Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war eines Abends zu Ende November um die Mitternachtszeit.
Die Schwertfeger hatte vor einer halben Stunde »Gute Nacht« gesagt, der Oberst war zur Stadt gefahren, und neben Lillys Kopfkissen saß er, feucht und durchfroren, denn er hatte seit langem unten im Regennebel gestanden, ehe das verabredete Zeichen, ein zweimaliges Klopfen des Ladenriegels, ihn emporgerufen hatte.
Nun aber war alles in Ordnung. Das Haus schlief, der Wächter war vorübergegangen, und die Leiter, die er um der größeren Sicherheit halber jetzt immer hinter sich herzog, stand friedlich auf dem Balkon.
Die blau umschirmte Ampel badete den duftenden, durchwärmten Raum mit ihrem Sommernachtslichte. An den Läden strichen leise Tropfenschauer vorüber, und der Novemberwind winselte wie ein Bettler.
Lilly lag wohlig ausgestreckt unter ihrer blauen Seidendecke, hielt seine Hand in der ihren und träumte zu seinem Gesicht empor, aus dessen Zügen die verlegene Durchtriebenheit auch in Augenblicken des Sichgehenlassens nicht weichen wollte … Sie sah den sommersprossigen Nasenrücken, die weißbewimperten, blinzelnden Augen und das hagere, schlechtrasierte Kinn, das zur Hälfte in dem grünen Kragen der Arbeitsjoppe verschwand. Denn ausputzen konnte er sich nicht mehr für sie, – das wäre seinen Genossen aufgefallen.
Geredet wurde nicht viel. Wenn er nur da war, er, der im Leben und im Tode zu ihr gehörte, mit dem gemeinsam sie in dieser fremden Welt verlassen und verloren war.
Sie zog seinen Kopf zu sich nieder und streichelte die leichtsinnig-glatte Stirn, an deren Schläfen noch einzelne Regentropfen hingen.
Die Wanduhr holte zu einem leisen Klingen aus … Die Hängelampe pendelte ein wenig und ließ bei jedem Schwanken lange Schatten auf der Zimmerdecke kreisen, wie die Schatten einer schaukelnden Wiege – wie große Rabenflügel, die unhörbar auf und nieder gehen.
Da erscholl vom Hofe her ein dumpfes Räderrollen. Ob es kam oder ging, ließ sich nicht recht entscheiden. Beide horchten auf und sahen nach den Zeigern.
Sollte das schon der Wagen sein, der den Oberst von der Station abholen fuhr?
Zwölf Uhr – Unmöglich … Vor viertel auf Zwei wurde niemals angespannt. Die Pferde hätten allzulange am Bahnsteiggatter warten müssen.
Wahrscheinlich war's der Milchpächter, der sich mit seinen Eimern auf der Bahn verspätet hatte.
Und sie beruhigten sich wieder.
Eine lange, kostbare Stunde lag vor ihnen, von angstlosem Genießen schwer, Vergessen und Vergehen in sich bergend. –
Er machte zum Zeichen des Triumphs die Backen hohl und die Augen rund.
Mit schwelgendem Lächeln zog sie sich an ihm empor.
Da plötzlich ertönten drei kurze, harte Schläge an der Korridortür, und die Stimme der Schwertfeger rief: »Aufmachen, Lilly! Sofort aufmachen!«
Walter schoß in die Höhe.
Als sie sich umsah, war er bereits aus dem Zimmer geglitten.
Sie fühlte ein Glockenklingen in den Ohren, sie spürte ein dumpfes Verlangen, sich sinken zu lassen, aber das erneute Klopfen riß sie empor, riß sie zur Tür und hieß sie, den Schlüssel zurückdrehen.
Ehe sie sich, von Scham überwältigt, aufs neue unter der Decke bergen konnte, gewahrte sie noch, wie die Schwertfeger sich hastig im Zimmer umsah, mit einem Sprunge nach etwas Grauem, Rundem griff, das unscheinbar in einer Ecke lag, – erst später erkannte sie, daß es Walters Mütze gewesen war, – den Riegel zum Zimmer des Obersten zurückschob und sich dann mit plötzlicher Gelassenheit neben ihrem Kopfkissen niedersetzte.
»Hüten Sie sich zu weinen,« hörte sie sie noch sagen, und dann ertönten auch schon die Schritte des Obersten.
»Nein, wie man sich so verplaudern kann!« rief die Schwertfeger ihm entgegen. Ein grenzenloses Erstaunen malte sich in ihrer Stimme.
Da stand er und schien unangenehm überrascht, sein junges Weib nicht allein zu finden.
»Aber wo kommen Sie denn mit einem Male her, Herr Oberst? Einen Extrazug werden Sie sich doch nicht haben anspannen lassen – und durch die Luft können Sie auch nicht geflogen sein. Wenigstens hab' ich von diesem Talent an Ihnen noch nie etwas bemerkt. Und Ihre Gattin doch auch nicht … Was, mein Herzlieb? … Ganz stocksteif liegt sie vor lauter Überraschung.«
So redete sie drauf los, augenscheinlich bemüht, durch ihr Geschwätze ein paar Sekunden zu gewinnen, in denen Lilly sich sammeln konnte.
Und er mußte wohl oder übel Rede stehen. Während der Fahrt zum Bahnhof war ihm eingefallen, daß einer der Nachbarn – er nannte den Namen – heute seinen Geburtstag feiere, und darum hatte er kurzer Hand umdrehen lassen und war zu ihm gefahren.
»Ja, ja, alle Wunder erklären sich schließlich auf die simpelste Weise,« sagte die Schwertfeger. »Und nun gute Nacht, mein Herzlieb, und schlafen Sie hübsch das abscheuliche Kopfweh aus.«
Der Oberst stutzte. »Wenn sie Kopfweh hat, warum haben Sie sie denn nicht längst in Ruh gelassen?« forschte er. Sobald er hellhörig wurde, entging ihm nicht der leiseste Widerspruch.
Aber die Schwertfeger war ihm gewachsen. »Sie wollte mal wieder Kompressen haben,« erwiderte sie ohne Besinnen, »aber ich hielt es für richtiger, ihr die Hand aufzulegen. Jetzt war sie gerade im Einschlafen, und darum ist's besser, wenn wir beide sie nicht länger stören. Nicht wahr, Herr Oberst? Gute Nacht, Herr Oberst.«
Damit löschte sie das Ampellicht.
Lilly hatte das Gefühl, hinter ihr herzuschreien: »Bleib hier – bleib bei mir – sonst erwürgt er mich.«
Aber da war sie schon draußen, und so gut hatte sie vorgearbeitet, daß der Oberst, ohne länger zu fragen, sich mit ein paar gnädigen Besserungswünschen von dannen machte.
Sonst wäre vielleicht in einer Nervenkrise das Spiel schon heute zu seinem Ende gekommen.
Von dumpfem Schrecken gelähmt, lag sie da und lauschte bald nach dem Zimmer des Obersten hin, bald in den Wind hinaus, dessen Klageton für drei, vier Sekunden ein raschelndes Gleiten leise, ganz leise durchbrach.
Das war die Leiter, die Walter über den oberen Rand des Eisengeländers hinunterließ. So lange er Licht sah, war er klugerweise auf dem Balkon geblieben. Auch wie er die Leiter herabnahm und auf ihren alten Platz niederlegte, vermochte sie zu erlauschen, und nun erst, da sie sich und ihn geborgen fühlte, kam mit der Lust zu weinen und zu schreien ein schauderndes Erkennen über sie.
Die Schwertfeger! Was bedeutete das? Was trieb sie an, die Mitschuldige eines so verbrecherischen Handelns zu werden? Wagte sie nicht ihren Namen, ihre Existenz, den Lohn vieljähriger Arbeit? Wodurch hatte sie arme Sünderin soviel Opfermut verdient?
Das Herz wurde ihr weit vor Dankbarkeit. Es hielt sie nicht länger im Bette. Auf der Stelle mußte sie ihr danken gehen.
Lautlos kleidete sie sich an, verriegelte vorsichtig die Verbindungstür und schlich sich auf den finsteren Korridor hinaus.
Durch das Schlüsselloch sah sie den Oberst schon im Bette liegen. Die alte Eichentreppe knarrte mörderlich, aber das tat sie auch sonst, wenn niemand über die Stufen schritt. Ihre Musik ertönte oft die ganze Nacht hindurch.
Aus dem Zimmer der Schwertfeger schimmerte Licht. Harte Schritte gingen rastlos auf und nieder.
»Wer da?«
»Ich, Anna! … ich – Lilly.«
»Was wollen Sie von mir? Gehen Sie schlafen.«
»Nein, nein, nein, ich muß Sie sprechen, ich muß.«
Die Tür öffnete sich.
»Also kommen Sie herein.«
Sie wollte sich ihr an den Hals werfen, aber die Schwertfeger schüttelte sie ab.
»Nach Rührszenen ist mir nicht zu Mut,« sagte sie; und ihre Trompetenstimme, die sie mühsam dämpfte, hatte alle Wehleidigkeit verloren. »Und zu danken brauchen Sie mir auch nicht. Denn aus Liebe für Sie ist hier nichts geschehen.«
Lilly kam sich sehr klein und sehr gescholten vor. Seit sie Frau Asmussens Prügel in Empfang genommen hatte, war ihr niemand so begegnet.
»Erst helfen Sie mir,« stammelte sie, »und jetzt –«
»Da Sie da sind, sollen Sie mir ein paar Fragen beantworten,« sagte die Schwertfeger. »Machen Sie Ihr Kleid zu – hier ist es kalt – und setzen Sie sich.«
Lilly tat gehorsam, was man ihr anbefohlen hatte.
»Zuerst eins: Hab' ich irgendwie dazu geholfen, um Sie mit dem jungen Menschen zusammen zu bringen?«
»Wann sollte denn das gewesen sein?«
»Das frag' ich Sie eben.«
»Im Gegenteil. Sie haben doch nicht einmal einwilligen wollen, daß ich die Reitstunde nahm.«
»Dann später: Hab' ich Sie bei diesen Stunden ohne Aufsicht gelassen?«
»Ohne Aufsicht? Sie waren doch fast immer von Anfang bis zu Ende dabei.«
»Dann ferner: Hab' ich den Vorschlag gemacht, Sie ohne Begleitung mit ihm ins Freie reiten zu lassen?«
»Sie? Aber nein doch. Das erste Mal ritten wir von alleine, und dann war es doch der Oberst, der es haben wollte.«
»Und dann zu guterletzt: Hab' ich gut aufgepaßt, ob bei Ihnen im Zimmer alles in Ordnung war?«
»Ich weiß nicht. Ich denke. Sie kamen doch jetzt sogar immer noch einmal vor dem Schlafengehen und machten so, als wollten Sie mir Gute Nacht sagen.«
»Sie haben mich wohl überhaupt für Ihre Feindin und Aufpasserin gehalten?«
»Gott! – Viel Umstände würden Sie wohl nicht mit mir machen, dacht' ich mir!«
Die Schwertfeger lachte ein hartes, trostloses Lachen. »Ihre Aussagen sind sehr wertvoll für mich, mein liebes Kind,« sagte sie. »Ich habe also bei der Durchführung meines Planes keinen Mißgriff begangen und brauche mir jetzt keine Vorwürfe zu machen.«
»Welches Planes?« fragte Lilly, da sie von dem allen nichts verstand.
Die Schwertfeger maß sie mit einem Blicke mitleidigen Hohnes.
»Ich habe alles gewußt, mein liebes Kind. Ich hab' es kommen sehen vom ersten Augenblick an, als Sie wieder mit dem jungen Mann zusammentrafen. Ich hab' es mir an allen fünf Fingern berechnet, wie ich berechne, was ein Mittag kostet. Ich hab' es bloß gehen lassen, wie es ging. Das durfte ich, ohne mich vor mir herabzuwürdigen. Und ich hatte es auch gar nicht nötig. In Ihr Verderben rannten Sie ja doch.«
»Was hab' ich Ihnen denn getan?« stammelte Lilly, die Tränen verschluckend, »daß Sie mich so hassen? Ich habe Sie doch niemals hier verdrängen wollen. Ich hab' mich Ihnen untergeordnet vom ersten Augenblick an. Ganz in Ihre Hände hab' ich mich gegeben, und nun handeln Sie so an mir.«
»Wenn ich Sie haßte,« entgegnete die Schwertfeger, »dann säßen Sie jetzt nicht hier. Dann strichen Sie in diesem Augenblick vielleicht irgendwo auf der Landstraße herum. Wohl ein Dutzendmal hätte ich Sie schon zwischen den Händen zerdrücken können und hab' es nicht getan … Aber ich will aufrichtig sein: Ja, ich habe Sie gehaßt. Bevor ich Sie kannte, heißt das. Denn ich malte mir ein Bild von Ihnen, eine freche und schlaue kleine Dirne, die sich ihm aus purer Berechnung verweigert hat, bis er zum äußersten Mittel griff, das alte Libertins in solchen Fällen anwenden … Aber als ich Sie kommen sah, mein liebes Kind, ohne Arg und Falsch, und wehrlos und noch dazu voll von gutem Willen, ihn lieb zu haben und mich womöglich auch, da hab' ich einpacken müssen mit meinem Haß. Da wurden Sie mir nichts als ein belangloses, kleines Tierchen, das man verwendet, so lange man es brauchen kann, und abschiebt, wenn es seinen Dienst getan hat. Denn um Sie, mein Herzlieb, handelte es sich gar nicht mehr, mit Ihnen hab' ich schon lange abgerechnet … Das Spiel geht jetzt bloß noch zwischen ihm und mir. Ihm hab' ich's heimzuzahlen, und dann ist meine Arbeit getan.«
In Lillys Seele herrschte ein dumpfes, ohnmächtiges Staunen. Ihr war, als würden Tore aufgerissen und Vorhänge zurückgeschlagen, als sähe sie in Menschenherzen hinein wie in Feuerschlünde.
»Ich denke, Sie hängen so sehr an ihm,« sagte sie, »ich denke,« – und dann kam ihr plötzlich zu Sinn, daß sie mit ihrem einstigen Verdachte doch wohl recht gehabt habe: diese herrische und verhärtete alte Jungfer, deren Schönheit noch immer nicht zerstoben war, hatte vor zehn, vor fünfzehn Jahren dem Auge ihres Brotherrn nicht mißfallen. War dann vernachlässigt worden und rächte sich nun.
Die Schwertfeger erriet ihren Gedanken und tat ihn mit einem Achselzucken ab.
»Wenn es das gewesen wäre,« sagte sie, »dann würde ich mich zu bescheiden gewußt haben. Und hätte ich dann noch meinen Platz im Hause, so würde ich Sie gehegt haben wie mein Heiligtum. Nein, mein liebes Kind, so einfach liegen die Dinge dieser Welt nicht allemal, es gibt schlimmere Höllen als diese.«
Und nun erfuhr Lilly eine Geschichte, die sie mit Grauen und Mitleid erfüllte, die Geschichte dieses Hauses, deren Abschluß sie selber geworden war:
Der Oberst, von jeher ein Gewaltmensch und wilder Mädchenjäger, hatte unter dem Vorwand, wenn er auf Urlaub heimkäme, müsse Lachen und Jugend um ihn sein, darauf gedrungen, Elevinnen für die Wirtschaft anzunehmen und sich die Auswahl unter den einlaufenden Angeboten selber vorbehalten. Auf diese Weise waren immer diejenigen ins Haus gekommen, die er im voraus dazu bestimmt hatte. Die Schwertfeger selber hatte lange nichts gemerkt. Aber die Dienstboten begannen zu erzählen von verschwiegenen Gelagen und tollen Jagden im Oberstock … Er hinter flüchtenden, mit glitzernden Schleiern bekleideten Mädchen her, denn die durchsichtigen Silbergewänder hatte er schon immer geliebt … Durch den Selbstmordversuch der einen waren ihr endlich die Augen geöffnet worden. Da verließ sie das Haus. Aber sie war arm und ans Befehlen gewöhnt. In untergeordneten Stellungen hielt sie sich nicht, und so geriet sie ins Elend. Der Oberst hatte sie nicht aus den Augen verloren und ihr, als sie ihm weit genug heruntergekommen schien, die Stelle der Hausdame von neuem angeboten. – Zugleich mit dem Versprechen, sie würde sich nicht mehr zu beklagen haben. So kroch sie wie ein verhungerter Hund aufs neue bei ihm unter. Und als er bald darauf sein Wort brach und das unwürdige Treiben wieder begann, fand sie nicht mehr den Mut, sich dagegen aufzulehnen. Sie lernte blind und taub zu sein, wenn bei Tische verbuhlte Blicke gewechselt wurden, wenn Nächtens Schreie und Gelächter in ihr Schlafzimmer drangen. Ja, sie lernte sogar neugierige Dienstboten fern zu halten und die Schmach des Hauses zuzudecken, indem sie mit seinen Freundinnen mütterlich verkehrte.
»Es sollte mich nicht wundern,« fügte sie hinzu, »wenn er Ihnen nicht vorher die gleichen Anträge gemacht und mich als Gardedame vorgeschlagen hätte.«
In Lilly stieg die Erinnerung auf an jene Schicksalsstunde, in der sie seine Braut geworden war. Damals hatte er, als er noch gierig und entschlußlos um sie herumgestrichen war, von einer würdigen und vornehmen Dame gesprochen, unter deren Obhut sie auf seinem Gute zum Weibe werden sollte.
Und die Schwertfeger sprach weiter. Schilderte, wie der Ingrimm über ihre schmachvolle Stellung sich gleich einem bösen Geschwür in sie hineingefressen hatte, und wie sie schließlich so ganz davon vergiftet worden war, daß kein anderer Gedanke mehr in ihr Platz gehabt hatte als der – Vergeltung zu üben … Seine Heirat sollte ihr die Waffen dazu bieten. Blind und taub wollte sie sein, wie es bisher von ihr gefordert worden war. Weiter nichts. Alles übrige mußte der Naturlauf von selber besorgen.
So war es bis heute gegangen.
Heute hätte die Katastrophe unweigerlich – zugleich auch über ihn – hereinbrechen müssen. Aber im letzten, entscheidenden Augenblick hatte sie eingesehen, daß die Kräfte ihr fehlen würden. Zu lieb war das junge, gutartige, unschuldig-schuldige Weib ihrem Herzen geworden, um es dem alten Racheplan hinzuopfern.
»Ich denke, Sie sagten,« wagte Lilly einzuwerfen, »aus Liebe zu mir hätten Sie es nicht getan?«
Die Schwertfeger ließ das Auge starr und gramvoll auf ihr ruhen.
»Mein liebes Kind,« erwiderte sie, »wenn Sie nicht ein dummes Ding wären, das erst durch seine Sünde reifen muß, so würden Sie besser verstehen, was alles in einer wie ich vorgeht. Vorläufig seien Sie zufrieden, daß Sie außer Gefahr sind.«
In aufwallender Dankbarkeit warf sich Lilly über sie und küßte ihr Gesicht und Hände.
Die Schwertfeger wehrte sie nicht mehr von sich. Sie streichelte ihr das Haar und redete freundlich auf sie herab.
Zu ihren Füßen hockend beichtete Lilly, wie alles mit Walter sich angesponnen hatte, erzählte von der alten Freundschaft, und daß er recht eigentlich der Schmied ihres Glückes geworden war.
»Glückes?« fragte die Schwertfeger gedehnt und zog die Luft durch den rechten Mundwinkel ein, so daß es klang wie ein Hohnpfiff.
Lilly stutzte, sah sie an, und verstand.
In ihrem Hirn brannte die Frage: »Was bin ich besseres, als ich geworden wäre, wenn ich mich als seine Dirne hätte herschleppen lassen? …«
Elf Monate waren seit jener Werbestunde verflossen. – Was hatten sie aus ihr gemacht?
Sie umklammerte mit ihren Armen die Schwertfeger und weinte, weinte, weinte. Es tat so unmenschlich wohl, etwas Schwesterliches oder gar Mütterliches sich nahe zu wissen, in dessen Kleidfalten man den tränennassen Kopf hineinwühlen konnte. Ja, so gut war es ihr nicht mehr gegangen seit dem Tage, da ein bewußtes Messer über ihr geschwungen worden.
Daß nun ein für allemal alles ein Ende haben mußte, das verstand sich von selbst. Nicht eine einzige Zusammenkunft durfte mehr stattfinden. Die Schwertfeger forderte es. Ohne Widerstreben willigte Lilly ein.
Wenn nur ihre Mission nicht gewesen wäre!
»Was für eine Mission?« fragte die Schwertfeger.
Da erzählte Lilly auch das. Welch eine heilige Aufgabe sie in seinem Dasein zu erfüllen habe, wie er durch ihre Liebe zu einem reinen, höheren Leben erweckt worden sei, und wie sie von Rechts wegen mit jedem Blutstropfen dafür einstehen müsse, daß er als ein neuer Mensch den Aufstieg zu einem edeln und menschenbeglückenden Wirken nicht verfehle.
Nun war die Reihe zu staunen an der Schwertfeger. Sie hörte ihr mit großen, zweifelnden Augen zu, ging dann aufgeregt im Zimmer umher und murmelte etwas vor sich hin, wie: »Nicht zu glauben, nicht zu glauben.«
Und als Lilly sie fragte, was denn eigentlich nicht zu glauben wäre, da küßte sie sie auf die Stirn und sagte: »Sie armes Ding.«
»Warum arm?« fragte Lilly.
»Weil Sie viel werden zu leiden haben auf dieser Welt,« sagte die Schwertfeger.
Hierauf wurde verabredet, daß sie noch einmal mit ihm sprechen würde und daß als Preis ihres Schweigens das Aufhören jeder, wie immer auch gearteten Beziehung von ihm verlangt werden solle. Selbst die gemeinsamen Ritte wären einzustellen.
Nur einen einzigen Abschiedsbrief an ihn senden zu dürfen, bat Lilly sich aus. Das glaubte sie ihm schuldig zu sein, damit er an ihr und an der eigenen Zukunft nicht verzweifle.
Und dann schieden sie.
Befreit, erlöst, zu neuem Leben geboren, stieg Lilly die Treppe hinan. Fast hätte sie jede gebotene Vorsicht außer acht gelassen, aber, Gott sei Dank, der Oberst schnarchte.
Die Uhr schlug vier, und vom Hofe her hallten bereits die schlürfenden Schritte der Futterknechte.
Bevor sie sich ins Bett warf, sandte sie noch einen abschiednehmenden Blick zum Amtshause hinüber und freute sich, daß das Entsagen so leicht war. Das hätte sie nie für möglich gehalten.