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XII

Im Frühherbst desselben Jahres machte Richard, um Ehemannsferien zu haben, einen Ausflug nach Ostende, während Lilly in einem kleinen Ostseebade als junge Witwe von Stande billig und harmlos dahinlebte … Sie empfing die Huldigungen mehrerer ältlicher Fräuleins, ließ sich von einem jungen Missionar ein Gedichtbuch widmen und wies den ehrenvollen Antrag eines verwitweten Rechnungsrates aus Pirna in Achtung und Freundschaft zurück. Das waren einmal sechs Wochen so recht nach ihrem Geschmacke.

Der Winter, der nun folgte, unterschied sich wenig von den vorhergehenden.

Zu Weihnachten bekam sie einen Monatswagen, dessen Tür natürlich die siebenzackige Krone trug. Richard hatte vermeiden wollen, daß seine Mutter, die von Jahr zu Jahr schlechter auf Lilly zu sprechen war, nach der Equipage des Hauses verlangte, während er mit seiner Mätresse darin spazieren fuhr.

Auch eine Zobeljacke bekam sie. Eine von den neumodischen mit unzähligen Schwänzen, die ein kleines Vermögen gekostet hatte.

Aber Richards Vorwürfen zum Trotz machte sie von beidem nur selten Gebrauch. Denn die niemals schweigende Angst sagte ihr, daß sie durch diese Art von falschem Pomp jener Welt, der sie entfliehen wollte, nur immer näher rückte.

Und während Richard die Hochgefühle des Lebemanntums mit mürrischer Gier bis auf die Neige auszukosten strebte, kroch ihr Verlangen immer weiter in die Bürgerlichkeit zurück. Sie brauchte sie als letztes Spiel der Hoffnung, um das Weiterschleichen des Lebens zu ertragen, dessen gänzliche Verarmung sie inmitten von Lachen, Lichtern und Musik immer quälerischer empfand.

Die einzige im Kreise der Gefährten, von der ab und zu etwas wie eine geistige Anregung ausging, war Frau Jula. Sie wußte Geschichten zu erzählen, sie zeigte, daß sie auch in anderen Welten zu Hause war und, was sie dort empfing, in reger Seele zu verarbeiten wußte.

Um ihren törichten Strudelkopf schlang sich übrigens seit einiger Zeit ein Schleier undurchdringlicher Geheimnisse. Die liebestollen und blutrünstigen Verse, die sie sonst in jungdeutschen Revuen zu veröffentlichen pflegte, waren verschwunden, und ihre nymphomanisch zuckenden Geschichtchen fanden sich nirgends mehr. Wenn man sie neckend fragte: »Was ist aus Ihrem Dichten geworden?« dann lächelte sie ein bräutliches Lächeln und sagte: »Ihr werdet schon sehen.«

Gerne wäre Lilly ihr jetzt freundschaftlich nähergetreten. Sie fühlte sich ihr gegenüber schon lange nicht mehr als etwas Besseres und sittlich Überlegenes. Aber sie vermochte nicht mehr an sie heranzukommen, und darum trug sie ihre Not und ihre Hoffnung in einsamer Seele dürstend weiter.


Was nun kommt, geschah am neunzehnten März. Das Datum ist ihr nie aus der Erinnerung gewichen, denn es war der Sankt Josephstag.

Ein Tag voll herber Frühlingswinde und rotgrauen Sonnenscheins.

Einer von den Tagen, an denen das Weltorchester sich neu zu stimmen scheint, ehe es uns seine große Frühlingsmusik noch einmal durch die Sinne jagt.

Die Rasenflächen an den Kanalböschungen fingen schon an zu grünen, auf dem leichtgewellten Wasserspiegel wiegten sich paarweise die wilden Enten, und große Schaumstücke aus zerfließendem Eise segelten leuchtend dem Untergange zu.

Lilly steckte so übervoll von wirrer, weher Sehnsucht, daß es sie nicht länger im Hause hielt. Sie wollte laufen, schreien, jauchzen, über Zäune klettern, sich auf die Erde werfen – ganz gleich, was – nur für ein paar Stunden hinaus aus dieser Gefangenschaft, die nach Parfüms und Puder roch und auf der der Geist der Trägheit lastete.

Sie kleidete sich zum Ausgehen an, sagte Adele, dem Mädchen – es war diesmal ein ältliches, gönnerhaftes und mit dem Dienst bei einzelnen Damen überaus vertrautes – ein paar aufklärende Worte, und ohne den eigenen Wagen erst viel zu bemühen, fuhr sie mit der Straßenbahn rasch zum Grunewald hinaus.

Am Wildgatter, dort, wo die geleckten Häuser der Reichen ein Ende haben und der gemißhandelte Wald sich hoch über das knebelnde Menschenjoch emporreckt, stieg sie aus und lief aufs Geratewohl ins Weite.

Ein paar Autos jagten auf der Landstraße an ihr vorüber. Aus dem einen winkten junge Herren lachend hinter ihr her. Vielleicht machte man sich einen Scherz, vielleicht hatte man sie auch erkannt. Für alle Fälle bog sie schleunigst in den Sandweg ein, der an dem Seegestade entlang zum alten Jagdschloß führt.

Weit und breit war hier keine Menschenseele zu entdecken.

Der kalte Märzenwind fegte über den milchigen Wasserspiegel dahin und wühlte sich in dem Röhricht fest, so daß die dürren Halme leise knirschend sich aneinander rieben. Rings um sie schimmerte noch Eis. So dünn und durchlöchert war es, daß jedes Wellchen, das ans Ufer wollte, in kleinen Springquellen daraus emporschoß.

Hie und da kam ein Vogelsang aus den Fichtenzweigen, dürftig genug, um zaghafte Frühlingswünsche wieder zu ersticken.

»Zwischen den Straßenmauern sieht es mehr nach Frühling aus, als hier,« dachte Lilly. Aber die Frische des Windes, der nach Moos und Nadeln duftete, tat ihr wohl. Mit weitausholenden Schritten warf sie sich ihm entgegen. Sie fühlte die Backen glühen, sie fühlte, wie der eingefrorene Blutstrom wieder zu rauschen begann und den brachliegenden Körper mit neuem Leben durchpulste.

Und die brachliegende Seele auch.

Ein Lachschauer durchrieselte sie. Blödsinn war alles. Ihr Gram, ihre Sehnsucht. Richards snobiger Ehrgeiz, Mamas ewige Heiratspläne. Selbst die Bürgerlichkeit war Blödsinn.

Was sollte sie damit wohl noch anfangen? Sie, Lilly, die Freie, die Wilde, die Verdorbene? Etwas anderes, etwas Höheres gab es, mußte es geben, nicht wie Herr Doktor Salmoni es verstand, o nein, etwas, das so hart und rein und lebenbringend wie dieser Märzenwind durch alle Glieder fegte.

Von einem Fichtenstamm hernieder kam ein schlürfendes Pfeifen, das sie aus dem Lischnitzer Parke her wohl kannte, halb ein Angst- halb ein Lockruf, in einem schnalzenden »Tschek-tschek« endigend.

Sie blieb stehen, schaute empor und pfiff auch.

Ein Eichkatzenpaar war's, das sich in Schraubenlinien um den Stamm herumgejagt hatte und nun bei ihrem Erscheinen in jähem Erschrecken innehielt.

»Tschek-tschek« machte sie, um die kleinen Rotröcke zu neuem Spiele aufzuscheuchen, und da es ihr nicht gelang, so hob sie ein Steinchen vom Boden auf.

Da, wie sie eben zum Wurfe ausholen wollte, sah sie plötzlich – hinter einem Stamme hervor – zwei Augen auf sich gerichtet, zwei groß fragende, staunende Augen, die sich unter ihrem Blicke verengten, verdunkelten, sich abwenden wollten und doch nicht abwenden konnten – zwei Augen, die sie kannte, in die sie vor langen, langen Zeiten schon einmal geschaut haben mußte.

Und doch wiederum nicht.

Denn der junge Mann, der dort, den Hut in der Hand, immer noch halb verborgen hinter dem Baume stand und dem Spiel der Eichkätzchen zugeschaut hatte wie sie selbst, war ihr fremd, ganz fremd. Nie im Leben konnte sie ihm begegnet sein, denn wenn sie ihm je begegnet wäre, so hätte sie ihn nicht wieder vergessen.

Dieses ernste, in sich geschlossene Junggriechengesicht mit der nervösen, dünnsattligen Nase und den leuchtenden Träumeraugen, das vergaß man nicht.

Sehr elegant sah er nicht aus, und das war ihr gerade recht so. Einen braunen Überzieher hatte er an – von nicht ganz modernem Schnitte, und der Jackenanzug, der darunter zum Vorschein kam, war aus einem wolligen, mit Knötchen besetzten Stoffe, der aus Deutschland nicht stammte und aus England erst recht nicht.

Allgemach kam Leben in ihn. Er bedeckte sich, trat hinter dem Baum hervor – –

»Jetzt wird er mich anreden,« schoß es ihr lähmend durch den Kopf. –

Nein. Er lüftete nur grüßend den Hut, sah ihr noch einmal einen Augenaufschlag lang fragend, staunend – und erkennend gleichsam – ins Gesicht und schritt an ihr vorüber den Weg hinab, auf dem sie soeben gekommen war.

Auch sie wollte weitergehen, aber sie vermochte es nicht, und da sie sich nicht ertappen lassen durfte, wie sie ihm nachsah, so verbarg sie sich hinter demselben Baum, hinter dem er vorhin gestanden hatte.

»Ob er sich umschauen wird?«

Nein, auch das tat er nicht. Und sie fühlte sich gekränkt und vernachlässigt.

Kleiner und kleiner wurde die hohe Gestalt, die ein wenig schwerfällig im Sande dahinschritt, – »Soldat ist er nicht gewesen,« dachte sie, – dann schien es ihr, als ob er sich bückte. – Und dann sah er sich doch noch um. Ja, er hielt sogar eine lange und sorgfältige Ausschau, als ob er sie durchaus erspähen müßte.

Aber sie stand gut versteckt und rührte sich nicht.

Dann ging er weiter und verschwand hinter einer Zunge des Röhrichts.

»Wie schade, daß ich nicht den Wagen genommen habe,« dachte sie.

Dann hätte sie jetzt unauffällig hinter ihm herfahren können, und auch die siebenzackige Krone hätte ihren Eindruck nicht verfehlt. Statt dessen hegte er jetzt natürlich eine sehr schlechte Meinung von ihr, der einsam Herumstreichenden, die Pfiffe ausstieß wie ein Junge und nach armen, verliebten Eichkatzen mit Steinen warf.

Aber trotzdem war ihr beim Weiterwandern zu Mute, als habe sie etwas Schönes und Liebes geschenkt bekommen. –

Wo konnte sie ihn nur schon einmal gesehen haben? …

Ein junger Mann aus den Dresdner Tagen fiel ihr ein, der ihr, als sie am Arm des Obersten gegangen, in der Prager Straße begegnet war und ihr gerade so wie dieser mit einem traurig auflodernden Feuer des Erkennens in die Augen geschaut hatte.

Damals – dessen erinnerte sie sich wohl – wäre sie am liebsten umgedreht und hätte ihn gefragt: »Wer bist du? Gehörst du zu mir? Willst du, daß ich zu dir gehöre?«

Aber schon das halbe Umwenden des Kopfes hatte in den Augen ihres Mannes als Verbrechen gegolten.

Und heute, da sie frei war, so frei, daß sie ihre Freunde wählen konnte nach ihres Herzens Willkür, hatte sie ihn ziehen lassen, ihn, jenen – gleichviel, ob er derselbe war oder ein anderer – ihn, der vielleicht zu ihr gehörte, wie sie zu ihm!

Mit halbgeschlossenen Augen ging sie und malte sich sein Bild: Einen schmalen, dunkeln, zweizipfligen Bart hatte er getragen, auf den Backen so kurz geschoren, daß er nur wie ein blauer Schimmer erschienen war. In Berlin sah man solche Bärte selten, Franzosen und Italiener trugen sie … Zwei volle, harte, fest aufeinandergepreßte Lippen hatte er gehabt, wie mit dem Meißel herausgearbeitet, und eine hohe, viereckige Stirn, in die etwas wie ein Zorn gegraben schien, aber nicht ein gewöhnlicher Zorn – auf sie oder sonst einen armen Erdenmenschen, nein, ein Zorn, der nicht von dieser Welt, der eigentlich eine göttliche Liebe war.

So schwärmte sie. Vergaß den Weg, irrte umher und fand sich schließlich ganz wo anders, als sie gewollt hatte. Die bösesten Dinge hätten ihr in dem Walde begegnen können, in dem alleingehende Damen zu keiner Tageszeit vor Strolchen sicher waren. Aber sie dachte kaum daran, stieg in die erste beste Bahn und kam zwei Stunden nach der festgesetzten Zeit glühend und erschöpft zu Hause an.

Sie mochte nichts essen. Sie warf sich auf die Chaiselongue und träumte.

Da ging die Klingel. Eine Männerstimme ließ sich hören.

Richard konnte es nicht sein. Der kam vor halb fünf niemals.

Adele trat ein. Es wäre ein fremder Herr draußen, der ließe fragen, ob gnädige Frau ihre Visitenkartentasche vermisse, er habe eine im Walde gefunden.

Lilly fuhr in die Höhe. Die kleine Brokattasche, die sie mit dem Silbernetz zusammen in der Hand gehalten hatte, war fort. In ihrer Erregung hatte sie den Verlust noch nicht einmal bemerkt gehabt.

»Wie sieht der Herr aus?«

Groß wäre er und jung und hübsch, sogar sehr hübsch wäre er.

»Hat er einen dunklen, kurzgeschnittenen Bart?«

Ja, den habe er.

Der glückselige Schreck war ihr so jäh zum Herzen gefahren, daß sie ins Taumeln geriet.

»Lassen Sie ihn eintreten,« stammelte sie und dachte nicht einmal daran, sich schön zu machen, nur zwei- dreimal strich sie verworren über Gesicht und Haar.

Als er in der Türöffnung erschien, vermochte sie ihn kaum zu erkennen. So dicht hatten sich die roten Schleier ihr über die Augen gelegt.

»Ich bitte um Vergebung, gnädigste Frau,« hörte sie ihn sagen, – es war die ruhige, dunkle Stimme eines Mannes, der keine unlauteren Wege geht – »ich hätte mir nicht erlaubt, Sie zu stören, wenn auf Ihren Karten die Adresse vermerkt gewesen wäre. Da es aber mehrere Ihres Namens geben kann, die im Adreßbuch vielleicht nicht vermerkt sind –«

»Sie sind sehr gütig, sich zu mir bemüht zu haben,« erwiderte sie und bot ihm einen Platz an.

»Ich heiße Doktor Rennschmidt,« sagte er und wartete hinter der Stuhllehne, bis sie sich in der Sofaecke eingerichtet hatte. Dann zog er, sich setzend, die kleine Brokattasche hervor und legte sie auf den Tisch.

Sie lächelte dankbar, und da sie den Wert seiner Tat erhöhen zu müssen glaubte, sagte sie, diese Tasche wäre ein teures Andenken, dessen Verlust sie sehr geschmerzt haben würde.

»Ein Andenken an meinen – Gatten,« fügte sie hinzu.

Sein Gesicht wurde um einen Schatten ernster.

Eine kleine Pause entstand. Derweilen ruhten seine Blicke unverwandt auf ihren Zügen, lasen und fragten, verglichen und verwunderten sich. Nichts von dem dreisten Tasten und Umstreichen anderer Blicke war's, – eine reinliche und selbstlose Freude lag darin, eine Andacht beinahe.

»Waren wir uns nicht kurz vorher am Waldrande begegnet?« fragte sie mit Vorsicht.

Er bejahte lebhaft. »Und wäre ich nicht gar so ungeschickt gewesen, so hätte ich Sie schon gleich um Verzeihung gebeten dafür, daß ich unabsichtlich den Lauscher gespielt hatte … Ich sah ja auch, wie Sie erschraken, aber ich war selber so – wie soll ich sagen? … ich dachte bloß: ›Mach, daß du fortkommst, damit wirst du der Dame den besten Dienst erweisen.‹«

Das sagte er in einer fröhlichen und offenen Weise, die ihr wohltat und sie ein wenig beschämte.

»Und nun haben Sie mir noch einen viel größeren erwiesen,« entgegnete sie und fühlte sich so weich und so erkenntlich gestimmt, als hätte er ihr mindestens das Leben gerettet.

»Ach, ich bitt' Sie,« wehrte er ab. »Wäre ich nur wenigstens gleich umgekehrt. Aber Sie waren ja wie in den Erdboden gesunken. Ich habe mir nachher nicht schlecht Sorge gemacht um Sie.«

Sie lächelte ängstlich-glücklich in sich hinein. Viel fehlte nicht, so hätte sie ihm bekannt, wo sie derweilen gesteckt hatte.

»Was haben Sie sich nur von mir gedacht,« fragte sie, »als Sie mich so allein im Walde umherziehen sahen?«

»Daß Sie sich in der Natur nicht allein fühlen. Sonst hätten Sie sich ja Gesellschaft mitgebracht.«

»Das ist wahr,« erwiderte sie eifrig. »Mein Wagen wartete überdies im Hundekehlenrestaurant –« nun hatte sie die Geschichte von ihrem Wagen richtig doch noch angebracht – »aber unvorsichtig war es immerhin … Sie lieben wohl auch die Natur sehr?«

»Sehr?« fragte er zurück. »Ich weiß nicht. Ich müßte von Rechts wegen antworten wie Cordelia: ›Nach Schuldigkeit, nicht mehr, nicht weniger.‹ Denn Naturliebe – das ist ja eigentlich gar kein Verdienst. Keine Eigenschaft. Sondern eine einfache Lebensfunktion. Scheint Ihnen das nicht auch so, gnädige Frau?«

»Gewiß,« stammelte sie und dachte dabei: »Ach, wie ist er klug! Und wie wirst du vor ihm bestehen?«

»Aber ich will ganz aufrichtig sein,« fuhr er fort, »mit dieser Natur hier geht's mir seltsam. Ich kann mich nicht recht wieder an sie gewöhnen. Ihre Ärmlichkeit bedrückt mich. Mir geht's wie einem, der dem Vaterhaus entwachsen ist, und der sich deshalb Vorwürfe macht. Ich suche ja auch wieder in das alte Verhältnis zu ihr zurückzukommen und schmeichle mich an sie ran, wo ich nur kann. Aber erst müssen jene Bilder zu verblassen anfangen. Ich bin nämlich vor kurzem aus Italien zurückgekehrt, wo ich meine zwei letzten Lebensjahre zugebracht habe.«

Mit einem Seufzer starrte sie ihn an. Ihr war, als gebe es nun schon gar nichts Irdisches mehr an ihm. »Zwei ganze Jahre?« fragte sie staunend.

»Ich habe eine große wissenschaftliche Arbeit vor,« fuhr er fort, »um derentwillen ich – – nein, eigentlich bin ich wegen meiner Gesundheit hingeschickt worden … mein Onkel, der Vaterstelle an mir vertritt, wünschte es so … Der Gedanke an die Arbeit ist mir in jener Welt erst aufgegangen, und dann traten Vaterland und Studium und alles dahinter zurück.«

Wie er das sagte, die Augen brennend starr ins Leere gewandt, ganz Wille, ganz Begeisterung, da schlug die alte, erstorbene Italiensehnsucht in ihr von neuem mit den Flügeln.

»Ja, nicht wahr?« rief sie in Begeisterung wie er. »Dort wachsen alle Ideen. Dort fühlt man, was man kann … Dort wird man, was man von Anbeginn hat werden sollen … Ist es nicht so? … Ich bin ja nie dagewesen, aber ich fühle es ganz klar: Dort, wo alles Große und Schöne zu Hause ist, da wird man selber größer und schöner, – und – alles – Elend fällt ab … Ist es nicht so?«

Er hatte stutzend aufgehorcht und umfing sie mit einem großen, strahlenden Blicke.

»Ja, gnädige Frau,« sagte er beinahe feierlich, »gerade so ist es.«

Ein Schauer des Glücks überlief sie. War es nicht, als ob das Bekenntnis der inneren Zusammengehörigkeit, die sie vom ersten Augenblick an in ihm gesucht und erhofft hatte, sich mit diesen Worten ans Tageslicht drängte? Als könne ihn nun nichts mehr von ihr trennen?

Sie sah vor sich nieder und wußte nicht aus noch ein.

War er wirklich der Körper zu jenem Schatten, der sich seit den Dresdner Tagen widersinnigerweise in ihrer Seele festgefressen hatte?

»Mir ist's, als sind wir uns schon einmal begegnet,« sagte sie leise, ohne den Blick zu erheben.

»Ganz genau so geht es mir,« erwiderte er hastig. »Aber es kann nicht sein, denn sonst wüßte ich auch, wo und wann.«

»Waren Sie vielleicht vor sechs Jahren um diese Zeit in Dresden?« fragte sie.

Er verneinte. »Vor sechs Jahren studierte ich in Bonn. Das Semester schloß wohl um diese Zeit, aber dann ging ich zu meinem Onkel, der sich eben seine Burg ausbauen ließ.«

»Wo liegt die?«

»Bei Koblenz.«

Damit war es also nichts.

»Aber, da wir beide dasselbe Gefühl haben, – –« sagte sie.

»Es gibt Bilder in unserem Seelenleben,« entgegnete er, »die Erinnerungen scheinen und in Wahrheit Voraussichten sind.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, daß man – daß man – zwischen Vergangenem und Zukünftigem auf einer Messerschneide geht, und daß man taumelt und ins Leere fällt, sobald man – –«

»Was?«

»Sobald man – –« er brach ab. »Verzeihung, Sie sind Künstlerin, gnädige Frau?«

»Weswegen?« fragte sie ängstlich und befremdet zurück. Wollte er sich über sie lustig machen?

»Ich habe es draußen auf dem Schilde gelesen.«

Das Schild! »Atelier für Blumenkunst!«

Aus einem Traume jäh in den Jammer der Wirklichkeit zurückgerissen …

Aber nun hieß es Haltung wahren. Seiner Achtung durfte sie nicht verlustig gehen.

»Allerdings,« sagte sie. »Es ist zwar nur eine bescheidene Kunst, die ich früher gepflegt habe, aber sie hat mich sehr glücklich gemacht. Ich hatte sie gelernt, als ich eben – verwitwet war,« – das fatale »geschieden« mochte sie gar nicht erst in den Mund nehmen – »weniger um des Erwerbes willen, als um einen Lebensinhalt zu haben. Aber ich habe sie dann aufgeben müssen … eines – Augenleidens wegen.«

Drei Lügen in einem Atemzuge.

Doch was half's? Lüge war ja alles in ihr und um sie herum. Jede Miene, jeder Gedanke! – Nur der eine große Seelenschrei, der ihr ganzes Wesen durchzitterte: »Du sollst mein sein, ich will dein sein,« der war nicht Lüge. Und um seinetwillen log sie weiter.

»Ich spreche nicht gern davon,« – sie fuhr mit dem Taschentuch über die Augen – »es schmerzt mich noch immer zu sehr. Und ich bitte Sie auch künftig nie wieder daran zu rühren.«

»Nie wieder,« hatte sie gesagt. Und dieses verräterische und zudringliche »nie wieder«, das das Fortbestehen ihrer Beziehungen schon als etwas Gegebenes, Naturgemäßes hin stellte, erfüllte sie mit Verwirrung und Scham.

Sie erhob sich und wandte sich ab.

»Verzeihung,« bat er betroffen. »Ich habe nicht ahnen können …«

Er war gleichfalls aufgestanden, um zu gehen.

In ihr schrie es: »Bleib, bleib, bleib!« Aber sie war wie gelähmt.

Vielleicht auch hatte er ihre Lügen durchschaut, hatte längst erkannt, wer sie war, und wollte nicht bleiben.

Sie fühlte wie ihre Mienen in Hochmut vereisten.

»Jedenfalls war es sehr liebenswürdig von Ihnen,« sagte sie, ihm gnädig die Fingerspitzen reichend.

Jetzt war der Augenblick da, in dem sie ihn einladen mußte wiederzukommen, aber die Worte erstarrten ihr auf der Zunge.

Er war sehr blaß geworden und sah ihr mit großen, ernsten Augen fragend, erwartend ins Gesicht.

»Hoffentlich begegnen wir uns noch einmal,« sagte er dann.

»Ich hoffe dasselbe,« erwiderte sie sehr höflich.

Er berührte mit den Lippen leicht ihre Hand und ging.

Aus! Also aus! Aus durch ihre Schuld.

Das Glück war gekommen, hatte segnend ihre Stirn gestreift und war von dannen geflogen, ohne ihr mehr zu lassen als diesen Schmerz, diesen nie gefühlten, unsinnigen Schmerz, der als eine körperliche Qual an Hals und Herzen zerrte. – – –

In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, ersann sie tausend Pläne, wie sie ihn aufsuchen und sich ihm nähern könne.

Als Gelehrter hatte er sicherlich auf der Bibliothek zu tun. Dorthin würde sie gehen, um zu lesen und zu studieren, bis sie ihm eines Tages begegnen mußte.

Oder noch einfacher: sie würde ihm schreiben.

»Ich liebe Sie nicht,« würde sie ihm schreiben. »Wie sollte ich Sie lieben, ich kenne Sie ja kaum, aber ich habe das untrügliche Gefühl, daß ich Ihnen im Leben etwas sein könnte, darum – –«

Und schließlich zerstörte sie alles zusammen aus Ekel vor der eigenen Würdelosigkeit.

Nein, so warf Lilly Czepanek sich denn doch nicht fort.

Aber von nun an litt es sie wieder einmal nicht mehr zu Hause.

Bei Tage ging sie durch die Potsdamer und die Leipziger Straße und überall dahin, wo der weltstädtische Verkehr sich am dichtesten zusammenpfercht. Am Abend irrte sie nicht mehr in fremde Gegenden hinaus wie früher, sondern wanderte in der Nähe ihrer Wohnung an den einsamen Ufern des Kanals mit den großen Schritten einer Vielbeschäftigten unaufhörlich auf und nieder.

Sie ließ auch trotz ihrer Sparsamkeit im Ecksalon das Licht stets brennen, wenn sie fortging, und gab sich keine Rechenschaft, weswegen. – –


Am vierten Abend nach jener Begegnung war's – so um die achte Stunde, – und die Sterne standen wie Lampen am Himmel, – da geschah's, daß sie, am jenseitigen Kanalufer entlang gehend, zwischen den Baumstämmen die Gestalt eines jungen Mannes bemerkte, der unverwandt nach der Richtung hinübersah, in der ihre eigene Wohnung liegen mußte.

Von seinem Gesicht ließ sich nichts erkennen, denn er drehte ihr den Rücken zu, und es war auch ziemlich finster an dieser Stelle.

Mit einem kleinen Herzpochen ging sie ihres Weges, aber nach einer Weile wollten die Füße nicht weiter. Sie mußte umkehren.

Die dunkle Gestalt stand regungslos noch immer zwischen den Bäumen, und über das Wasser herüber blinzelte durch das kahle Gezweig das Licht des Ecksalons.

Dieses Mal hörte er ihren Schritt und wandte sich ihr zu.

Aufzuckend erkannte sie sein Gesicht.

Auch er war in jähem Erschrecken zusammengefahren. Eine kleine, törichte Bewegung machte er, als wolle er nichts gesehen haben, dann zog er mit befangenem Lächeln tief atmend seinen Hut.

Sie zitterte so sehr, daß sie ihm die Hand nicht reichen konnte.

»Herr – Doktor!« Das war alles, was sie hervorbrachte.

Er war der erste von beiden, der sich zu fassen vermochte.

»Sie werden sich wundern, gnädige Frau,« begann er, an ihre Seite tretend, »daß ich hier im Finstern stehe und hinüberseh' … Wenn ich Ihnen erzählen wollte, es sei Zufall gewesen, so würden Sie mir ja doch nicht glauben, darum will ich Ihnen nur gleich bekennen: ich bin den Gedanken nicht los geworden, daß bei unserem neulichen Auseinandergehen etwas nicht in Ordnung war, – daß da ein Mißverständnis oder eine Übereilung mitgespielt hat. – Kurz, daß ich Ihnen irgend etwas abzubitten habe.«

»Wenn Sie das fühlten,« erwiderte sie, »warum sind Sie nicht zu mir heraufgekommen und haben es mir gesagt?«

»Durfte ich denn das?« fragte er.

»Warum nicht, Herr Doktor?«

»Verzeihung, gnädige Frau! Jedes Recht, das wir Männer Frauen gegenüber haben, wird uns von ihnen gegeben. Ein weiteres existiert nicht für uns. Wir dürfen allenfalls hier im Dunkeln stehen und uns die Lippen zerbeißen – –«

»Haben Sie das getan?«

»Verlangen Sie keine Erklärung von mir.« – Seine Stimme zitterte nicht, aber der Arm, der den ihren streifte, der zitterte.

Erschrocken blieb sie stehen und schaute ratlos den dunkeln Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Das heißt wohl – ich habe – mich – zu verabschieden?« fragte er.

Im Scheine der Laterne sah sie, wie sein Blick in angstvollem Forschen sich gleichsam an sie klammerte.

»O nein,« erwiderte sie langsam, und es war, als ob eine andere für sie spräche. »Da wir einmal zusammen sind, wollen wir auch zusammen bleiben.«

»So denke ich auch,« sagte er, und auf seinen Worten ruhte dieselbe Eidesschwere, die sie in die ihren hineingelegt hatte.

Schweigend gingen sie nebeneinander her.

Dann begann er in leichterem Tone: »Auf eins muß ich Sie aber aufmerksam machen, gnädige Frau: Ihre Lampe brennt. Wenn Sie mir wirklich eine Stunde schenken wollen, so fürchte ich, wird Sie der Gedanke daran beunruhigen.«

»Also löschen wir sie aus!« sagte sie fröhlich und drehte sich so plötzlich auf den Hacken um, daß er noch zwei, drei Schritte über sie hinausschoß.

Als sie den schlanken Bogen der Hohenzollernbrücke überschritten, wies er zum Himmel auf.

»Der Jupiter leuchtet unserem Vorhaben,« sagte er. »Ich liebe ihn mehr als die Venus, die der Sonne nachläuft und rosa Untergründe braucht.«

»Welches ist er?« fragte sie stehen bleibend.

Voll Eifer zeigte er ihr den strahlenden Himmelsbeherrscher und gleich noch fünf oder sechs Sternbilder dazu, so daß sie vor lauter Freude in die Hände klatschte.

»Nun werde ich da oben immer zu Hause sein,« rief sie, »wenn ich Abends allein bin und aus dem Fenster gucke.« Sie dachte noch einiges mehr, aber das sprach sie nicht aus.

Während er vor der Haustür wartete, schlüpfte sie hinauf, drehte den Gashahn um und steckte den Hausschlüssel ein. Zu Adele sagte sie rasch noch, sie würde auswärts essen, dann machte sie, daß sie fortkam.

Und so viel Jubel war in ihr, daß sie beim Hinausgehen taumelnd die Türleiste umklammerte und hell einmal aufschluchzte.

Unten aber war sie wieder ganz gesittet.

»Wenn Sie sich jetzt meiner Führung anvertrauen wollen, gnädige Frau,« sagte er, »ich weiß ein Winkelchen, da vermutet uns keiner, und da sind wir ganz in Italien.«

Sie seufzte tief auf.

»Wenn er bloß nicht immer von Italien reden möchte,« dachte sie. Aber um keinen Preis hätte sie noch irgendwo anders hingemocht.

Fünf, sechs Minuten gingen sie an dem dunkeln Kanal entlang und sprachen dummes Zeug.

Der Lichterwirrwarr der Potsdamer Brücke war schon ganz nahe, da machte er vor einem schmalen Schaufenster halt, in dem bei dürftigem Lampenscheine, von grünkattunenem Weinlaub umschlungen, ein paar Dutzend Weinflaschen wie Spargel aus dem Sande wuchsen.

»Hier schenkt Signore Battistini einen Chianti, wie man ihn in Florenz nicht besser trinkt,« erklärte er.

Sie traten ein, durchquerten einen kleinen Vorraum, in dem der Besitzer, schwarz wie der Teufel, – » sera, padrone« grüßte Lillys neuer Freund – hinter dem Schanktisch Etiketten klebte, und kamen in einen länglichen Saal. Der war mit schlichten Tischen und Stühlen vollgestellt und trug als einzigen Schmuck eine kreuz und quer gewundene Girlande von grünglänzenden Papierschnitzeln, die offenbar den Ehrgeiz hatten, gleichfalls für Weinblätter gehalten zu werden. Sie umringelte die kahlen Gasarme, hakte sich hüben und drüben an den Wänden fest, und damit man genau Bescheid wisse, welcher festliche Anlaß all diese Üppigkeit geschaffen habe, hing von ihrem Mittelpunkt ein Plakat herab, das den Eintretenden jetzt, zu Ende März, ein verspätetes »Prosit Neujahr« wünschte.

»Was sagen Sie zu diesem Feengarten?« fragte Lillys Freund, während der Kellner, schwarz wie sein Herr und mit einem Paar unwahrscheinlicher Feuerräder im Gesicht, die Arme flehend nach ihrem Mantel ausstreckte.

Ringsum an den Tischen saßen haarbuschige Jünglinge, die lange, fadendünne Zigarren zwischen den Zähnen wälzten und, während sie ihr Italienisch mit sinnberückender Schnelligkeit herunterwirbelten, einander vor lauter Eifer die Knebel ihrer Finger fast in die Augen stießen.

»Es sind Marmorarbeiter,« sagte leise Doktor Rennschmidt, »die als Gehilfen bei unseren großen Bildhauern beschäftigt werden. Sie verdienen viel Geld und kehren heim, sobald sie genug gespart haben, um sich einen Hausstand zu gründen.«

Auch zwei Damen saßen da, gesondert von den anderen. Sie trugen die schwarzen, glanzlosen Haare so tief in die Stirn gekämmt, daß die Augen wie Fackeln aus einem dunkeln Walde herausbrannten. In ihren Ohren hingen goldene Reifen, und ungeschlachte Broschen schlossen die allzu tiefen Ausschnitte der Kleider. Mit bewunderndem Neide sahen sie an Lillys Hochgestalt empor und zischelten dann eifrig.

Doktor Rennschmidt nickte ihnen gleichmütig-freundlich zu, als einer, der nichts zu bekennen und nichts zu verbergen hat.

»Chansonetten aus einer neapolitanischen Volkssängertruppe,« sagte er dann. »Ihr Chef ist ihnen durchgebrannt. Nun suchen sie Engagement.«

»Mein Gott, wo bin ich?« dachte Lilly.

Alles war wie ein Traum. Als hätten zwei Zauberflügel sie in ein fremdes Land getragen. Nur das vergnügliche »Prosit Neujahr«, das dicht vor ihr schaukelte, erinnerte sie daran, daß Deutschland und Berlin und die Potsdamer Brücke nicht fern waren.

»Hierher gehe ich tagtäglich seit meiner Rückkehr,« sagte Lillys Freund, als beide sich in einer Ecke häuslich eingerichtet hatten. »Denn das Heimweh nach dem Süden läßt mich nicht los. Das schönste deutsche Essen mag ich nicht, und ich muß auch meinen Chianti haben … Heute wollen wir übrigens was anderes trinken, denn an den müßte Ihr Gaumen sich erst gewöhnen.«

Er winkte dem Kellner, der Francesco hieß, als stamme er aus einem Ritter- und Räuberroman, und führte eine eifrige Unterhaltung mit ihm, als deren Ergebnis eine hellglasige, staubumzogene Flasche auf dem Tisch erschien.

Auch das Essen kam. Fremd anzuschauende Nudel- und Fleischgerichte, in gelbrote Soßen getaucht.

Lilly besann sich nicht, daß ihr je etwas so köstlich geschmeckt hätte. Und das sagte sie ihm auch … Überhaupt – so weit sie rückwärts denken konnte – noch nie im Leben war ihr so wohl gewesen.

Aber das sagte sie ihm nicht.

Eine Fruchtschale – » giardinetto«, das Gärtchen, genannt – mit Mandarinen und Datteln und Gorgonzolakäse machte den Beschluß.

Der gelbe Schaumwein, der nach Muskatnuß duftete, bröselte tropfenspritzend in den Gläsern.

Gegen die Wand gelehnt, ließ sie das Auge träumend auf dem neuen Freunde ruhen.

Sein Kopf wandte sich mit kleinen, schnellen Bewegungen bald hierhin, bald dorthin, wie der eines um sich spähenden Vogels … Überall hatte er etwas zu bemerken, zu beobachten, in sich aufzunehmen … Oder ihn faßte der Wunsch, ihr etwas zuliebe zu tun. Sein Auge blitzte in Eifer und Lebensüberschwang. Und das Runzelgeflecht auf seiner Stirn, das zuckend auf und nieder stieg und das sie für Zornwolken gehalten hatte, schien nur von dem allzu heißen Wollen herzustammen, das in ihm wogte und gärte.

Eine liebe und drollige Gewohnheit hatte er, die den Eindruck des Eifervollen noch erhöhte, nämlich sich mit gespreizten Fingern nach dem Kopfe zu fahren, als wolle er mit ihnen eine buschige Mähne durchkämmen. Aber die Mähne war nicht mehr da, und darum klappte er die Hand stets über der Stirn zusammen und ließ sie so für eine Sekunde auf dem Scheitel ruhen.

Alles in ihm schien Kraft und Entschluß, – zum Bewundern, zum Bangewerden fast. Aber sein Körper war keiner von den robusten, wiewohl ein braungoldiger Hauch von Gesundheit, frisch aus dem Süden mitgebracht, auf seinen Wangen lag. Sein Nacken war zart, sein Atem ging hastig, und wenn von Zeit zu Zeit sein Auge sich verschleierte, gleichsam nach innen blickend, kam ein weiches Ermüden in seine Züge, das ihn jünglingshaft erscheinen ließ und die Mütterlichkeit herausforderte.

»Also das bist du,« dachte sie und dehnte sich in seliger Ruhe. »Das bist du also endlich.«

»Warum schließen Sie die Augen?« fragte er besorgt. »Ist Ihnen nicht wohl?«

»Doch, doch,« sagte sie, ihm mit Mund und Blicken schmeichelnd. »Aber, bitte, erzählen Sie was … Von da unten, wo ich mein Lebtag habe hinwollen und nie hingekommen bin.«

Sie berichtete ihm dann auch gleich von der großen Jugendsehnsucht, die der schwindsüchtige Lehrer in ihr geweckt hatte und die unter all der Lebensasche niemals ganz erloschen war.

»So wäre ich an Ihrer Stelle barfuß hingepilgert,« sagte er.

»Bah,« machte sie, »Geld hab' ich genug gehabt. Aber frei bin ich nie gewesen. Einmal war ich schon bis Bozen. Da mußte ich umkehren … Zur Strafe … Weil ein junger Mann mir schöne Augen gemacht hatte.«

»O weh,« lachte er, »das war hart. Und noch viel härter, als Sie ahnen.«

»Ich ahn's schon,« seufzte sie. »Ich brauch' Sie bloß anzusehen.«

»Warum mich?«

»Weil Sie strahlen wie Moses, als er die Herrlichkeit des Herrn geschaut hatte.«

Er wurde ernst. »Herrlichkeiten gibt's wohl auch hier oben, in denen wir uns spiegeln. Aber Sie haben recht, gnädige Frau. In mir ist so viel Licht und Leben aufgespeichert von dorther, so viele Quellen sind angestochen, so viele Keime sind befruchtet, – – manchmal weiß ich wirklich nicht, wo ich hin soll mit all dem Reichtum. Ich schreib' mir die Finger blutig, und es wird immer noch mehr … Ich möchte immerzu geben, geben, geben … Und weiß nicht, wem.«

»Mir,« bat sie, ihm die flachen Hände hinhaltend, »ich bin so bettelarm.«

Mit großen, strengen Hellseheraugen sah er sie an.

»Arm sind Sie nicht. Aber man läßt Sie hungern.«

»Kommt das nicht auf dasselbe hinaus?«

Er schüttelte den Kopf, sie immerfort starr ansehend.

»Was war Ihr Gatte?« fragte er dann.

»Ich – bin – die geschiedene Frau – eines hohen Offiziers, –« erwiderte sie, während ihr Blick den Boden suchte.

Diesmal – Gott sei Dank! – hatte sie keine Lüge gesprochen.

Und genau besehen doch.

Denn was sie jetzt war!

Für einen Augenblick umfaßte er ihre Hand, die neben der seinen auf dem Tische lag.

»Wird es Ihnen schwer, von Ihrem Leben zu sprechen,« sagte er, »so lassen Sie's. Wenn wir erst Freunde sind, werden wir Zeit genug dazu haben … Ich will Ihnen von mir erzählen, – und wie ich – zu meinem – Werke kam.«

»Jener Arbeit, von der Sie damals sprachen?« fragte sie, seltsam bewegt durch die Feierlichkeit, die plötzlich in seiner Stimme lag.

Er streckte hoch aufatmend die Fäuste nach außen, und seine Augen brannten ins Leere.

»Ja … Die Arbeit, um derentwillen ich lebe … Die mir Ziel und Halt und Zukunft ist … Und Vater und Mutter ersetzt und Freund und Geliebte und alles … Für die dieser Trunk Wein gekeltert wurde und diese Stunde geschaffen wurde … Und auch Sie selbst, liebe gnädige Frau … Sie mit Ihrer weichen, lieben Schönheit und Ihren zwei bittenden Händen, die doch eigentlich nur zum Schenken da sind.«

»Ich denke, Sie wollten von Ihrem Werke reden,« sagte sie leise.

»Ich rede ja davon … Ich rede ja immerzu davon. Ich will Ihnen nur zeigen, wie alles, was ich lebe und liebe, restlos darin aufgeht – ein Teil davon ist … Wie Viele zum Beispiel haben die heilige Verkündigung gemalt, gemeißelt und gesungen! Und wieviel hab' ich daran 'rumstudiert! … Und doch, wenn ich die gütigen, demütigen, erstaunten und fast erschrockenen Marienaugen sehe, die Sie in diesem Augenblicke machen, dann meine ich, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen, die höchste Erkenntnis müsse noch gefunden werden … Sehen Sie, so muß alles ihm dienen und alles von Nutzen sein.«

»Sind Sie ein Dichter?« fragte sie ganz benommen.

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich bin kein Dichter und kein Maler und kein Historiker und kein Psycholog und nichts, und doch muß ich das alles sein. Und noch mancherlei mehr. Denn mein Werk verlangt es so.«

Dann erzählte er ihr seine ganze Geschichte: Sein Vater, ein Universitätslehrer und bedeutender Jurist, war früh gestorben, von der Mutter nachgezogen, die bei seiner Geburt ihr Leben hatte lassen müssen. Da war sein Onkel, ein reicher und welterfahrener alter Junggeselle, der jetzt nach einem wilden Erwerbs- und Genußleben als fröhlicher Einsiedler hauste, an die Stelle der Eltern getreten, hatte ihn erziehen lassen und ihm nach Vollendung seiner Studien die Mittel gesichert, um, wenn auch in bescheidener Weise, so doch nach Lust und Laune sein Leben weiterzuführen. Dem Wunsche dieses Onkels gemäß und weil er sich infolge ehrenvoll bestandener Examina arg mitgenommen fühlte, hatte er den Eintritt in die akademische Laufbahn, die er gleich seinem Vater einzuschlagen gedachte, bis auf spätere Zeit zurückgestellt und war in die weite Welt gegangen.

Die kunsthistorischen Studien, die er stets mit Eifer betrieben hatte, ohne sie jedoch als eigentlichen Lebenszweck zu betrachten, führten ihn schließlich nach Italien. Aber mehr noch als Kirchen und Museumssäle zog die schöne, frei waltende Menschlichkeit ihn an, in der das südlich rege Volk sein Naturell ausströmen läßt. Ihm war zu Mute, als sei auch in ihm ein neues, freies, seiner selbst gewisses Menschentum erwacht. Die ursprüngliche Einheit künstlerischen und persönlichen, historischen und gegenwärtigen Erlebens stieg als immer weiter greifende Ahnung vor ihm auf … Die Helden der Sage und der Weltgeschichte, die Gestalten der Dichtung, die Figuren der Bilder und deren Bildner selbst – alle wurden ihm so gegenständlich, so vertraut, daß sie wie Stücke seiner eigenen Seele zu leben begannen. Umgeben von einem Volkstum, das Zug um Zug mit Geschichte durchtränkt war, von einer jahrtausendalten Kunstübung, welche die Fühlung mit ihrer Epoche nie verloren hatte, schien es ihm möglich, in die Empfindungswelt vergangener Zeitalter einzudringen. Er lernte unterscheidende Merkmale feststellen und gemeinsame von Etappe zu Etappe weiter verfolgen.

Seine Führerin war und blieb die bildende Kunst. Sie vor allem konnte der Stummheit des Todes die Zunge lösen und dem Staube befehlen, sich zur alten Gestalt neu zusammenzuballen. Nur die Ursprünge ihrer überzeugenden Kraft fehlten noch. Das Abece ihrer Gedankensprache ließ sich nicht auffinden.

In angestrengtem Aufmerken versuchte Lilly ihm zu folgen. Eine solche Rede hatte sie noch nie vernommen. Und doch schien sie ihr nicht eigentlich fremd. Es war, als säßen aus alten, lang vergessenen Tagen allerhand Überbleibsel auf dem Grunde ihrer Seele, die mit hineinklangen.

»Da geschah es eines Tages,« fuhr er fort, »daß ich von Venedig, wo ich gerade hauste, einen Abstecher nach Padua machte. Das liegt mit der Eisenbahn so nahe wie etwa Potsdam von Berlin. Nach dortiger Kunst gelüstete mich nicht einmal, denn ich lebte noch im Flitterwochenrausch mit den Frühvenezianern. Es war nur der Vollständigkeit halber. Und so kam ich denn auch in ein Kirchelchen, in dem Fresken von Giotto zu sehen sind. Wissen Sie, wer das war?«

»Giotto und Cimabue – natürlich,« sagte sie stolz.

»Dann brauch' ich Ihnen ja weiter nichts zu erklären. Ich hatte für ihn und seine Leute bis dahin nicht viel übrig gehabt, denn, wie ich schon sagte, die Quattrocentisten machten mir den Kopf heiß … Nun denken Sie sich ein römisches Amphitheater ganz in Trümmern und ganz mit Efeu umwuchert. – Bloß die Außenwand steht noch da, wie eine eiförmige Gartenmauer – und irgendwo drin das Kirchelchen, aus Ziegeln aufgebaut, genau so nüchtern wie ein königlichpreußisch-protestantischer Betstall.«

Lilly lächelte dankbar. Wenn der Protestantismus eins abkriegte, empfand sie das immer noch als eine ihr persönlich erwiesene Wohltat.

»Gottesdienst gibt's keinen mehr darin. Man hat es zum Nationaldenkmal erklärt. Als ich eintrat, sah ich zuerst nur ein blaues Leuchten von den Wänden her … Eine Art von bescheidenem Hintergrundlicht … Und darauf Bild an Bild in langen Reihen … Die Geschichte des Heilands, ganz schlicht hinerzählt, wie ein Armeleutprediger sie am Karfreitag wohl erzählen würde, wenn er der richtige Prediger für die armen Leute ist.«

»Aber sind wir nicht alle solche armen Leute dem Heiland gegenüber?« wagte sie schüchtern einzuwenden.

Er stutzte, sah sie groß an und bejahte dann eifrig.

»Gewiß, gnädige Frau. Und nicht bloß dem Heiland – jeder großen Persönlichkeit, jeder großen Wahrheit gegenüber sind wir's. Aber es fällt nicht leicht, dies Empfinden in uns aufzuziehen, – uns klarzumachen, daß wir arm sein müssen, wenn das, was uns gegeben wird, uns reich machen soll … Die Religion kann's noch am ehesten, wenn sie die richtigen Ausdrucksmittel findet. Und hier waren sie da. Hier sprach ein Armer zu den Armen, und darin eben lag der Reichtum seines Gebens. Denn was so ans Herz ging, daß einem die Tränen aus den Augen quollen, das war nicht das ungeheure Können – im Gegenteil, das war sein Nichtkönnen. Verstehen Sie, gnädige Frau?«

»Ich glaube,« sagte sie aufleuchtend. »Wenn einer was von uns will und kann's bloß so stammeln, dann ergreift er uns mehr, als wenn er's in einer schön auswendig gelernten Rede sagt.«

»Ja, ja, gerade so mein' ich's,« rief er freudig. »Und darum hat dieses wortkarge Stammeln auch unsere ganze Kunstsprache geschaffen. Denn alles vorher war ja nur nach toten byzantinischen Mustern auswendig gelernt gewesen. Zum ersten Male hatte hier einer mit der Einfalt seines Herzens und seines Auges aus dem Leben herausgeholt, was er zu sagen hatte. Darum ist er auch der Meister von allen geworden. Und wenn heute einer mit seinem Pinsel das höchste Leid und den höchsten Jubel ausdrücken kann, dann hat er's von jener kleinen Kirche her gelernt.«

»Ich kann mir denken,« rief Lilly, »wenn das Weltmeer eine Quelle hätte und einer stünde plötzlich davor, dem müßte zu Mut sein wie Ihnen da.«

Er packte in seines Herzens Überschwang mit beiden Händen ihren Arm.

»Ja, das ist das fehlende Bild,« rief er. »Das Bild ist stark genug für das, was in mir vorging … Und noch vor einer anderen Quelle stand ich da plötzlich. Wie ich so mit gefalteten Händen an den Wänden entlang ging, da wurde es mir mit einem Male hell vor den Augen – und mein Werk war da, war aus dem Nichts herausgesprungen: Die › Geschichte der Affekte‹ mußt du schreiben! Der Affekte, wissen Sie, wie die Kunst sie gesehen und dargestellt hat durch alle Zeitalter hindurch … Nicht bloß die bildende. Denn die ist ja nur ein Teil. Auch die redende. Die Dichtung so gut wie die Malerei. Die Bildhauerkunst so gut wie die Musik … Und damit wird es dir vielleicht gelingen, eine wirkliche und wahrhaftige Entwicklungsgeschichte des menschlichen Herzens zu schaffen, woran sich noch kein Ethiker und kein Kulturhistoriker und kein Psycholog je gewagt hat. Ja, warum auch nicht? Die Urkunden liegen ja da. Gerade so wie für die Tiergeschichte die Leitfossilien im Gestein. Man braucht sie bloß herauszumeißeln. Was sagen Sie dazu, gnädige Frau! … Ist das nicht wert, ein Leben daranzusetzen?«

»Ja, das ist es,« sagte sie, so feierlich wie er vorhin.

Hätte man in diesem Augenblick von ihr verlangt, ihr eigenes Leben seinem Werke hinzuopfern, sie würde es ohne Besinnen getan haben.

»Ach, zu bedenken ist ja noch vieles,« fuhr er fort. »Wie der Stier auf den roten Lappen darf man nicht losrennen. Oft führt die Kunst uns ja auch an der Nase, weil sie ganz was anderes wiedergeben möchte als das Empfindungsleben ihrer Zeit; – ob sie daran vorbei kann, ist eine andere Frage … Oft sind ihr auch die nötigen Ausdrucksmittel abhanden gekommen … Ach, wir werden ja noch oft, oft davon sprechen … Sehen Sie mich nicht so erschrocken an, weil ich das sage … Ja, ich brauche Sie, liebe, teure gnädige Frau. Ich könnte Sie nicht mehr entbehren nach dem heutigen Abend. Denn so verstehend und so gläubig zugehört, wie Sie, hat mir noch keiner … Und ich bin ja auch so fremd hier geworden. Wen ich kenne, der ist voll von seinen eigenen Interessen, der hört kaum hin … Und übrigens steckt ja auch ein Stückchen stillen Wahnsinns drin, weswegen man sich eigentlich schämen müßte. Aber ein Trost ist dabei. In jedem großen Werke hat mal so ein Stückchen stillen Wahnsinns gesteckt, bis es vollendet und durchgedrungen war. Hernach hat es natürlich jeder schon ähnlich gedacht. Und darum werde ich mich auch abfinden mit diesem Gefühl … Aber wenn man in der Zeit des Ringens, wo man jeden Tag neue Goldfunde zu machen glaubt und vielerlei Gefundenes als Talmi wieder wegwerfen muß, wenn man da niemanden hat, in den man hineinschütten kann, was einen quält und bedrückt, dann kann man einfach ersticken an dem Wirrwarr … Und da hat das Schicksal Sie mir geschickt … Es ist wie eine innere Stimme gewesen, die mir an meinem Schreibtisch keine Ruhe ließ, so daß ich immer wieder hinaus mußte, um nach Ihrem Licht zu sehen … Und nun habe ich Sie, und nun lasse ich Sie auch nicht mehr los. Für mich würde ich – weiß Gott – nicht so dreist sein, aber es ist für mein Werk. – Das schreit nach Ihnen … Um Gottes willen, warum weinen Sie, gnädige Frau?«

Sie preßte rasch einen der Handrücken gegen die Augenhöhlen.

»Ich weine ja gar nicht,« sagte sie und lächelte ihn an.

Dabei quollen immer neue Tränen und verschleierten sein liebes Bild.

»Ich kann mir wohl denken,« sagte er traurig, »ich bin nicht vorsichtig genug gewesen. Der Gram um Ihre alte Kunst ist aufgewacht. Das kommt wohl über einen, wenn ein anderer gar zu froh von seinem Werke spricht.«

Sie fuhr zurück wie vor einem Gespenst. Dann wehrte sie heftig ab: »Nein, nein, das ist es nicht! Wahrhaftig nicht.«

Aber er bestand auf seinem Stück und bohrte so den Stachel des Unwertseins mit jedem Worte tiefer in sie hinein.

»Lassen Sie uns gehen,« bat sie. »Es ist so vieles, was auf mich einstürmt – Glück und Unglück und allerhand … Draußen werde ich ruhiger werden. – –«

Es war schon längst nach Mitternacht, als sie ins Freie hinaustraten.

Ein frostiger Wind kam über das Wasser gestrichen und sang in dem kahlen Gezweig.

Er bot ihr den Arm, und sie schmiegte sich in das warme Nest, als wäre sie dort seit undenklichen Zeiten zu Hause gewesen.

Eine Weile schwiegen sie beide.

»In fünf Minuten ist er fort,« dachte sie und konnte den Jammer des drohenden Entbehrens nicht fassen.

»Eins liegt mir noch schwer auf der Seele,« begann er, »daß Sie mich für überheblich halten könnten, weil ich so viel Wesens aus mir mache. Ich will aber durchaus nicht mehr bedeuten als die anderen … Ich meine, jede lebensfähige junge Menschenkraft muß so ein Werk haben, das ihr den Weg weist. Der eine hat ein Buch zu schreiben, der zweite ein Geschäft in die Höhe zu bringen, der dritte für irgend ein fremdes Glück zu sorgen, mancher auch bloß sich durchzubeißen … Ganz egal … Wer sich gehen läßt, der verliert sich. Und das wollen wir doch alle nicht?«

»Ich glaube, ich hab' mich längst verloren,« flüsterte sie, mit einem Schauder in sich zusammenkriechend.

Er lachte hellauf.

»Sie, die Edelste, die Zarteste, die Höchste!«

Sie wußte ja, wie unverdient das alles war. Aber es tat so gut, so unmenschlich gut.

Sie gingen nun so dicht aneinander gedrückt, daß ihre Wangen sich fast berührten. Sie schloß die Augen und trank inbrünstig den warmen Hauch seines Lebens. Ihr war, als würde sie ohne Wunsch und ohne Willen unbekannten, seligen Fernen entgegengetragen.

Erst vor der Haustür fand sie sich wieder.

»Wann?« fragte er.

Morgen hätte sie keine Zeit. Sie wäre eingeladen. Aber übermorgen. Jawohl, übermorgen – – den ganzen Abend über. Er brauche nur sie abzuholen.

Dann, aus Furcht, sie könne ihn vielleicht bitten, schon morgen zu kommen, schlüpfte sie eilends ins Haus, rannte die Treppen hinauf und barg ihr Glück in der schlafenden Wohnung.

Licht machen mochte sie nicht. Der Laternenschein, der auf den Wänden ruhte und in den Prismen des Kronleuchters siebenfarbige Flammen spielen ließ, bot Helle genug.

Und so begann sie zu wandern – durch die offenen Türen von Zimmer zu Zimmer – aus dem Bettwinkel her – um den Eßtisch herum – quer durch den Ecksalon bis in das kalte Gastzimmer hinein, das noch nie einen Gast gesehen hatte, hin und her, hin und her – singend, weinend, jauchzend.

Und aus Tränen und Singsang und Jubel erstand ihr plötzlich – – wie war das doch? –

Laß uns wandern, Liebster, weit ins Feld, –
Still im Dorfe laß uns ruhn zur Nacht
Und vor Tau und Sonnenaufgangsröte
Hand in Hand zum Weinberg aufwärts steigen.

Nein, ganz so war es nicht. Ein wenig anders. Aber das mußte sich doch finden lassen.

Sie riß den Deckel des Klaviers hoch, das seit langem nicht mehr geöffnet worden war. Und als hätte der vernachlässigte und zum Schweigen gebrachte alte Kasten plötzlich ein eigenes Leben bekommen, so rauschte eine Tonflut ihr entgegen, deren sie ihn und sich selber nie für fähig gehalten hätte:

Laß uns schauen, ob der Rebstock blüht,
Die Granate schon die Lippen öffnet;
Wo der Wein und die Granate blüht,
Will ich dir mit lechzend offnen Lippen
Meines Leibes junge Blüte schenken.

Ja, so war's. So und nicht anders. Jeder Ton, jeder Takt fand sich wieder.

Wo war das nur alles so lange geblieben?

Es schien doch wie gestern, als sie es zum letzten Male gesungen hatte.

Und doch lagen Welten des Leides dazwischen.

Nein, des Leides nicht.

»Wäre es nur wenigstens ein Leid gewesen,« dachte sie, »das Hohe Lied wäre wohl nie verstummt.«


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