete so energisch auf sie ein, daß sie ihre Scheu besiegte und zusagte.
Aber als der große Tag da war, packte sie eine solche Angst, daß sie am liebsten Reißaus genommen hätte.
Sie sah sich Spießruten laufen durch eine Schar hämischer Gaffer, die die Geschichte ihrer Erhebung und ihres Falles lächelnd hinter ihr her tuschelten. Sie sah sich vernachlässigt, gemieden und mit höhnischen Seitenhieben bedacht. Alle Qualen der Deklassierten machte sie durch, die sich mit dem Kainszeichen der ertappten Sünderin auf der Stirn durchs Leben schleppen müssen.
Das schönste ihrer Dresdener Kleider hatte sie gewählt, ein weißseidenes, mit goldenen Ranken besticktes Empirekleid, das inzwischen erst recht modern geworden war, hatte ein schmales Kettenarmband diademartig durchs Haar gewunden und einen golddurchwirkten arabischen Schleier lose darüber gelegt, so daß er nötigenfalls auch die Nacktheit des Busens verhüllen konnte, und erschien sich schließlich so verabscheuenswert häßlich und auffallend, daß sie sich schon deswegen nicht zeigen zu dürfen glaubte.
Erst als ihr Freund sie abholen kam und mit einem leisen, staunenden Ausruf die Türklinke in der Hand behielt, wagte sie wieder ein ganz klein wenig zu hoffen.
»Wird es so gehen?« fragte sie mit einem furchtsamen Lächeln, das um Ermutigung flehte. Aber er antwortete nichts, lief schwer atmend im Zimmer hin und her und würgte an unausgesprochenen Worten. Und diese stumme Rede verstand sie gleich.
Als sie im Wagen an seiner Seite saß, ergriff sie ein neuer Angstanfall.
»Aber nicht wahr,« flehte sie, »Sie bleiben bei mir, Sie weichen nicht von meiner Seite, Sie dulden nicht, daß ein Fremder mich anredet.«
Er versprach alles.
Vier Treppen in die Höhe – ein Weg, den sie wohl kannte.
Der Treppenflur mit Garderobenständern vollgestellt, an denen ehrfurchtgebietende Pelze und demütigende Spitzenmäntel hingen.
Sie umklammerte seinen Arm.
Hinein ins Verderben!
Der große Vorraum, in den bei Tage kein Lichtstrahl drang und den Herr Kellermann als Küche, Schlaf- und Eßzimmer zu benutzen pflegte, war durch Tannenbäume, an denen viele bunte Lampions sich schaukelten, in eine Art von Märchenwald verwandelt worden, in dessen rötlichem Dämmer etliche Paare auf schmalen Rohrbänkchen lächelnd und flüsternd beieinander saßen. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie den Kommenden nur wenig Aufmerksamkeit schenkten.
Umso lebhafter wurde Lillys Eintritt in dem Atelier selber begrüßt, das ein glitzernd heller Menschenhaufe ganz zu füllen schien. Ein allgemeines »Ah« ertönte, dem Kirchenstille folgte. – Eine Gasse bildete sich, und Lilly machte eine Bewegung, als müsse sie sich hinter ihrem Freunde verkriechen. Aber der reichte ihr ja gerade nur bis an die Nase.
Da kam auch schon Herr Kellermann ihnen entgegen geeilt. Er trug ein braunsamtnes Jackenkostüm mit Pluderhosen und einer phrygischen Mütze auf dem Kopfe, wie denn überhaupt ein jeder angezogen hatte, was ihm originell und kleidsam erschienen war.
»Willkommen, Göttin, Königin!« schrie er, so daß alle es hören konnten, und da ihm weiter nichts einzufallen schien, küßte er ihren behandschuhten Unterarm vom Handgelenk bis zum Ellenbogen hinauf.
Dann bat er sie herumführen zu dürfen, um ihr die unvergleichlichen Einrichtungen seines neuen Minnehofes zu zeigen. Und sie folgte ihm, nachdem sie ihren Freund mit einem leisen Worte noch einmal ermahnt hatte, ja in der Nähe zu bleiben.
Die Glasdecke des Atelierraumes hatte sich durch elektrische Lämpchen, die auf der Außenseite in freier Luft schwebten, in einen vielfarbigen Sternenhimmel verwandelt. Wenn man den Kopf nach oben wandte, glaubte man in der Tat tausend kleine Sonnen aus der Nacht herniederleuchten zu sehen.
Die linke Giebelseite war durch Teppich- und Efeuwände in eine Anzahl schmaler Lauben geteilt worden, deren Eingänge bunte japanische Glasschnüre verhüllten und über deren jedem ein großes gedrucktes Plakat eine vielsagende Inschrift trug.
Auf dem ersten stand geschrieben: »Laube der laxen Moral«, und als Lilly daraufhin ihren Führer erschrocken ansah, meinte er lächelnd: »Das ist nur für den Anfang, für Backfische und Kaffeekränzchenseelen wie Sie.« – »Aber du sollst mich hören stärker beschwören,« fügte er hinzu und wies auf den zweiten Eingang, dessen Inschrift lautete: »Laube der ehrlosen Gelöbnisse«.
»Ach, das ist ja schrecklich!« rief sie, rechtschaffen entsetzt, und Kellermann wollte sich vor Lachen ausschütten.
Als sie aber über den nächsten beiden gar lesen mußte: »Laube des Rechts auf Mutterschaft« und »Laube des Schreies nach dem Manne«, da sagte sie gar nichts mehr.
Auch eine »Pulverkammer« war da und eine »perverse Laube«, aber dieses letzte verstand sie nicht.
»Nun wollen wir nach der Verbrecherseite hinüber,« sagte Herr Kellermann und führte sie quer durch den Menschenhaufen, in dem bei ihrem Wiederkommen ein Fingerzeigen, ein Zischeln, ein Raunen anhub – aber kein gehässiges, Schmach in sich bergendes. Nein, es war wie eine Huldigung, wie ein unterdrückter Triumphruf.
Ihre Brust weitete sich. Eine leise, demütige Glücksempfindung verbreitete sich durch ihren Körper wie ein heißer Wein.
Sie warf die Enden des Goldschleiers über den Nacken zurück, sie brauchte sich nicht mehr zu schämen, Hals und Schultern nackt zu tragen. In den Blicken, die sich ihr entgegenwandten, las sie, daß niemand sie verhöhnen würde.
Zur »Verbrecherseite« gelangte sie fürs erste nicht mehr. Denn es waren so viele Herren da, die ihr vorgestellt sein wollten, daß Herr Kellermann übergenug zu tun hatte, ihr alle die fremden Namen herzuzählen.
Von nun an wurde das ganze Fest etwas durchaus Unwirkliches, ein Traumland, eine Märchenwiese, auf der fremde, großäugige Blumen blühten, – wo aus rotsonnigen Nebeln betäubende Düfte zu Sinnen stiegen, – wo Lachen und Jauchzen und Flüstern, – wo nie gehörte kühne Schmeichelworte durcheinanderwogten, – wo alles nur dazu da war, von ihr gekostet und bewundert und geliebt zu werden.
Ja, sie liebte sie alle – Männlein und Weiblein, wie sie kamen. Alle waren edle, gute, von köstlichen Einfällen schillernde, zu Freundschaftsdiensten bereite, goldene Seelen; jeder erweckte eine neue Hoffnung, jeder brachte ein neues Glück.
Sie fühlte, wie ihre Wangen glühten, wie in ihren Augen ein seliges Rauschfeuer entbrannte.
Und wen sie so anschaute, in dem zuckte es auf, aus dessen Blicken grüßte sie ein Leuchten, das wie aus einem Spiegel ihres eigenen Glückes zu kommen schien.
Das war nicht mehr eine andere, fremde, jene Lilly, die da lachte und Scherzworte erwiderte und mit leicht verschmerztem Bedauern von einem Arm zum anderen glitt – in immer gleichem und immer neuem Spiel, – das war sie selbst und doppelt und dreifach sie selbst.
Und manchmal, wenn die Anrede eines Herrn zu dreist geraten war, wenn hinter einem Witz ein allzufreier Doppelsinn zu lauern schien, so daß sie ängstlich werdend nichts zu entgegnen wußte und sich in unwillkürlichem Hilfesuchen nach der Seite wandte, dann fand sie auch immer ihren Freund irgendwo in der Nähe, mit einem gleichsam zufälligen Seitenblick nach ihr herüberschielend.
Das gab ihr ein köstliches Ruhegefühl, ein Bewußtsein des Umsorgt- und Geborgenseins, so daß sie wieder doppelt lustig werden konnte und auch allzu Gewagtes nicht mehr übelnahm.
Einmal hörte sie hinter sich die Frage: »Wer ist der Glückspilz, der die zur Mätresse hat?«
Und eine andere Stimme erwiderte: »Ein kleiner Cuivrepolifritze. Dort steht er.«
Das machte sie für einen Augenblick bedenklich, obgleich sie nicht wissen konnte, auf wen es gemünzt war. Aber im Taumel der Ereignisse vergaß sie es wieder.
Ach, wen lernte sie nicht alles kennen!
Da waren junge Dandies in Frack und weißblumiger Seidenweste, die ihr eine wilde Cour schnitten und gleichsam beiläufig, aber mit sichtbarer innerer Spannung, fragten, an welchem Tage der Woche sie ihren »Jour« habe. – Ach, sie hatte ja leider noch keinen, sie lebte ja immer noch ganz einsam.
Da waren düstre Weltschmerzler mit langen Haarsträhnen und ungeheuren Krawatten, die sie von »seelischer Hochspannung« und dem »spezifischen Gleichgewicht verwandter Individualitäten« zu unterhalten wußten, Themata, die ihrer Seele sehr wohl taten … Als der eine von ihnen sie unentwegt mit »Exzellenz« anredete und sie ihn fragte, warum er das täte, da stutzte er und meinte, er hätte gehört, sie wäre – aber dann unterbrach er sich mit dem mageren Scherzwort, sie wäre unter diesen Durchschnittsweibern so »exzellent«, daß er eine passendere Anrede nicht hätte finden können.
Da war unter anderen ein übermütiger Lebegreis, dessen Namen sie auf manchem schönen Bilde mit Ehrfurcht gelesen hatte und dem sie lieber die Hände geküßt hätte, als daß sie sich von ihm mit jünglingshafter Drolligkeit umtänzelt sah.
Da waren noch viele andere, die ihre Wißbegier erweckten, über deren Stand und Charakter sie aber nichts eigentliches erfahren konnte.
Sogar ein wirklicher Prinz war da. Ein blasses, blondes, sehr junges Kerlchen, das aber nicht wagte, sich mit ihr bekannt machen zu lassen, da seine Geliebte drohend in der Nähe stand, und das darum nur immer im Bogen um sie herumstrich.
Die Frauen erwiesen sich naturgemäß als zurückhaltender, aber wer kam, um ihre Bekanntschaft zu suchen, gab sich mit überströmender Herzlichkeit.
Eine näherte sich ihr: ein brünettes, üppig-schönes Geschöpf mit unsicheren Glutaugen und einem töricht-anschmiegsamen Lächeln.
»Wir müssen Freundinnen werden,« sagte sie, »ich werde Sie mit meinem Freunde bekannt machen, so daß wir nachher zum Souper eine Familie bilden können.«
Und eine andere: ein überschlankes, die meisten der Männer überragendes junges Mädchen, mit zwei ruhigen, blauen Leuchtfeuern im Gesicht; das wandelte in langem, weißseidenem Sezessionsgewande, wie eine Traumerscheinung anzuschauen, unberührt und unbekümmert durch das Gewühl, sprach, ohne den Kopf zu bewegen, und lächelte, ohne die Mundwinkel zu verziehen. Sie war eine junge Dänin, die Malerei studierte und dabei »das Leben lebte«, wie sie sich ausdrückte.
»Wer sind Sie?« fragte sie Lilly. »Sie sind anders als die andern. Wer hierher kommt und sich nicht vom Strome treiben lassen will, der muß starke Arme haben.«
Sie warf mit einer kühnen Gebärde die weitfaltigen Ärmel ihres Gewandes bis über die Achseln zurück, so daß zwei blütenweiße, sanftanschwellende wundervolle Arme säulenhaft aufsteigend darunter zum Vorschein kamen.
Hierauf wandelte sie weiter.
Und eine Dritte: eine grellblond leuchtende, sehr elegante, nicht mehr junge Frau, deren hübsches, gutmütig dreinschauendes Gesicht von der Sonne dunkelbraun verbrannt war, und die Lilly mit einem fröhlichen Aufblitzen des Auges die Hand entgegenstreckte wie eine alte Bekannte.
»Ach, sind Sie lieb und sind Sie schön!« sagte sie leise. »Wir sind alle hierher verflogen und wissen nicht, wie? Und wir wissen auch nicht einmal, ob es uns leid tun soll. Wo kommen Sie eigentlich her? Ich heiße« – und sie nannte den Namen eines großen Musikers, der in dem Hause des Kapellmeisters Czepanek eine Art von Halbgott gewesen war.
»Ja, Welters ehemalige Frau – die bin ich,« fügte sie heiter hinzu und wandte sich zu dem Herrn zurück, an dessen Arme sie gekommen war …
»Gerade so eine Generalin wie ich,« dachte Lilly, ihr nachschauend.
Auch etliche Ehepaare fanden sich vor. Meistens sehr junge und extravagant gekleidete Leutchen, anfangs zaghaft und großäugig aneinander gedrückt, später umhertollend wie losgelassene Affen. Und unter ihnen eines, das nur durch einen schlechten Scherz hierher verschlagen schien: ein richtiger, behäbig dreinschauender Weißbierphilister mit seiner braven, dicken, schwarzseidenen Ehehälfte – der Hauswirt, wie Lilly erfuhr, ein wohlhabender Bäckermeister, der zum Lohne dafür, daß er seinen Oberstock gutwillig hatte umkrempeln lassen, miteingeladen worden war. Die beiden fühlten sich aber durchaus nicht ängstlich oder am unrechten Platze, sie machten derb zutappende Witze und waren stets von einem Haufen dankbarer Lacher umgeben.
Gegen zehn Uhr – Lilly war soeben von einem der Langhaarigen und Wäschelosen in ein tiefsinniges Gespräch über »falsche Menschheitswerte« verwickelt worden – da erhob sich erst vereinzelt, dann zu einem Orkan anschwellend, eine Art von Wutgeheul, aus dem sie die Worte »Hunger« und »Fütterung« heraushörte. –
Herrn Kellermanns beschwichtigende Stimme ertönte dazwischen: das Streichen der Schmalzstullen, von denen jedem Gaste eine als Abendbrot überreicht werden würde, – zu einer üppigeren Leistung könne ein armer Malersmann sich nicht emporschwingen – hätte aus naheliegenden Gründen eine Unterbrechung erfahren. Es wäre rasch mal zum Budiker geschickt worden, um den fehlenden Rest in Eile auszuborgen, und solange möchten die Herrschaften noch Geduld haben. Für die ganzHungrigen, denen es auf ein Menschenleben nicht ankäme, wären übrigens im »Giftschranke« Arsenikbemmchen und Strychninbonbons noch zur Genüge vorhanden.
Die Menschenmasse brandete nach der »Verbrecherseite« hin, wo um der angekündigten » crimes passionels« willen ein ganzes Arsenal von Todesmitteln in Bereitschaft stand. Hanfschlingen pendelten vom Glasdach hernieder, Leitern führten zu Abgründen, sogar eine Kanone war aufgefahren. Alsbald riß man sich die vergifteten Brötchen aus den Händen, während gutherzige Seelen selbst dem Fremdesten etwas »zum Abbeißen« gaben.
Dann kam das Souper selber.
Zwischen den Tannen des Vorraumes war ein Büfett hergerichtet, auf dem Herrlichkeiten in ganzen Bergen – Yorkschinken und kaltes Wild und Hummern und Lachsschnitte und, weiß Gott, was sonst noch – des Ansturmes harrten. Und dieser Ansturm war so mächtig, daß zwar das Büfett – das wohlweislich gegen eine Wand gelehnt war – nicht aber der Tannenwald ihm stand hielt … Äste knackten, Stämme brachen, und zwischen den rollenden Kübeln wälzten sich lachende, fluchende Menschenknäuel.
Da kam jemand auf den erlösenden Gedanken, den ganzen Wald ins untere Stockwerk hinabzuwerfen. Die Lampions wurden ausgemacht, und alsbald flog, trotz der Einsprache des Hauswirts, der für die Ruhe der anderen Mieter fürchtete, Baum nach Baum die Treppenstufen hinab, auf dem unteren Podeste zu einem Dickicht sich stauend.
Die hellen Kleider der Damen waren ganz mit Tannennadeln überstreut, Tannennadeln saßen in Hals und Haaren, alles duftete nach Weihnachten.
Und schließlich konnte man vor Lachen kaum essen.
Übrigens fehlte es auch jetzt noch an Platz.
Vor allem war nicht die genügende Zahl von Tischen und Stühlen vorhanden, und um dem Teller wenigstens auf dem Schoße einen Ruheplatz geben zu können, hockte man dicht zusammengedrängt auf den Treppenstufen nieder und fütterte einander in der Richtung von oben nach unten, je nachdem neuer Vorrat vom Büfett her in den Hausflur geschafft wurde.
Einige unternehmende Pioniere waren sogar auf den Tannenhaufen geklettert, wiegten sich auf dem federnden Astwerk wie Vögel im Gezweig und ließen sich ihre Nahrung auf Gabeln, die an Spazierstöcke gebunden waren, von mildtätigen Seelen in die Höhe reichen.
Lilly saß, halbkrank vor Lachen, auf einer der Stufen, ganz von fremden Herren umgeben, die alle von ihr gefüttert sein wollten. Sie war von einer solchen Glückseligkeit erfüllt, daß sie am liebsten auf der Stelle gestorben wäre, und wenn es in diesem Augenblick eine Sorge gab, so war es die, ob die fremden Herren ringsum auch alle satt würden.
Zum Schlusse kamen die verheißenen Sahnenbaisers. Sie wurden mit zusammengeklebten Schalen an langen Angelschnüren durch die Luft geschwenkt, und jeder Gast mußte sich seinen Anteil mit dem Munde zu erhaschen suchen. Wer die Hände dazu benutzen wollte, bekam eins auf die Finger.
Dieser Scherz, der anfangs neue Stürme der Tollheit erweckte, mußte alsbald als minder gelungen fallen gelassen werden, weil der aus den Schalen niedertropfende Schaum die Kleider der Damen mit Fettflecken segnete.
Auch Lillys Empiregewand bekam seinen Klecks, den aber einer der Herren niederknieend sogleich mit den Lippen fortsog.
Als nach der Mahlzeit ein Trompetenruf die Ausgewanderten ins Atelier zurückrief, waren alle unglücklich, und Lilly war es am meisten.
Doch als sie jetzt ihren Freund wiedersah, den sie ganz vergessen hatte, tröstete sie sich rasch und, an seinen Arm geschmiegt, berichtete sie ihm strahlend, unter Lachschauern, was sie inzwischen alles erlebt hatte.
Und wieder war es ihr, als sähe sie die Blicke derer, an denen sie vorbeiglitt, mit einem eigentümlichen Ernst auf sich gerichtet. Etwas wie Rührung oder Mitleid lag darin, aber sie hatte zu viel zu erzählen, als daß sie darüber hätte nachdenken können.
Als hierauf die Vorträge begannen, bat sie ihren Freund an ihrer Seite zu bleiben. Sie habe genug herumgeschwärmt, sagte sie, und brauche jetzt etwas Heimatliches.
Er drückte dankbar seinen Arm gegen den ihren.
»Warum zittern Sie so?« fragte sie verwundert.
»Ach nur so,« erwiderte er leichthin.
Der erste der Vortragenden war einer der Düstern, Langhaarigen, denn etwas Ernstes, Gediegenes sollte gleichsam als Choral den Reigen der Nummern eröffnen.
Er deklamierte eine Ode, die sich »Der Höhenrauch« betitelte und in deren Verlaufe Worte wie »Qualen« und »Opalen«, »Berylle« und »Höhenwille« sich reimten.
Lilly verstand nicht eine Spur davon, aber es mußte wohl sehr schön gewesen sein, denn als er geendet hatte, erhob sich unter den Herren ein großes Beifallsgeschrei: »Bravo, Bravo! Höhenrauch! mehr Höhenrauch!«
Der düstre, wäschelose Dichter, der diese Rufe als Dacapoverlangen auffassen mußte, verbeugte sich geschmeichelt und legte von neuem los: »Der Höhenrauch, eine Ode«.
Aber da kam er schön an. »Genug, genug!« schrie man von allen Seiten, und dabei stellte es sich heraus, daß man nur dem Wunsche nach etwas Rauchbarem einen »höhenwürdigen« Ausdruck hatte geben wollen.
Dann bestieg ein dünner, sehr eleganter Herr mit blond-schwarzem Spitzbarte und funkelndem Einglas – er war Lilly als ein Doktor Salmoni vorgestellt worden – traurig lächelnd das Podium und erklärte, indem er seine linke Hand dicht unter der Nase krümmte und aufmerksam die langen Fingernägel beäugelte, er habe die Absicht, ein geistiges Inventar des heutigen Abends aufzunehmen, und werde zu solchem Zwecke den sozusagen »destruktiven Aufbau dieser gesellschaftlichen Unform« einer kleinen Betrachtung unterwerfen.
Damit begann ein Hagelwetter von Impertinenzen und persönlichen Beleidigungen auf Gastgeber und Gäste niederzuprasseln.
Obwohl Lilly nur einen kleinen Bruchteil der verstreuten Bosheiten verstand, war ihr doch zu Mute, als müsse sie sich für jeden der Getroffenen die Augen aus dem Kopfe schämen. Aber merkwürdigerweise fühlte niemand sich gekränkt. Im Gegenteil. Wer beim Durchgehecheltwerden an der Reihe war, suchte sich durch den lautesten Beifallsjubel vor allen anderen hervorzutun.
»Welch eine glückliche Welt,« dachte Lilly, »wo man ganz unverwundbar geworden ist, wo einem das Abscheulichste noch zum Ruhme gereicht!«
Und ihr eigener Fehltritt, an dem sie so lange gekrankt hatte wie an einer vergifteten Wunde, wurde ihr plötzlich so etwas wie ein liebenswürdiger Kinderstreich.
»War das ein Blödsinn, daß ich mich so gegrämt habe!« dachte sie und strich an sich herab, als müsse sie alte Fesseln von den Gliedern streifen.
Aber auch Schmeicheleien wußte der elegante Doktor auszuteilen. Von den schönen Frauen erhielt jede ihren kleinen, in Pfeffer gewälzten Bonbon, und als von einer Lotosblume die Rede war, die aus irgend einem Märchenlande hierher verschlagen sei und die sich noch ein wenig vor der Pracht der neuen Lebenssonne zu ängstigen scheine, da sah Lilly wieder einmal alle Blicke auf sich gerichtet.
»Aber nur Mut!« fuhr er fort. »Und wenn sie jemanden brauchen sollte, um träumend mit ihr die Nacht zu erwarten, so glaube ich, wird sie auf jeden von uns zählen dürfen.«
Begeisterte Zustimmung sämtlicher Herren lohnte ihm, und Lilly schämte sich nicht einmal.
Als Doktor Salmoni geendet und die Lobsprüche der Herandrängenden eingeheimst hatte – wer am härtesten gezüchtigt worden war, beeilte sich am meisten – trat er an Lillys Seite und sagte leise: »Ich bitte um Ihre Verzeihung, Gnädigste, dafür, daß ich Sie mit dieser Schwefelbande in einem Atem genannt habe. Menschen unseres Niveaus müßten sich stillschweigend zu verständigen wissen, und ohne daß man nacheinander angelt. Aber ich war es satt, bloß immer die Peitsche zu schwingen. Übrigens kann ich Sie versichern, daß ich auch bisweilen nicht den Narren spiele.«
Und dabei schob er das Einglas in die Westentasche und sah sie mit seinen scharfen, grauen Augen an, als ob er ihr das Herz im Leibe zerfasern wolle.
»Menschen unseres Niveaus« hatte er gesagt; und Lilly fühlte sich geschmeichelt, daß ein so kluger und überragender Mann sie mit sich auf gleiche Stufe stellte.
Als dritter der Vortragenden folgte ein Coupletsänger, ein quecksilbriger junger, schwarzer Bursche, der sich selbst auf der Mandoline begleitete.
Er begann mit hohem Pathos wie ein Troubadour:
»Die Dame, die ich meine, nenn' ich nicht,
Denn sie ist keuscher als das Mondenlicht,
Sie ist so keusch, daß sie in Scham entbrennt,
Wenn man den Vogel Storch mit Namen nennt.
Und reichst du, holder Minne weichend,
Die Lippen ihr zu einem süßen Kuß,
So stammelt sie auch schon erbleichend:
›Aber nu' is Schluß.‹«
Die zweite Strophe, in der die Situation sich erklecklich schwüler gestaltete, endete mit dem Verse:
»Das heißt, jetzt her'n Se auf.«
Und die dritte Strophe gar, deren wilde Deutlichkeit Lilly kaum zu verstehen wagte, lief in die französischen Worte aus:
» Tout ce que vous voulez, mais pas ça.«
Ein nicht endenwollender Jubel folgte dem Liede.
Lilly staunte wohl, doch es verletzte sie nicht.
Es verletzte sie nichts mehr. Mit halbgeschlossenen Augen in ihrem Stuhle zurückgelehnt, ließ sie Lichter, Töne, Zoten, Gelächter und Beifallsschreie wie Traumphantasien an sich vorüberziehen.
Von Zeit zu Zeit sah sie sich nach ihrem Freunde um.
Er stand hinter ihr und lächelte ihr beruhigend zu, sagte aber nichts. Ein fleckiges Rot brannte auf seiner Stirn, und auch das Weiße seiner Augen war gerötet. Vielleicht hatte er zu viel Sekt getrunken. Sie selbst hatte an ihrem Glase nur genippt und fühlte sich trotzdem ganz wirblig im Kopfe.
Um zwei Uhr Nachts waren die Vorträge zu Ende. Und nun begann die Ausgelassenheit ihre letzten Bande abzustreifen. Alles tobte, tanzte, küßte, trank und zankte wild durcheinander … Duelle wurden ausgefochten. Liebende erdolchten sich und wurden tot hinausgetragen. Die Kanone schoß Knallbonbons … Vor der Laube des »Rechtes auf Mutterschaft« stand ein dünnes, putziges Kerlchen, dem ein bedienendes Modell sein griechisches Gewand geliehen hatte, und hielt mit singender Fistelstimme einen Vortrag, worin er nachwies, daß die Fortschritte der Physiologie entsprechend den Resultaten der künstlichen Fischzucht den Mann als mitwirkenden Faktor demnächst entbehrlich gemacht haben würden … Vor der Laube des »Schreies nach dem Manne« war eine tolle, kleine, schwarzlockige Person auf einen Stuhl geklettert und schrie unentwegt: »ein Weib! ein Weib! ein Weib!« … Und in die »perverse Laube« hatte man den Bäckermeister mit seiner dicken Ehehälfte hineingesetzt und sah jubelnd zu, wie beide auf Kommando sich küßten.
In Lillys Kopfe war der dröhnende Wirbel so stark geworden, daß alles sich ihr kreischend, zuckend und hämmernd wie ein Reigen von schmerzenden Blitzen in der Runde drehte.
»Wir wollen gehen,« mahnte Dehnickes Stimme hinter ihr.
Da erhob sie sich und reckte schauernd die Arme.
Das war doch einmal Leben gewesen! Leben! Leben!
Dann folgte sie ihm.
In dem Treppenflur kam Kellermann, der ihr Fortgehen bemerkt hatte, ihnen heimlich nachgerannt. Sein Halskragen hing geöffnet über die Samtjacke, seine Backen glänzten gedunsen. Wie ein junger Falstaff sah er aus.
Er wechselte einen Blick mit Dehnicke, und dieser nickte kurz vor sich hin, als wolle er sagen: »Es war gut so.« Dann ging er die Mäntel suchen.
»Und die gefesselte Schönheit?« fragte Herr Kellermann zu Lilly gewandt, während ihr Freund sich hinter den Garderobenständern vertieft hatte. »Haben Sie die ganz vergessen?«
»Ganz,« erwiderte sie mit mattem Lächeln.
»Und Sie werden niemals kommen?«
»Niemals.«
»Und ich sage Ihnen,« – er führte sie abseits zum Treppengeländer hin, – »Sie werden kommen. Wenn Ihnen die eigenen Fesseln ins Fleisch schneiden werden und Sie nicht wissen –«
Herr Dehnicke kehrte mit den Mänteln zurück, und er verstummte.
Lilly war viel zu lebensselig gestimmt, um diesen seltsamen Worten, die in dem Munde des weintollen Fauns fast wie ein Witz klangen, irgend eine Bedeutung beizulegen.
Sie lachte ihn aus.
Die Blitze, die das Hirn durchpulst hatten, schliefen ein. Leicht gegen die Schulter des Freundes gelehnt, tänzelte sie singend und in den Hüften sich wiegend die Stufen hinab.
Die ganze Welt schien aufgelöst in einen weichen, duftenden, klingenden Dämmer. Frischer Schnee hatte sich eingefunden. Mondschein war auch da.
Dehnickes Wagen wartete.
»Wir wollen noch in den Tiergarten hinaus,« bat Lilly, die sich an der lungenweitenden Schneeluft nicht satt trinken konnte.
Sie warf sich in die Polster des Coupés, sang und hämmerte mit den Füßen den Takt dazu.
Er saß ganz still in seiner Ecke und blickte in die Nacht hinaus.
»So sagen Sie doch was!« rief sie.
»Ich weiß nichts zu sagen,« erwiderte er und sah mit seinen roten, verschwimmenden Augen geflissentlich an ihr vorbei.
Der Wagen glitt nun lautlos über die schneegepolsterten Baumwege dahin. Von dem Gezweig her stäubte ab und zu ein silbernes Sternchen in das Wageninnere.
Ein dröhniger Halbschlaf überfiel sie.
»Ach, ich möchte ewig so fahren,« flüsterte sie, für ihren Kopf eine Stütze suchend.
Und dann war es ihr plötzlich, als lege sich Walters Arm um ihre Hüfte, und als ruhe ihre linke Wange wohlig an Walters Halse gebettet – wie einst in seligen Novembernächten!
Aber – wo kam Walter mit einem Male her?
Sie fuhr empor und sank zurück, – wieder ganz wach geworden.
Nein, das war Walter nicht. Sie wußte nun genau, wer es war, aber sie schämte sich so sehr vor ihm, daß sie sich nicht zu rühren wagte.
So lag sie mit weit offenen Augen eine ganze Weile und hörte sein Herz schlagen. – Es schlug ihm bis in den Oberarm hinauf.
»Ohne daß die bei schönen Frauen landesübliche Gegenleistung von Dir eingefordert werden dürfte,« hatte Walter geschrieben.
Und nun forderte er sie doch.
Wie verächtlich würde Walter von seinem Bilde her auf sie herniederschauen, wenn sie in einer halben Stunde mit der Lampe in den Salon trat – Walter, der jedem einzigen, auch diesem Manne hier, in dessen Arm sie geglitten war, als ihr Verlobter galt, Walter, dem sie treu sein mußte, solange es auf Erden noch Rettung für sie gab!
Freilich, es lag sich göttlich so. Man wußte doch wieder, wo man hingehörte … Und wie grauenvoll war all die Einsamkeit gewesen! Aber das half nun nichts.
Vorsichtig, als ob sie fürchtete, ihm wehe zu tun, löste sie sich aus seinem Arm und drückte sich gegen das Polster der Seitenwand.
»Warum bleiben Sie nicht?« fragte er, stammelnd wie ein Trunkener. »Lagen Sie nicht gut so?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er bat und fragte weiter, doch sie schwieg. Sie fühlte, jedes Wort, das sie sprach, mußte sie noch mehr verstricken.
Dann umklammerte er ihre Hand, die kraftlos niederhing.
»Ich darf ja nicht,« flüsterte sie, diese Hand zurückziehend, »und Sie dürfen ja auch nicht.«
»Warum dürfen wir nicht?«
»Was würden Sie sich für Vorwürfe machen später, wenn Sie daran denken, daß Sie ihm Rechenschaft ablegen sollen?«
Nun fragte er gar noch: »Wem?«
»Wem? – Nun, ihm … Wem sonst? … Sie sagen doch immer, daß Sie nur sein Verwalter sind, daß Sie –«
Ein Lachen, heiser und schuldvoll, unterbrach sie. Er hatte die Hände über dem Knie gefaltet und lachte und atmete tief und lachte wieder, wie einer, der sich von einer langen, harten Last befreit.
Eine fürchterliche Gewißheit stieg vor ihr auf.
»Es ist wohl alles nicht wahr?« stammelte sie, ihn anstarrend.
»Unsinn ist alles, Blödsinn ist alles,« schrie er sie an. » Einmal hat er mir geschrieben, vor anderthalb Jahren, noch von Deutschland aus: ›Nehmen Sie sich ihrer an, damit sie nicht auch vor die Hunde geht, denn sie ist zu schade dazu.‹ … Weiter nichts und nie mehr … So! – nu wissen Sie's. Nu bin ich's los. Ich hab' schwer genug getragen daran. Aber was sollt' ich machen? Wer A sagt, muß auch B sagen … Da hilft nichts …«
Er riß das Coupéfenster in die Höhe und lehnte sich keuchend dagegen.
Sie wollte fragen: »Warum haben Sie das getan?« Aber sie wagte es nicht. Sie wußte ja, was kommen würde … Eines stand mit entsetzlicher Klarheit vor ihr, daß sie hilflos, rettungslos in seinen Händen war. – Sie wohnte in seiner Wohnung, sie lebte von seinem Gelde, sie sah die Welt mit seinen Augen, sie war, was er bestimmte, daß sie war: seine Magd, seine Geliebte, sein Geschöpf.
Da lieber ins Wasser hinunter!
Sie zerrte an der Coupétür, sie setzte den rechten Fuß auf das Trittbrett, aber er riß sie zurück und schlug die Tür wieder zu.
»Seien Sie vernünftig,« schalt er, »kommen Sie zu sich.«
Da brach sie in ein Weinen aus, so jammervoll und qualvoll, so kläglich und herzbrechend, wie sie seit den Zeiten ihrer Scheidung nicht geweint hatte. Sie sah nichts mehr und hörte nichts mehr. Manchmal war ihr, als klänge seine Stimme von weit, weit her, aber was er sagte, verstand sie nicht. Bloß weinen, weinen, als läge im Weinen die Rettung, als gingen mit den Tränen auch Angst und Not dahin.
Der Wagen hielt. Sie fühlte sich hinausgehoben. Den Schlüssel trug er selbst in der Tasche.
Von ihm gestützt, taumelte sie die Treppen hinan und dachte nur von Zeit zu Zeit: »Ich wollte ja ins Wasser gehen.«
Er führte sie zur Sofaecke und zündete die Flammen des Kronleuchters an. Dann löste er ihr die Mantelspange und hob das Schleiertuch aus ihrem Haar.
Sie lag nun ganz ermattet da und sah teilnahmlos die Tischdecke an.
Der kleine Zeisig war erwacht und piepte zu ihr herüber.
»Es ist schon spät,« hörte sie Herrn Dehnickes Stimme, »und der Wagen wartet. Aber ich kann doch nicht so fortgehen. Ich muß mich erst verteidigen, damit Sie wissen, wie alles gekommen ist.«
»Das ist ja nun schon egal,« sagte sie achselzuckend.
»Für mich nicht,« erwiderte er. »Sie sollen nicht denken, daß ich ein Schurke bin.«
»Das ist auch schon egal,« dachte sie.
»Ich habe Sie nämlich bereits geliebt,« begann er, »als ich Sie noch längst nicht kannte, als Sie noch die Frau unseres Obersten waren.«
Überrascht blickte sie auf.
Wie er in seinem kurzen, engen Frack mit fahlem, unfrohem, bittendem Gesichte vor ihr am Tische stand, beklommen an der Decke zupfend, er, der hier eigentlich der Herr war, da schien's ihr, als sähe sie ihn zum ersten Male.
»Ich war grade in jenem Sommer zur Übung eingezogen,« fuhr er fort, »und das ganze Kasino war noch voll von Ihnen. Selbst die Damen des Regiments sprachen eigentlich nichts anderes … Auch Bilder von Ihnen kursierten in Menge … Die hatten die Herren sich heimlich geknipst … Danach hätte ich Sie eigentlich sofort erkennen müssen, denn vergessen hatte ich keines … Ja, ich kann ruhig wiederholen: damals habe ich Sie schon geliebt … Und noch mehr, seit Prells Brief ankam und Sie mit einem Male in mein Leben treten sollten … Gott, was habe ich mir alles für Pläne ausgedacht in den anderthalb Jahren, wie ich Sie für mich gewinnen würde! … Und dann endlich erschienen Sie bei mir und übertrafen alles, was ich mir jemals ausgemalt hatte. Als ich aber sah, daß Sie inzwischen eine große Dame geworden waren, und außerdem, wie sehr Sie an Walter hingen – denn Sie sprachen ja immerzu von ihm – da verlor ich auch meine letzte Hoffnung … Ganz im Ernst hatt' ich wohl nie darauf gerechnet, denn obgleich ich viel auf mich gebe, reelles Selbstbewußtsein hab' ich nicht, – und übrigens – jemanden wie Sie zur Geliebten zu haben – ein solches Glück läßt sich für keinen recht ausdenken.«
Nun er zum ersten Male das Wort »Geliebte« aussprach, quoll eine jähe Bitterkeit in ihr empor.
»Mich zur Frau zu haben,« dachte sie, » das Glück läßt sich wohl erst recht nicht ausdenken.«
Und sie lachte hell auf.
Er hielt ihr Lachen für ein Zeichen bescheidener Abwehr und redete sich noch weiter in Begeisterung hinein. Ob sie denn glaube, daß irgend eine von denen, die heute beisammen gewesen, wert sei, ihr die Schuhriemen zu lösen? Ob sie gar keine Ahnung habe, wie himmelhoch sie über allem stehe, was den Namen »Weib« führe?
Aus ihren verweinten Augen glühte jetzt offen die Frage ihn an, die auszusprechen Stolz und Scham ihr verboten.
Und dieses Mal mußte er sie wohl verstanden haben, denn er hielt plötzlich inne, schlug sich vor die Stirn und rannte verstört und mit halbem Schluchzen im Zimmer auf und nieder. Dabei hörte sie ihn murmeln: »Ich kann nicht, – es geht nicht, – ich kann nicht.«
»Ja – wenn er nicht kann,« dachte sie und preßte, ihn anstarrend, die flachen Hände gegen die Backen.
Er seinerseits blieb vor ihr stehen, setzte zum Reden an, würgte halb ausgesprochene Worte wieder hinunter und begann von neuem im Zimmer hin und her zu rennen.
Sie verstand etwas von »Mutter« und »nie durchsetzen« und »Geschäft aufgeben müssen« und dann immer wieder: »Ich kann nicht – es geht nicht – ich kann nicht.«
»Da hat er sehr recht,« dachte sie. »Eine wie ich – er kann es wirklich nicht.«
Und in endgültigem Entsagen sank sie aufseufzend in sich zusammen.
Er eilte erschrocken zu ihr hin, bückte sich zu ihr nieder und wollte ihr die Hände streicheln. Aber sie schüttelte ihn von sich. Und da er für sein schwächliches Ausweichen ein Wort der Rechtfertigung nicht finden konnte, so knüpfte er schließlich den Faden wieder zusammen, wo ihr gequältes Lachen ihn zerschnitten hatte: »Bedenken Sie doch das eine, Verehrteste, geliebteste Freundin: ich will ja gar nichts für mich – keinen Lohn – nichts … Ganz ohne Wunsch bin ich schon längst – das kann ich Ihnen schwören … Das einzige, was ich gewollt habe, ist, Sie aus dem Loch rauszuholen, in dem Sie allmählich zur Proletin werden mußten … O, ich kenne das von vielen. Ein paar Jahre dauert es – länger nicht. Entweder sie sind auf die Straße gegangen oder sie werden immer vergrämter und häßlicher – und bald ahnt man gar nicht mehr, was sie gewesen sind … Und damit es Ihnen nicht auch so gehen sollte, habe ich mir die Sache mit dem Scheck ausgedacht und deshalb an meinen amerikanischen Agenten geschrieben, und als Sie darauf reinfielen, da habe ich vor Glück ein paar Nächte nicht geschlafen, denn nun wußte ich, daß ich nicht würde zusehen müssen, wie Sie zu Grunde gehen.«
»Warum sollte ich zu Grunde gehen?« warf Lilly ein. »Als Ihr Scheck ankam, da hatte ich mir mit meiner Kunst doch schon ein hübsches Stück Geld verdient. Und Sie selbst sind mir behilflich gewesen – und Sie selbst haben mir gesagt, wenn ich so fortfahre – – –«
Erschreckend hielt sie inne, denn der Gedanke, daß sie, wenn es heute zur Trennung käme, auch dieser einzigen, letzten Lebensaussicht verlustig gehen würde, sank ihr wie ein Alpdruck auf die Seele.
Kein Wort der Ermutigung kam aus seinem Munde. Hinterhältig und verbissen zupfte er an der Tischdecke.
»So reden Sie doch! Haben Sie denn ganz vergessen, was Sie für mich getan haben?«
Er richtete sich auf.
»Ja, wenn Sie durchaus wollen,« sagte er achselzuckend. »Es ist vielleicht auch am besten, wenn heute gleich alles zwischen uns ins klare kommt.«
»Was denn noch?« schrie sie in neu aufsteigender Angst.
»Als Sie bei mir in der Fabrik waren, besinnen Sie sich, daß ich Sie in den Vorratsraum nicht reinlassen wollte?«
»Gewiß. Aber was –?«
»Und daß ich mich hernach damit entschuldigte, es wäre da ungeheizt gewesen?«
»Ja doch, – was hat das aber mit meinen Arbeiten zu tun?«
»Wären wir noch sechs Schritte weiter gegangen, dann hätten Sie alle Ihre Glasplatten vorgefunden, sechsundfünfzig an der Zahl. Und die letzten waren noch nicht einmal eingepackt.«
Sie starrte zu ihm auf wie zu ihrem Henker. Dann fiel sie vor dem Sofa nieder. Tränen hatte sie nicht mehr, aber die weiche Dunkelheit der Kissen tat ihren Augen wohl. Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr denken. – Sterben, rasch, gleich, ehe Hunger und Schande kamen.
Eine lange Stille folgte.
Sie glaubte schon, er wäre gegangen, da fühlte sie seine Hand streichelnd auf ihrer Schulter und hörte seine Stimme in kläglicher, zitternder Bitte: »Liebe Freundin, liebe, geliebte Freundin, sagen Sie doch selbst, was konnte ich tun? … Sollte ich Ihnen Ihr einziges Vergnügen, Ihre einzige Zuversicht zu nichte machen? … Sollte ich Ihnen sagen, daß das eine unbrauchbare Dilettantenarbeit war und weiter nichts? Ich sah doch, daß Ihre ganze Seele daran hing, daß Sie sozusagen innerlich davon lebten. – Ich dachte mir, wenn Ihre Verhältnisse erst in Ruhe sind, dann werde ich's langsam einschlafen lassen, und wir waren ja auch schon auf dem besten Wege dazu … Im letzten Monat haben Sie ja kaum noch daran gedacht … Liebe, liebe Freundin, überlegen Sie doch: was habe ich denn so übles getan? … Ich habe Ihnen aus dem Armeleutsgeruch herausgeholfen, ich habe Ihnen ein Heim zurechtgemacht, ich habe Ihnen ein paar Monate Freude und Sorglosigkeit verschafft und habe dafür noch nicht einmal einen Kuß verlangt … Wenn Sie wollen, können Sie morgen zu Ihrer Frau Laue zurückgehen, und es wird nichts gewesen sein … Sie können auch ruhig hier wohnen bleiben und sich inzwischen irgend eine Stellung suchen. Mich werden Sie nicht mehr zu sehen bekommen. Und wenn ich jetzt – hier – rausgehe – –«
Er konnte nicht weiter.
Als sie nach einer Weile des Schweigens sich ängstlich und neugierig aufrichtete, um zu sehen, was aus ihm geworden war, da fand sie ihn, den Kopf in den Armen verborgen, halb liegend vor dem Tische sitzen, während ein lautloses Weinen den vornüber gebeugten Rücken erschütterte.
Eine Weile stand sie neben ihm, und auch ihr kollerten neue Tränen über die Wangen.
Er tat ihr so leid, – ach, wie er ihr leid tat!
Dann legte sie leise die Hand auf sein Haar.
»Trösten Sie sich doch, lieber Freund,« sagte sie, »mir wird es ja viel, viel schlimmer gehen als Ihnen. Denn ich habe ja nun niemanden mehr.«
Und sie schauderte, nahender Einsamkeiten gedenkend.
Er richtete sich auf und griff schweigend nach seinem Hute. Seine Augen waren noch heißer, noch verquollener, und der Kopf hing nun ganz auf die Seite geneigt.
Ach, wie er ihr leid tat!
»Leben Sie wohl,« sagte er, ihre Rechte pressend, »und haben Sie Dank.«
»Ich werde Ihnen schreiben,« entgegnete sie. »Ich möchte erst über Nacht noch alles überlegen. Wahrscheinlich ziehe ich schon morgen.«
»Ganz wie Sie wollen,« sagte er.
Als er den Mantel überwarf, fiel etwas Langes, Rundliches, Gold- und Silberglänzendes aus seiner Fracktasche geräuschlos auf den Teppich.
Sie hob es auf … Es war ein mächtiger Knallbonbon.
Beide mußten lächeln.
»So traurig endet das schöne Fest,« sagte sie.
Er seufzte.
»Haben Sie sich wenigstens amüsiert?«
»Ach, auf mich kommt's ja nicht an,« meinte sie abwehrend.
»O sehr kommt's auf Sie an,« erwiderte er, »denn für Sie war ja das Ganze gemacht.«
»Wie, – für mich?«
»Nun, denken Sie denn, daß Herr Kellermann, der, wenn's hoch kommt, fünfzig bis hundert Mark die Woche verdient, solche Feste geben kann? … Weil der Arzt Ihnen Zerstreuung verordnet hatte und ich Ihnen in Ihrer prekären Lage sonst keine bieten konnte, darum habe ich mich hinter ihn gesteckt und – –«
Sie machte große Augen.
Ja, wenn er sie so liebte!
»Sie lieber, lieber Freund,« sagte sie und legte für einen Augenblick den Kopf leise gegen seine Schulter.
Er umschlang sie rasch und gierig, als ob sie ihm im nächsten Moment wieder genommen werden könnte. Er flatterte am ganzen Leibe, und seine Tränen rollten lau auf ihre Stirn.
Als er sie auch jetzt noch immer nicht zu küssen wagte, da bot sie ihm selber ihren Mund.
»Das ist nun der Dritte,« dachte sie dabei.
Als sie dann aufschaute, sah sie von der Wand her die Augen Walters mit einem niederträchtig-höhnischen Lächeln auf sich herniederschauen. Ganz wie sie es im Wagen gefürchtet hatte.
Erschrocken wies sie ihm das Bild.
»Das schaffen wir wohl am besten morgen in die Bodenkammer,« sagte er.
Und weil sie sich jetzt nach der Versöhnung noch unendlich viel zu sagen hatten, wurde auch gleich der Wagen fortgeschickt, denn es war halb vier, und Kutscher und Pferde brauchten ihre Ruhe. – – –