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IX

Richard fügte sich ungern den Anforderungen eines bescheideneren Lebens. Er wollte mit Lilly gesehen und bewundert werden wie bisher. Aber die Strafpredigt der kleinen Frau Jula hatte sein Gewissen zu sehr getroffen, als daß er gewagt hätte, ihr zuwider zu handeln.

Doch er muckte und bohrte und langweilte sich, und Lilly – um ihn heiter zu stimmen – war schon nahe daran, zum Besuche der nächsten Rennen selber die Anregung zu geben, da geschah es, daß sie die Nachricht vom Tode ihrer Mutter erhielt.

Sie vergoß so viel Tränen und grämte sich so viel, wie es sich für die Weichheit ihres Herzens geziemte. Aber tief ging der Schmerz ihr nicht; dazu war ihr die Mutter schon allzulange tot gewesen.

Vor der Fahrt nach der westpreußischen Irrenanstalt – beim Begräbnis wollte sie natürlich zugegen sein – war ihre höchste Sorge, die Trauerkleidung möglichst schlicht zu wählen, denn sie schämte sich, für die Kranke nicht besser gesorgt zu haben, und wollte an dem Armengrabe durch Eleganz kein Ärgernis geben.

Was nicht hinderte, daß die Beamten und Ärzte der Anstalt sich in Aufmerksamkeiten erschöpften und sie wie eine Art von schwarzschillerndem Paradiesvogel behandelten.

Ernst und voll aufgewühlter Gedanken kehrte sie von dem Sandhäuflein zurück, an dem sie drei rotglühende Frühlingsabende lang gebetet und gesonnen hatte.

Dort hatte sie Richard zu hassen geglaubt. Als sie ihn aber auf dem Bahnhof wartend fand, sank sie ihm doch wieder hilflos und trostbegehrend in die Arme. Denn jetzt war er wirklich das einzige, was sie auf Erden besaß.

Für die nächsten Monate verbot sich der Trauer wegen das nächtliche Herumziehen von selbst, und Richard benahm sich – das mußte man ihm zu Ehren sagen – liebreich und rücksichtsvoll. Er saß viele Abende ruhig bei ihr daheim, las Bücher, denen er nicht zu folgen vermochte, spielte Tricktrack und schlief lieber auf dem Sofa ein, als daß er sie zum Bummeln verführt hätte.

Damit er sich aber der Welt nicht ganz entfremde, wurde abgemacht, daß er fortan einen Abend um den anderen für sich behalten solle.

Der Ruf seiner schönen Mätresse hatte ihm die Wege geebnet. Und darum durfte er – auf zwei ihrer Verehrer gestützt – den Versuch wagen, sich in dem vornehmen Spielklub anzumelden, nach dem er schon lange sehnsüchtig hingeschielt hatte. Ohne eine einzige schwarze Kugel wurde er aufgenommen und konnte sich von nun an eine Nacht um die andere dem Hochgenusse hingeben, das gute Geld seines Hauses an junge Majoratsherren, fremdländische Attachés und andere höhere Wesen loszuwerden.

Lilly hörte es nicht gern, wenn er von seinen Verlusten sprach. Sobald er seinen Ärger auskramte, wurde sie ängstlich und befangen und endete damit, daß sie sich erbot, noch mehr zu sparen als bisher, um das Verlorene wieder wett zu machen. Er mochte ihr jedesmal lachend versichern, was sie ihn koste, bedeute für ihn gerade so viel, als ob er sich täglich eine Zigarette mehr anstecke – sie blieb in ihrem Innern dabei, daß sie als Schmarotzerin an ihm hänge und für das Gedeihen der Firma Liebert & Dehnicke mit verantwortlich sei.

Wenn er sich an stillen Abenden von seinen nächtlichen Campagnen bei ihr ausruhte, wurde auch wieder mehr von Geschäftlichem zwischen ihnen geredet. Und sie erwies sich als ein aufgeweckter Kopf, der in allem Künstlerischen mit sicherem Instinkte zu urteilen vermochte und auch die rechnerischen Dinge rasch begriff.

Häufig brachte ihr Richard Modellzeichnungen mit, und dann saßen sie über die ausgebreiteten Rollen gebeugt und planten und berieten wie zwei Kompagnons.

Das waren beinahe Glücksstunden.

Und nicht müde wurde sie nach der Fabrik zu fragen. Wieviel Arbeiter und Arbeiterinnen man im Augenblick beschäftige – ob der noch da wäre und der – oder die und die – mit Namen wußte sie sie nicht zu nennen, aber ihre Gesichter beschrieb sie genau, – was für Stücke man in Arbeit habe, und ob bei dem oder jenem sich nicht ein Mangel fühlbar mache. So sorgsam hatte sie den Abgang der Vorräte verfolgt.

Die Fabrik war nun einmal ihre unglückliche Liebe, wie sie scherzend oft zu Richard sagte. Und wenn sie ihn nach Geschäftsschluß aus dem Kontor abholen durfte, galt ihr das allemal als Fest.

Wäre es nach ihrem Willen gegangen, so hätte sie sich tagtäglich bei ihm zu schaffen gemacht, aber er wünschte es nicht. Die Leute wußten längst, wie nahe sie ihm stand, und höhnische Nachrede mußte vermieden werden.

Sicherlich steckte hier noch etwas anderes dahinter.

Daß seine Mutter ihr nicht wohl wollte, darüber war sie längst ins klare gekommen. Hatte er früher oft und unbefangen von ihr gesprochen, so wich er jetzt sogar dann aus, wenn sie geradeswegs nach ihr fragte. Wahrscheinlich fürchtete er, den Zorn der alten Dame zu erregen, wenn er seine Geliebte in den Kontorräumen sich heimisch machen ließ.

Darum begnügte sie sich, aus der Ferne an dem Leben und Gedeihen des kleinen Reiches liebenden Anteil zu nehmen.

An den Abenden aber, an denen sie, allein gelassen, nichts mit sich anzufangen wußte, begann sie gegen zehn Uhr noch auszugehen und nach der Alten Jakobstraße hinzupilgern.

Vom jenseitigen Bürgersteige aus schaute sie ehrfürchtig nach dem alten, grauen Hause hinüber, bewunderte die falschen Marmorsäulen, die jetzt nach Art eines Renaissancetores die Einfahrt prunkend umrahmten, starrte nach der Wohnung der Mutter empor und drückte sich erschrocken tiefer in die Dunkelheit der Türnische, wenn unter dem halb angezündeten Kronleuchter ein Frauenschatten drohend vorüberglitt.

Hatte zu später Stunde das Heimkehren der Mitbewohner aufgehört, so wagte sie auch auf die andere Straßenseite hinüber zu schlüpfen, die Stufen zur Haustür zu betreten und, das Gesicht gegen die Ranken des Eisengitters gepreßt, in das Innere des Treppenflurs zu schauen, aus dem das Glitzern der Blattpyramiden, der milchige Dämmer der Klytiabüste, das dunkelglühende Farbengemisch des bunten Fensters wie das geheimnisvoll lockende Durcheinander einer halbdunklen Kapelle zu ihr hernieder drang.

Die Treppe wurde ein Wallfahrtsweg, wie ihn reuige Beter auf Knieen in die Höhe rutschen, das Flurfenster zur Himmelsglorie und die Klytiabüste zum segenspendenden Heiligtum.


Gegen den Herbst hin wurde Richard zu Manöverübungen eingezogen.

Seine Briefe waren einsilbig und zurückhaltend und schienen Verstimmungen nur mühsam zu verbergen.

Schließlich kamen sie gar aus dem Lazarett.

Eine Sehnenscheidenentzündung am linken Knie, die er sich durch Sturz vom Pferde zugezogen, hatte ihm für lange Zeit hinaus – vielleicht für immer – das Reiten unmöglich gemacht.

Als er im Oktober zurückkehrte, trug er eine Kniekappe von Guttapercha und schrieb sein Abschiedsgesuch ins reine.

Jener Sturz aus dem Sattel aber hatte sich als sein Glück erwiesen. Von seinen Beziehungen zu der geschiedenen Frau des ehemaligen Kommandeurs waren Gerüchte bis zum Regiment hindurchgesickert. – Man hatte ihn deswegen merkbar distanziert und wartete augenscheinlich nur noch auf gewisse Bestätigungen, um ihn alsdann offiziellermaßen ins Gebet zu nehmen, ein Verfahren, das unter Umständen mit einem jähen und ungewollten Abschluß seines Reserveoffiziertums geendet hätte.

Allen diesen Mißhelligkeiten war er auf glimpfliche Weise entronnen, und wenn er Lilly eine gereizte und vorwurfsschwere Miene zeigte, so geschah es wohl nur, um ihr dadurch den Wert des Opfers, das er ihr mit seiner Liebe brachte, ein wenig zu Gemüte zu führen.

Über den Obersten war ihm auf Umwegen dieses und jenes zu Ohren gekommen, was Lilly mit Schrecken erfüllte.

Der Gestrenge hatte die Schwertfeger davongejagt, weil der Verdacht, sie sei mit den Schuldigen im Einverständnis gewesen, ihm mit der Zeit zur fixen Idee geworden war, und hauste seitdem als menschenscheuer Wüterich, so daß man für seine Zukunft Schlimmes fürchtete.

Das war ein böser Gruß aus jener Sonnenzeit. –


Als der Winter nahte, ereignete sich auch, was Lilly damals von Frau Jula prophezeit worden war: Richard fing eines Tages von seinen Heiratsplänen mit ihr zu reden an … Aber nicht um sie zu ärgern, sondern weil er sich seiner Gewohnheit gemäß jede Bedrängnis von der Seele reden mußte.

Seine Mutter hatte eine schwerreiche Waise ins Haus genommen.

Natürlich für ihn – ausschließlich für ihn.

Die saß nun tagtäglich am Tische, strohblond und bläßlich und sah ihn mit großen, fremden Augen an: »Erklärst du dich nicht bald?«

Und die Mutter halte ihm lange Predigten. Es könne nicht mehr so weitergehen, – noch ein paar Winter im Stile des letzten, und die guten Familien wiesen mit Fingern auf ihn. Kurzum, es sei zum Verrücktwerden.

Lilly hatte ein Gefühl, als rännen Eisströme an ihr herab.

Aber sie hielt sich tapfer, lächelte ihn an und zeigte nicht mehr von innerer Bewegung, als ob er von irgend einem neuen fraglichen Modelle mit ihr geredet hätte.

»Fühlst du denn, daß du sie liebhaben könntest?« fragte sie.

»Ach Gott, was heißt liebhaben?« antwortete er und sah an ihr vorüber.

»Nun, man muß doch alles erwägen,« erwiderte sie.

»Du redest ja grade so, als ob ich im Ernst daran dächte,« rief er, »und du benimmst dich überhaupt, als ob dir das gar nichts macht, als ob du mich wunder wie fix lossein möchtest.« –

Und er wollte ernstlich böse werden.

Lilly redete mit mattem Eifer auf ihn ein. Er solle nie im entferntesten dran denken, daß sie ihm im Wege stehe – sie habe nur sein Glück im Sinne, und wenn er sie durch sein Vertrauen stolz machen wolle, so werde er diesen Schritt – jetzt oder später, gleichviel – nicht tun, ohne alles vorher mit ihr besprochen zu haben.

Da wurde er gerührt, küßte sie und meinte, es wäre ja alles »Dummzeug«.

Aber Lilly blieb zurück wie in einem bösen Traume, und nur der eine Gedanke beherrschte ihr Hirn: »Wenn er mich allein läßt, dann muß ich doch hinunter in den Sumpf.«

Der Gram um den Tod der Mutter war ein Kinderspiel gewesen gegen diese marternde Angst.

Die Geier, von denen Frau Jula gesprochen hatte, fielen ihr ein. – Alle die weißbrüstigen, schwarzbefrackten Geier, die darauf lauerten, sie für ihr gutes Geld an sich zu reißen, sobald ihr Freund und Beschützer sie verlassen hatte. Und von ihnen flatterten ihre Gedanken zu jenen anderen Geiern hinüber, die im Bilde Kellermanns auf dem sonnengedörrten Felsen saßen, bereit, sich auf die nackte Schönheit zu stürzen, sobald die sich nicht mehr wehren konnte.

»Ihre Ketten sind ihre Waffen,« dachte Lilly, »und so ist es auch bei mir: Wenn ich frei bin, bin ich verloren.« –

Am nächsten Tage gingen beide behutsam um das gefährliche Thema herum, aber Richard blieb zerstreut und beunruhigt.

Und endlich faßte sie sich ein Herz und sagte, während die Not ihr die Kehle zudrückte: »Ich sehe, du bist noch im unklaren mit dir, Richard. Möchtest du mir nicht einmal ein Bild von ihr mitbringen, damit ich sehen kann, wie sie ist? – Keine kennt dich so gut wie ich und keine wird so gut wissen können, ob sie zu dir paßt oder nicht.«

Daß er mit sich im unklaren wäre, bestritt er heftig. Das Mädchen ginge ihn nichts an, das Mädchen wäre eine Puppe.

Aber sein Ingrimm war nicht echt, und sein Auge suchte das Leere.

Denn sie hatte fünf Millionen.

Und am nächsten Nachmittag brachte er ihr wirklich das Bild.

Ohne es aus dem Seidenpapier zu wickeln, legte sie es beiseite. – Die Hände zitterten ihr vom bloßen Anfassen. Sie fürchtete, daß beim ersten Blick darauf ihr ganzer Jammer offenbar werden würde.

»Du siehst es ja gar nicht einmal an,« sagte er mit einer kleinen Enttäuschung.

»Hat Zeit, bis du weg bist,« erwiderte sie und freute sich über ihr gleichmütiges Lächeln.

Als er im Hausflur stand, rief sie ihm nach: »Morgen sag' ich dir Antwort – du weißt schon.«

Dann stürzte sie sich über das Bild. – Das Herz pochte ihr gegen die Rippen wie lauter Faustschläge. – Aber erst mußte sie Richard noch nachwinken, wie es Pflicht und Gewohnheit war.

Und dann – und dann –: Ein gutes, stilles, etwas spitziges Mädchengesicht mit kümmerlichen aber lieben Augen leuchtete ihr entgegen. Die armdicken, hellblonden Zöpfe, nach ländlicher Weise geflochten, zogen den Kopf ein wenig nach hinten, und um den vollen Mund spielte ein zaghaftes Lächeln.

So recht etwas zum Liebhaben – etwas, das im Glücke aufblühen mußte, wie ein Fliederzweig im frischen Wasser. Nicht unruhig, nicht allzu begabt – hausmütterlich und schmiegsam.

Genau, was er brauchte.

Sie stellte das Bild auf einen Stuhl und warf sich davor auf die Kniee. Sie betete und rang mit sich.

Und immer wieder mußte sie zu sich sagen: »Genau, was er braucht, was er nicht zum zweiten Male finden wird.«

Und dann die fünf Millionen!

Wenn sie ihn jetzt nicht frei gab, dann war sie wirklich eine der Harpyien, als die – nach den Worten Frau Julas – sie und ihresgleichen in braven Bürgerkreisen galten.

»Aber ich bin im Besitz, also bin ich auch im Recht. Was helfen mir seine fünf Millionen, wenn ich daran zu Grunde gehe? … Was habe ich nötig, mich für ihn zu opfern, für ihn oder irgend wen in der Welt?«

Und dazwischen klang immer wieder das Wort: »Harpyie, Harpyie.« –

So, genau so, dachten die Scheusäler, die in den Mythologiebüchern mit schönen Frisuren und mörderischen Krallen, allen Kinderherzen ein Grauen, beschrieben und abgebildet sind.

»Wen ich habe, den besitz' ich und den zerfleisch' ich auch.«

Ach, wurde das eine Nacht!

Die Kniee im Bette hochgezogen, schluchzte sie in den Schoß hinein.

Sie verstopfte sich mit dem Hemde den Mund, riß erstickend den Knäuel heraus und schluchzte von neuem.

Und endlich – gegen Morgen fand sie, was sie suchte. Aus Tränen und Bitternissen, aus Schaudern und Gebeten stieg der Entschluß erlösend und befreiend in ihr empor: heute nachmittag, wenn er kommt, dann wird sie ihm sagen – –

Nein, nein! Wozu warten bis nachmittags? Wozu ihn erst noch über die Schwelle treten lassen? Wie leicht konnte, von der Macht des gewohnten Zusammenseins erschüttert, von liebender Gegenwehr bezwungen, das große Opferwerk wieder in nichts zerfallen!

Ein anderer Ort mußte es sein, an dem sie ihm fremder gegenüberstand und den sie verlassen konnte, sobald sie fühlte, daß seine Nähe sie wieder schwankend machte.

Wohl war es ihr verboten, ihn ohne besondere Erlaubnis auf seinem Kontor zu besuchen, aber wenn sie die Mittagspause wählte, die er in der Stille seines Hinterzimmers zur eigentlichen Tagesarbeit zu verwenden pflegte, so durfte sie sicher sein, unbemerkt und ohne Störung sich mit ihm aussprechen zu können.

Ein so heiliger Entschluß rechtfertigte alles.

Die Morgenstunden brachte sie damit hin, seine Briefe zu ordnen und zusammenzupacken. Die wollte sie ihm gemeinsam mit dem Bilde der künftigen Braut beim Abschied überreichen, damit er über etwaige Verlegenheiten, die ihm vielleicht einstmals bereitet werden könnten, ein für allemal beruhigt wäre.

Dann kleidete sie sich an – sorgfältiger als sonst. Wusch sich mit Lilienmilch, um die Tränenspuren zu verwischen. Ondulierte das Haar zu jenen stolzen, im Nacken auslaufenden Wellen, die sie bei griechischen Marmorfrauen gesehen hatte. Wußte sie sich doch an stiller, leid- und glückenthobener Größe ihnen gleich.

Hierauf fuhr sie zu ihm.

Die Uhr schlug ein viertel nach eins, – da stand sie vor dem Säulenportal.

Niemand war auf dem Hofe zu sehen, nur der Portier zog mit vertraulichem Lächeln tief seine Mütze.

Noch war sie ja »dem Chef sein Verhältnis«.

Hätte sie wenigstens die Vorsicht beobachtet, ihn vorauszuschicken!

Die Tür zum vorderen Kontorraum war unverschlossen, wie immer, wenn er hinten noch arbeitete. Den geheimen Griff, der das hölzerne Gitter öffnete, kannte sie seit langem.

Behutsam klopfte sie an die hintere Tür, die heute nicht wie sonst halb offen stand.

Sein »Herein« erklang.

Sie trat ein und stand – vor seiner Mutter.

Nie bisher hatte sie sie gesehen. Sie hatte sie sich auch ganz, ganz anders vorgestellt. Statt der hohen, hageren, Ehrfurcht gebietenden Greisin, die in ihrer Phantasie gelebt hatte, saß da neben seinem Schreibtisch eine mittelgroße, rundliche Frau mit halbergrautem Haar und schwarzem Blondenhäubchen, die aus grauen, kalten Augen mit einem überraschten und mißvergnügten Blicke zu ihr emporsah.

Sie wußte aber sofort: Das ist sie.

Richard, der in seinem Lutherstuhle hockte, war in die Höhe gefahren.

Reglos vor Schreck starrte Lilly die alte Dame an, die nun gleichfalls von ihrem Sitze aufsprang, während ein böses Feuer von Zorn und Verachtung die kalten Augen in Brand setzte.

»Das wird ja immer schöner,« rief sie und drehte den Kopf mit einem kurzen, scharfen Rucken bald zu ihrem Sohne, bald zu Lilly hin. »Nicht einmal in seinem eigenen Hause ist man mehr sicher … Ich bitte mir aus, Richard, daß ich der Begegnung mit solchen Personen nicht wieder ausgesetzt werde.«

Und während Lilly ängstlich und ehrfürchtig zur Seite trat, schob sie sich mit einem kurzen, empörten Fauchen an ihr vorbei und zur Tür hinaus.

»Was willst du hier? Was hast du hier zu suchen?«

Noch niemals hatte er sie so angeschrieen.

Er stand vor ihr, hatte die Hände in die Hosentaschen gepflanzt und biß sich die Schnurrbartspitzen, während sein Kopf ganz auf der Seite lag. Wie ein tückischer, ducknackiger Bulle sah er aus.

Sie wollte ihm Bild und Briefe hinreichen, wollte alles sagen, aber Glieder und Stimme waren ihr wie gelähmt.

»Ich – ich – ich –,« stammelte sie und schluckte.

»Ich – ich – ich,« spottete er nach. »Ich – ich – ich möchte mich gern hier reinschlängeln … Ich – ich – ich möchte hier selber Herrin sein – was? … Nein, mein Engelchen … Da muß ein Ende gemacht werden. Und zwar sofort … Die sogenannte unglückliche Liebe zur Fabrik ist mir schon längst verdächtig gewesen … Mach, daß du raus kommst! Mach, daß du raus kommst – sag' ich!«

Und da war sie schon draußen …

Das Päckchen in seiner Seidenpapierhülle hielt sie noch immer zwischen den krampfhaft geschlossenen Fingern. – –

Taumelnd schritt sie dahin … An blanken, roten Hausmauern dahin, die auf sie niederzufallen drohten … Ein Mehlwagen streute weiße Wolken … Auf einem Fabrikhof kreischte ein Flaschenzug … Wenn irgend Einer ihr entgegenkam, schlug sie einen Haken nach dem Fahrdamm hin, denn sie fürchtete, er würde ihr seine Verachtung ins Gesicht feixen.

Ein verlorenes Röllchen Seidengarn lag vor ihr auf dem Bürgersteig. Sie hob es auf und dachte dabei an Sichaufhängen.

Ja, irgend etwas mußte geschehen.

Verlassen werden – gut – mag sein – wenn es nicht anders ging. Darin muß eine jede sich fügen, wenn die Reihe an sie kommt.

Aber fortgejagt – hinausgeworfen – wie eine Hausdiebin – wie die Letzte von der Straße – abgeschüttelt, ausgespieen – –!

Da mußte etwas geschehen!

Irgend etwas, um sich an ihm zu rächen.

Und mochte er diese Rache auch nicht mehr fühlen, gleichviel! Er würde schon erfahren, daß er schuld war an allem. Wenn sie hinunter stieg in den Sumpf, vor dem das Grauen sie bisher geschüttelt hatte, und wenn sie darin verkam – –!

Irgend etwas mußte geschehen. – Irgend eine Tat der Selbstvernichtung, die sie wert machte, so und nicht anders behandelt zu sein … und die sie befreite von diesen Qualen – von diesen Qualen!

Das Herz hing in der Brust wie eine schmerzende Geschwulst. Sie hätte es mit dem Finger umzeichnen können, so scharf abgegrenzt fühlte sie es. – Als hielte eine Klaue mit ihren Widerhaken es umklammert, so fühlte sie es.

Wieder einmal fielen die Geier ihr ein, die in dem Bilde Kellermanns lauernd saßen.

Auf Lilly Czepanek lauerten sie. Auf wen denn sonst?

Und dann plötzlich fuhr es wie ein Feuerstreif zischend an ihr vorbei.

Das war es! Das war es!

Sie rief nach einer Droschke.

Vorwärts! Vorwärts!

Wohin?

Und dann fuhr sie so rasch, wie es ging, zu Herrn Kellermanns Haus.

Sie rannte die Treppen empor, dieselben Treppen, die sie vor acht Monaten in wiegender Glückseligkeit an Richards Seite hinuntergeglitten war, trat zitternd in den dunklen Vorsaal, aus dem ein Nachtgeruch ihr ätzend entgegenschlug, und klopfte mit versagender Hand an die Ateliertür.

Herr Kellermann saß in Pluderhosen und Pantoffeln auf der Erde vor dem türkischen Taburett, grade so wie damals bei ihrem ersten Besuch, machte sich an seiner Kaffeemaschine zu schaffen und sah vergnügt und verquollen aus.

»Donnerwetter!« sagte er und zog das Nachthemd am Halse zusammen. »Ein verfluchter Hund ist meine Katze … Wat wollen Sie denn mit einmal hier, edle Jöttin? Blühen etwa die Sonnenuntergänge wieder auf?«

Sie antwortete nichts, legte Hut und Umhang auf einen Stuhl und begann die Taille aufzuhaken. Dabei sah sie sich nach einem Wandschirm um, aber es war keiner da.

Die Modelle, die hierher kamen, genierten sich nicht.

Er war aufgesprungen und starrte sie an.

Und dann plötzlich, als er begriffen hatte, brach er in ein Jubelgeheul aus: »Was hab' ich gesagt? Was hab' ich gesagt: Sie werden kommen? – Sehn Sie woll! Nu is es so weit! Nu schrein wir selber nach Erlösung, und is keine da.«

»Ich schreie ja gar nicht,« erwiderte sie, höhnisch die Mundwinkel hoch ziehend. »Aber wenn ich bitten darf, sehen Sie solange weg.«

Er sprang nach dem Bilde, das in seinem Blendrahmen an der Mauer lehnte, blies den Staub herunter, schlug die Keile fest und richtete die Staffelei.

Dabei lachte und grunzte er in sich hinein: »Nu is sie also doch gekommen.«

Sie hatte die Kleider abgeworfen und riß an den Achselschleifen des Hemdes, die den erstarrenden Fingern nicht nachgeben wollten.

Und nun stand sie hüllenlos. – –

Das grelle Atelierlicht drang wie mit tausend Nadeln und Pfeilen schmerzend in ihr Fleisch.

Sie wollte sich jammernd verkriechen, aber sie bog die geballten Fäuste nach außen und gab sich breitbrüstig den gierigen Augen des Malers preis.

»Wollen Sie denn nicht anfangen?« fragte sie, fühlend wie der wehe Hohn ihr das Gesicht verzerrte.

»Jawohl – anfangen – gleich anfangen,« stammelte er, an jedem Worte würgend. »Nichts sagen, kein Wort sagen … Sonst ist die Vision vorbei. Bloß anfangen.«

Er griff nach der Palette, drückte die Tuben aus und stellte das Bild zurecht.

Hierauf machte er ein paar Striche, aber er warf den Pinsel wieder hin. Er schwankte wie ein Betrunkener.

»So hat's keinen Zweck,« sagte er, in seinem Barte wühlend, »Sie müssen erst die Pose haben.«

»Alles, was Sie wollen,« erwiderte sie immer mit demselben Hohnlächeln und streckte die Arme aus, wie sie es auf dem Bilde gesehen hatte.

Er war noch nicht zufrieden und wollte sich ihr nähern, wagte es aber nicht.

»Ich werde Ihnen den Spiegel zurechtrücken,« sagte er, »da können Sie sich selber korrigieren.«

Er schob das drehbare Möbel so weit nach vorn, daß Lilly sich in dem Glase erblicken konnte.

Sie schauderte. Wie ein fremdes, wildes Tier erschien sie sich, das noch nicht einmal schön war.

»So geht es noch immer nicht,« hörte sie ihn sagen. »Die Bewegung hat keinen Sinn, wenn man nicht weiß, weswegen.«

Er ging nach hinten, kramte unter allerhand Gerümpel und holte eine mächtig dicke, rotbraun gerostete Eisenkette hervor, die nicht im mindesten klirrte.

»Sie wird nicht kalt sein und nicht drücken,« sagte er mit einem kurzen, gezwungenen Lachen, »denn sie ist bloß Papiermaché.«

Und dann mußte sie es dulden, daß er ihr nahe kam und ihr die Kette um die Glieder legte.

Sein Atem ging schwer und überströmte sie heiß.

Wenn seine bebenden Finger ihr Fleisch berührten, war es jedesmal wie ein Messerschnitt.

Dann kehrte er zur Staffelei zurück, tastete nach dem Pinsel und begann von neuem zu malen.

Und plötzlich warf er alles fort, ergriff das Bild mit beiden Händen und schlug es gegen die Staffelei, so daß der eine der Pfeiler quer durch die entzweiknallende Leinwand drang.

»Um Gottes willen,« rief sie entsetzt.

Da stürzte er sich über sie.

Sie machte einen schwachen Versuch, sich mit den Ketten zu wehren.

Aber die waren ja von Papiermaché.

Und sie hatte es auch nicht besser gewollt.

Rasch, mit geschlossenen Augen hinunter in den Sumpf!


Am Nachmittag des nächsten Tages kam Richard zum Tee wie gewöhnlich. Seine Augen waren glasig und gerötet. Ganz zusammengefallen sah er aus, aber er tat, als ob nicht das mindeste geschehen wäre.

Sie hatte ihn kaum noch erwartet und empfing ihn mit kalter Verwunderung.

»Ach so – wegen gestern,« sagte er. »Ja, da hab' ich dann noch mit Mama eine harte Auseinandersetzung gehabt … Auf den Hof darfst du in der Tat nicht mehr kommen. Das hab' ich ihr versprechen müssen … Aber im übrigen, denke ich, reden wir nicht mehr über die Sache. Die kühle Blonde reist auch schon heute Abend. Also gib mir einen Kuß.«

Und sie gaben sich einen Kuß. Und alles war wie immer.


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