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III

Lilly wuchs in dieser Zeit zu einem hochgebauten, früh entwickelten Jungfräulein heran, das seinen Bücherranzen mit dem Anstand einer jungen Fürstin durch die Straßen spazieren führte.

Sie trug gemeinhin ein vom Regen runzlig gewordenes Halbwollenkleid, das grüne und bordeauxrote Karrees in angenehmer Schachbrettregelmäßigkeit als Muster aufwies und das trotz aller ausgelassenen Säume über den Füßen ewig zu kurz blieb. Sie trug auf diesen Füßen ein Paar plattgetretene, beriesterte Schmutzstiefel. Und sie trug Baumwollhandschuhe, die zwischen ihrem welligen Ende und dem mühsam heruntergereckten Ärmelsaum noch immer das handbreite Stück eines roten, schlankknochigen Unterarmes erblicken ließen.

Aber wer sie daherkommen sah mit dem leisen Wiegen der schönbogigen Hüften, mit dem lässigen Schritte, der in Jugendkraft und Jugendfülle rhythmisch federte, mit dem beweglichen Köpfchen, das, zu klein für diesen hohen Leib, langhalsig auf den noch eckigen Schultern saß, mit den zwei Mausezähnen, die neugierig unter der allzu kurzen Oberlippe hervorguckten, und den zwei gewissen »Lillyaugen«, der dachte nicht an die Ärmlichkeit ihres Aufzuges, der ahnte nicht, daß diese zartgebildete, breite Brust sich stundenlang über dem Nähzeug zusammenkrümmte, daß dieser ganze junge, herrliche Organismus, dessen Säfte in grundlosem Erröten und leidenschaftlichem Erblassen sichtbar durch die Adern jagten, sich vornehmlich durch Salzkartoffeln, Schmalzbrot und schlechte Wurst erbauen und erhalten ließ.

Mit heißen Köpfen zogen die Gymnasiasten hinter ihr her, und auf der Unterprima waren eine Zeitlang die Gedichte, die zu ihrem Preis verbrochen wurden, nur nach Dutzenden zu berechnen.

Man kann nicht sagen, daß sie gegen diese Huldigungen unempfindlich blieb. Wenn ein Rudel »Jungens« ihr entgegenkam, so fühlte sie regelmäßig, wie vor Scham und Bangen eine Art von rosa Schleier sich über ihre Augen legte. Und wenn die Herrschaften mit tief gezogenen Mützen – man kannte sich von der Eisbahn her – an ihr vorübergingen, hatte sie oft eine Empfindung des Taumelns oder Hinsinkens, so jäh war ihr das Blut zu Kopfe gestiegen. Der Nachgeschmack solcher Begegnungen aber war lieblich. Noch stundenlang konnte sie sich vorstellen, wer von den Jungen am ergebensten gegrüßt hatte, oder wer rot geworden war gleich ihr. – Diesen liebte sie, bis beim nächsten Begegnen ein anderer an die Reihe kam.

Von ihren Mitschülerinnen wurde sie trotz ihrer Verehrerschaften weniger gehänselt, als es in ähnlichen Fällen geschah. Es war eine vergnügte Wehrlosigkeit in ihrem Wesen, die jede Feindschaft unmöglich machte.

Versteckte man ihr die Büchertasche, so sagte sie flehend: »Ach bitt' schön!« Hob man sie auf den Ofen, so saß sie oben und lachte. Wollte man ihr englisches Exerzitium abschreiben, so gab sie noch eine Rechenaufgabe dazu.

Die einzige Mißhelligkeit entstand durch die Eifersucht, mit der ihre Busenfreundinnen einander in die Haare fuhren. Und hieran war sie selber nicht ganz schuldlos. Sie wechselte mit ihren Neigungen verblüffend schnell. Wer ihr seine Freundschaft antrug, der hatte sie, – aber er hielt sie nicht. Sie hegte eine Art von Verpflichtung, jedes Gefühl, das ihr entgegengebracht wurde, gewissenhaft zu erwidern, und wunderte sich selber, wenn es durch eine nächste Attacke verdrängt wurde.

Auch die Lehrer wollten ihr wohl. Wenn es vom Katheder hieß: »Lilly, Sie träumen,« so klang dies mehr einer Liebkosung als einem Vorwurf gleich. Und als sie in der I B eine Zeitlang auf der Ecke der sechsten Reihe als erste der Neuangekommenen saß, da glitt beim Vorüberschreiten mehr als eine Hand väterlich über ihr Braunhaar hin.

Ihr Spitzname war: »Lilly mit den Augen«. Die Mitschülerinnen behaupteten nämlich, ihre Augen wären durchaus unwahrscheinlich, solche Augen gäbe es nicht. Die einen nannten sie Katzen-, die anderen Nixenaugen, die dritten hielten sie für veilchenblau, die vierten wollten wissen, daß ihre Besitzerin sich die Ränder mit Kohle anstriche. Sicher ist jedenfalls, daß, wer ihr ins Gesicht schaute, fürs erste Augen und nichts als Augen sah und sich auch fürs weitere damit zufrieden gab.

Mit fünfzehneinhalb Jahren hatte sie die erste Klasse durchgemacht und ging in die Selekta über, denn es war bestimmt, daß sie einst als Gouvernante ihr Brot essen sollte.

Nunmehr änderte sich manches. Neue Lehrer, neue Unterrichtsgegenstände, neue Gefährtinnen und ein neuer Verkehrston kamen an die Reihe. Die allgemeine Duzerei hörte auf. Mit Papierpfropfen wurde nicht mehr geworfen, und niemand fand beim Nachhausegehen heimlich befestigte Papillotten in seinem Haarschopf vor. Wendungen wie »Heiligkeit des Berufes« und »Weihe des Lebens« wurden wohlfeil, aber ebenso wohlfeil wurden Liebesgeschichten und heimliche Verlobungen.

Lilly fühlte zum erstenmal in ihrem Leben einen kleinen Neid in sich erwachen. Denn weder war sie verlobt, noch war ihr je die mindeste Liebesgeschichte begegnet. Solche Dummheiten wie anonyme Sträuße oder Verse, die als Unterschrift ein »Ewig Dein« mit zwei ineinander verschlungenen Anfangsbuchstaben trugen, rechnete man natürlich nicht.

Aber die Zeit war erfüllet. Aus Marmorbildern und Tempelsäulen, aus immergrünen Zypressen und ewig blauendem Himmel, aus Mitleid und Sehnsucht in die Ferne, aus Schülerverehrung und dem Wunsche, zu retten, hatte sich in ihr die Liebe auferbaut.

Er war als wissenschaftlicher Hilfslehrer in der höheren Töchterschule angestellt und unterrichtete daselbst in jenen Niederungen, in denen man noch mit dem Lineal auf die Finger bekommt und aus Rache dafür hinter dem Strafenden die Zunge ausstreckt. In den oberen Klassen hatte er nichts zu tun, in der Selekta aber erschien er vor den jungen Damen zum Semesteranfang als Dozent der Kunstgeschichte.

Erfüllt der bloße Name »Kunstgeschichte« eine junge Mädchenseele bereits mit leisen Schauern des Entzückens, um wieviel mächtiger wirkt sein Zauber, wenn ein leidender junger Mann mit tiefliegenden, brennenden Augen und einer lilienhaft weißen Stirn damit in Verbindung steht!

Er hieß mit Vornamen Arpad.

Damit hatte aber auch die Romantik ein Ende. Was übrig blieb, war ein armer schwindsüchtiger Bursch, der sich mühsam durch die Universität gehauslehrert hatte, um nun, da er die karge Frucht seiner jungen Leiden einzuheimsen gedachte, dem Grabe anheim zu fallen.

Die Vorgesetzten hielten ihn aufrecht, so gut sie konnten. Sie teilten ihm die leichtesten Lehrstunden zu, sie sorgten für Vertretung und schickten ihn nach Hause, sobald sie die Fieberflecke auf seinen Wangen brennen sahen. Aber sie erreichten für ihn nichts weiter als eine Galgenfrist, in der er als absterbendes Glied dem Lehrkörper zur Last fiel.

Er fühlte das wohl, und deshalb suchte er durch selbstmörderische Energie jeden Vorwurf, der seiner Leistungsfähigkeit vielleicht gemacht werden konnte, im voraus zu entkräften. Zu jeder Arbeit, die allenfalls in sein Bereich fiel, drängte er sich hinzu, und was selbst den betriebsamsten Strebern zu schwer fiel, nahm er, der Todgeweihte, der für keine Karriere zu sorgen hatte, freudig auf seine Schultern.

Der Tag, an dem er von dem Direktor in der Selekta eingeführt wurde, ist Lilly stets in Erinnerung geblieben.

Es war zwischen drei und vier. Die letzte Stunde des Schultages. Da schob der Allmächtige sein würdevolles Bäuchlein unerwartet zur Tür herein. Und dicht hinter ihm kam, ein wenig vornübergeneigt, der schlanke, hübsche, junge Mann, der beim Morgengebet in der Aula rechts neben dem Fräulein Hennig seinen Platz hatte und der während des Chorals aus den Blättern des Gesangbuches Röllchen zu drehen pflegte.

Er trug einen grauen, engen Rock, der seine Gestalt noch schmächtiger erscheinen ließ, und dazu eine moderne Seidenweste, deren Abglanz einen falschen Schimmer von großer Welt über ihn breitete. Er verbeugte sich zwei-, dreimal kurz, abgehackt wie ein Leutnant, sah aber dabei scheu und beklommen aus.

»Herr Doktor Mälzer,« stellte der Direktor vor, »der Sie, meine Damen, in die Kunst des Renaissancezeitalters einführen wird. Ich wünsche, daß Sie diesem Gegenstande, der, wenn er auch nicht zu den obligatorischen Prüfungsfächern gehört, doch für die allgemeine Bildung von hoher Wichtigkeit ist, Ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden mögen, und werde Gelegenheit haben, mich in der Literaturstunde, zum Beispiel bei Lessing, bei Goethe, bei Winckelmann, von Ihren Fortschritten zu überzeugen.«

Damit stolzierte er hinaus.

Der junge Lehrer drehte an seinem Blondbärtchen, das in zwei dünnen Zottelchen über die Mundwinkel herabfiel. Ein Lächeln, halb schüchtern und halb sarkastisch, glitt über sein Gesicht. Er sah sich unschlüssig nach dem Katheder um. Offenbar wußte er nicht, ob er sich setzen oder stehen bleiben sollte.

Meta Jachmann, die immerfort zu Albernheiten geneigt war, fing an zu kichern, und bald kicherte die halbe Klasse.

Ein heißes Rot flog über sein fahles Gesicht.

Mit einer Stimme, die trotz ihrer Schwäche den ganzen schmalen Brustkasten erbeben ließ, sagte er: »Lachen Sie nur, meine Damen. Wer an Ihrer Stelle sitzt, der kann lachen, denn ein Leben voll Fleiß und Kraft liegt vor ihm. Aber ich kann auch lachen, denn ich darf zu Ihnen wie ein Mensch zu Menschen sprechen. Und das ist ein Glück, das einem jungen Anfänger im Lehrberufe nicht häufig zu teil wird. Sie werden das schon bald genug an sich selber erfahren.«

Alle waren mäuschenstill geworden.

Von diesem Augenblick an hielt er sie in der Hand.

»Aber das ist noch nicht mein ganzes Glück,« fuhr er fort. »Das Thema, das die Gewaltigen in diesen Räumen – ob großmütig für mich oder nichtachtend für das Thema, ich weiß es nicht, – meinen geringen Kräften übergeben haben, ist das höchste, das die menschliche Überlieferung kennt. Aus jeder Persönlichkeitsäußerung in der Geschichte, mochte sie noch so trotzig, so revolutionär, so fremdklingend von einem Auserwählten gesprochen worden sein, hat die spätere Auslegung moralisches Viehfutter für die Sättigung der großen Massen gemacht. Nur bei den Männern der Renaissance ist es ihr nicht gelungen. Plato haben die neunmal Weisen zum Schildträger der christlichen Orthodoxie, Horaz zum Schulfuchs, Augustin zum Kirchenheiligen und Jesus Christus zum Gottessohn gestempelt, – aus Michelangelo, aus Alexander Borgia, aus Machiavell etwas anderes zu machen als ein Ich, das sich aus eigener Machtvollkommenheit schaffend oder zerstörend der Welt und ihren Bedingungen entgegenstellt, hat noch keiner unternommen.«

Die jungen Seelen horchten auf.

In solchem Tone war noch nie mit ihnen gesprochen worden.

Sie fühlten wohl, daß er sich um den Hals redete, aber in demselben Augenblick, in dem sie es fühlten, hatten sie auch schon eine Freimaurerkette um ihn geschlossen, mit der sie ihn schützten.

Und er fuhr fort. Mit dreisten, hastigen Strichen, die dem Tode neues Leben abrangen, malte er ihnen Zeit und Menschen … Was er schweigend hatte aufstapeln müssen, lange Jahre hindurch, brach nun leidenschaftlich aus seinem Munde.

Die Lauschenden ahnten wohl, daß mehr als ein Schulpensum, mehr selbst als eine Studienernte, daß hier ein Lebensbekenntnis vor ihnen sich ausbreitete. Und sie hängten sich an ihn mit der ganzen seligen Hingabe des Weibes und der Schülerin, am seligsten, wo sie ihn nicht verstanden.

Lilly, die als eine der Jüngeren dem Katheder am nächsten saß, hatte ein unbestimmtes Gefühl, als ob eine Flut neuer, unnennbar schöner Melodien sich über sie ergösse. Sie, in deren Leben und Phantasie bisher alles auf Musik angelegt gewesen war, mußte auch Bilder und Gedanken erst in die Welt des Klanges übertragen, ehe sie sie mit dem Gefühl erfaßte.

Bleich geworden, das Taschentuch in der Linken zusammengepreßt, mit Augen, die in ahnendem Genießen sich feucht verschleierten, starrte sie ihn an. Sie sah das Arbeiten seiner Brust, sie sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn, sie sah die Flammen, die auf seinen Backen brannten, sie wollte weinen, lachen, sie wollte rufen: »Hör auf!« – aber da sie es nicht konnte, so saß sie reglos da und lauschte der armen, gequetschten Stimme, die das Evangelium jener alten und so neuen Zeit verkündete. Lauschte zugleich einer anderen Stimme, die tief in ihrem Herzen jubelnd rief: »Es werde!«

»Wie aber sieht die Welt aus,« fuhr er fort, »in der jenes hochgestimmte Leben sich entfaltete? Ich habe nur wie Moses vom Berge auf sie niedergeschaut, ich habe nur in ihren Vorhöfen geweilt, aber so viel habe ich von ihr gesehen, daß, solange ich atmen werde, das Verlangen darnach nie mehr aus meiner Seele weichen wird … Dort sind zwischen Zypressen und immergrünen Eichen die Tempel und Paläste in weißer Herrlichkeit dem Boden entsprossen, gleich wie ein Stück von ihm … Was hier Lehm, ist dort Marmor … was hier Schablone, ist dort freie Schöpferkraft, was hier blöde Nachahmung, ist dort quellender Wuchs … Hier mühsam aufgepfropfte Bildung, dort Anmut einer glücklichen Natur … hier dürftiger Nützlichkeitssinn, dort üppiger Schönheitsdrang … hier nüchterner, vernünftelnder Protestantismus, dort froh-naives katholisches Heidentum …«

Das gab Lilly einen Schlag vor den Kopf. Sie war in einem protestantischen Lande von katholischen Eltern geboren und erzogen. War auch für Frömmigkeit im Heimathause nicht viel Platz gewesen, so saß doch, durch Phantasie und drängende Sinnlichkeit genährt, ein gut Teil religiösen Schwarmsinns in ihrer Seele. Daß ihr Katholikentum gelobt wurde, tat ihrem Herzen wohl; warum es aber mit den bösen Heiden, die man sie so sehr verachten und beklagen gelehrt hatte, in eine fast selbstverständliche Verbindung gebracht wurde, war ihr rätselhaft.

Ein Wirbel ängstlich fragender Gedanken fuhr ihr durch den Kopf … Sie vermochte dem Redenden nicht mehr zu folgen, und erst nach einer Weile, als sie ihn in schmeichelnd leisen Worten ein Bild der südlichen Landschaft entwerfen hörte, gewann sie den Faden wieder. Sie sah den goldblauen Sommerhimmel hinter seligen Eilanden emporsteigen – sie sah den verblutenden Sonnenball in das schwarze Sciroccomeer hinabtauchen, sie sah den Hirten mit der Panflöte auf leuchtenden Asphodeloswiesen seine langmähnigen Ziegen weiden – sie sah den immergrünen Buschwald zu den schneebedeckten Apenninenschroffen emporklettern, sie atmete den Duft des Lorbeer- und des Erdbeerbaumes und sog den Olivenrauch ein, der zur Zeit des Avemarialäutens wie ein Gebetsopfer in blauen Säulen zum Himmel steigt.

Und als sie nun wieder zu ihm aufschaute, da erschrak sie fast; eine so verzehrende, martervolle Sehnsucht brach aus seinem Auge, das hellseherisch über sie alle hinweg ins Leere starrte …

Die Schulglocke erklang, die Stunde war aus. Wie ein Nachtwandler, den man erweckt hat, blickte er um sich. Dann griff er rasch nach seinem Hute und rannte aus dem Zimmer.

Aber die Kirchenstille blieb. Erst nach einer Weile löste sich die Spannung hie und da in einem Flüsterworte, in einem scheuen Tasten nach dem Bücherranzen.

Lilly sprach mit keiner, schloß sich keiner an. Sie rettete sich auf die Straße hinaus, und leise summend, leise weinend zog sie heim.


Am nächsten Morgen herrschte in der Selekta eine tiefgehende Erregung. Das große Erlebnis des gestrigen Tages zitterte nach.

Anna Marholz, die Tochter eines Sanitätsrates, brachte Neuigkeiten aus dem Leben des jungen Lehrers, denn ihr Vater war sein Arzt. Sie wußte zu erzählen, daß ihm ein Aufenthalt im Süden dringend notwendig sei, und daß er im Klima der Heimat wahrscheinlich den Winter nicht überleben werde.

Lilly fühlte ihr Herz stillstehen. Die anderen überlegten, wie ihm zu helfen wäre … Da er kein Geld hatte und die Stadt die Kosten einer so langen Urlaubsreise nicht tragen wollte, weil er doch gar nicht einmal fest angestellt war, so mußten die Mittel seiner Rettung auf privatem Wege zusammen gebracht werden.

»Wir wollen ein Komitee gründen,« schlug eine vor, und die anderen stimmten ihr voll Begeisterung zu.

»Gott sei Dank,« dachte Lilly und hatte das Gefühl, als sei hiermit sein Leben bereits um vierzig bis fünfzig Jahre verlängert worden.

In der Zehnuhrpause trat man sofort zu einer dringenden Beratung zusammen. Ein Vorstand wurde gewählt, und Lilly hatte das unaussprechliche Glück, sich in der Würde einer Schriftführerin wiederzufinden.

In der Kleinschen Konditorei – denn zu Frangipani, wo die Offiziere und die Assessoren verkehrten, wagte man sich nicht hinein – fand wenige Tage später die erste Sitzung statt, in deren Verlaufe fünfzehn junge Damen fünfzehn halbe Eisbaisers und fünfzehn Tassen Schokolade verzehrten, Geschäftsunkosten, die später auf die Einzelnen verteilt werden sollten. Auch einige höchst aussichtsreiche Pläne wurden dabei zur Beratung vorgelegt.

Emilie Faber stellte den Antrag, Romeo und Julia mit verteilten Rollen in der Bürgerressource öffentlich vorzulesen und für die Partie des Romeo den ersten jugendlichen Liebhaber des Stadttheaters zur Mitwirkung zu gewinnen. Dieser Antrag fand allgemeine Zustimmung, denn der Genannte war einer der vielgeliebtesten ersten Liebhaber, die je in Mädchenherzen einen bevorzugten Platz inne gehabt haben.

Käthe Vitzing, deren Vetter im Männerquartett des Realschulchors Tenor sang, machte den Vorschlag, zusammen mit der Prima der Realschule ein Dilettantenkonzert zu veranstalten, ein Vorschlag, der nicht minder allgemeiner Hochachtung begegnete.

Rosalie Katz endlich, die mehr aufs Praktische war, stellte zur Erwägung anheim, Zeichnungslisten drucken und bei den Wohlhabenden der Stadt herumgehen zu lassen. Dieser Plan bereitete weniger Vergnügen, aber schließlich kam man überein, daß ein Gutes dem anderen nicht im Wege zu stehen brauche, und beschloß demgemäß, alle drei Veranstaltungen nebeneinander in Angriff zu nehmen.

Lilly verzeichnete gewissenhaft alle die bedeutsamen und tief begründeten Äußerungen, die zum besten gegeben wurden, und in ihrem Herzen jubelte es: »Für ihn!«

Die Kunstgeschichtsstunden nahmen ihren Fortgang und die Sitzungen des Hilfskomitees desgleichen. Der Verbrauch an Süßigkeiten hielt sich ungefähr auf der bisherigen Höhe, die Begeisterung aber machte merkliche Rückschritte.

Nicht etwa, daß Doktor Mälzers späterer Vortrag Grund zur Enttäuschung gegeben hätte. Bilderreich und sachlich zugleich, hielt er seine Hörerinnen stets in der gleichen gespannten Anteilnahme, aber ihren Hilfsplänen stellten sich ernste Hindernisse in den Weg.

Erstens war ihr vielgeliebter Romeo für den Beginn der Herbstsaison nach einer fremden Stadt wegengagiert worden, zweitens hatte das Männerquartett der Realschule zu einem einträchtlichen Zusammenwirken mit den Selektanerinnen keine Erlaubnis bekommen, und drittens bedurfte man zur Abhaltung einer Hauskollekte der Einwilligung der Polizei, an die sich zu wenden niemand den Mut fand.

So versumpfte der große Rettungsgedanke allmählich und mündete schließlich in einer Konditorrechnung, von der drei Mark achtzig als Einzelanteil Lilly zur Last fielen.

Den Weg zum Leihhaus kannte sie zur Genüge. Sie brauchte sich nicht erst ein Herz zu fassen, um das goldene Kreuzchen, das als letztes Überbleibsel besserer Tage an ihrem Halse hing, dahin zu geben; zudem geschah es ja für ihn.

Der Herbst kam heran, und Doktor Mälzer ging es schlechter … Er hustete viel und fuhr sich jedesmal hernach mit seinem Taschentuch über den Mund, um es sodann mit einem verstohlenen Blicke zu untersuchen.

Und eines Tages wurde verkündet, daß die Kunstgeschichtsstunde bis auf weiteres ausfallen würde.

Anna Marholz erzählte, er hätte einen Blutsturz gehabt.

Lilly brauchte sich nicht erst erklären zu lassen, was das bedeutete. In ihrer Seele schrie es: »Er stirbt! er stirbt!«

Als es dunkel geworden war, schlich sie vor sein Haus, das Anna Marholz in den Büchern ihres Vaters ausgekundschaftet hatte.

Ein müdes, grün umschirmtes Lämpchen brannte hinter dem Fenster seiner Stube … Kein Schatten regte sich, keine Hand erschien hinter der Gardine, nur das Lämpchen brannte fort, unverdrossen, trotz seiner Müdigkeit, stundenlang, so lange als Lilly auf der nebelfeuchten Straße hin und her trottete, voller Gewissensbisse, daß sie so der arbeitenden Mutter die Hilfe wegstahl.

An den nächsten Abenden wiederholte sich das Spiel, und die Angst in ihrer Seele wuchs. Sie malte sich Bilder aus, wie er röchelnd, nach Atem ringend dalag, ohne daß eine Frauenhand den Schweiß des Todes von seiner Stirn wischte.

Am Sonnabend trieb die Unruhe sie schon am Nachmittag vom Arbeitstische fort. Vor seinem Hause auf und ab zu patrouillieren war jetzt bei hellem Tageslicht unmöglich. Einmal zog sie scheu vorüber, aber umzukehren fand sie nicht den Mut. Da kam ihr ein heldenhafter Entschluß: Sie ging zu einem Blumenladen, opferte die zwei Mark achtzig, die vom Erlös für das Kreuzchen noch übrig geblieben waren, und kehrte mit einem braun-gelben Strauße kopfhängerischer Herbstrosen zu seinem Hause zurück.

Ohne sich Zeit zum Besinnen zu nehmen, sprang sie die Treppen hinan und klingelte an der Tür des zweiten Stockes, die dem Fenster mit der grünen Lampe entsprach.

Eine alte Frau mit blauer, schmutziger Schürze und muffelndem Munde öffnete ihr.

Stotternd nannte sie seinen Namen.

»Der wohnt nach hinten,« sagte die Frau und schlug die Tür zu.

Das grüne Lämpchen also leuchtete nicht ihm. Dort saß statt seiner eine alte Frau, die schmutzige Schürzen trug und mit dem Munde muffelte. Acht Tage lang hatte sie zu einem falschen Götzen emporgebetet.

Entmutigt wollte sie die Treppe hinunter schleichen, da las sie auf einer anderen Tür des Stockwerkes inmitten von vier Reißstiften seinen Namen. Ihr Herz machte einen Sprung, und da hatte sie schon angeklopft.

Es dauerte eine Weile, ehe sein Kopf in der viertelgeöffneten Tür erschien. Er hatte den Aufschlag seines grauen Röckchens am Halse hochgezogen, offenbar weil ihm der Kragen fehlte. Sein Haar war verwildert, und die Schnurrbartendchen hingen noch zotteliger auf die Lippen herab … Und wie die Augen loderten in verstörter Frage: »Was willst du?«!

»Fräulein – Fräulein – Fräulein« – stammelte er. Offenbar erkannte er sie, besann sich aber nicht auf ihren Namen.

Lilly wollte ihm den Rosenstrauß entgegenstrecken und dann auf und davon rennen, aber sie war wie gelähmt.

»Ich nehme an, Sie kommen im Auftrag Ihrer Klasse,« sagte er.

»Ja, ja,« rief sie eifrig.

Das war die Rettung.

»Sonst dürfte ich Sie nicht einladen, näher zu treten,« fuhr er mit einem schüchternen Lächeln fort, »das könnte für Sie wie für mich sehr bedenkliche Folgen haben … Da Sie aber als Abgesandte kommen, –« er überlegte eine Sekunde – »bitte schön.«

Lilly hatte ihn sich in hohen, weiten Räumen wohnend vorgestellt, umgeben von geschnitzten Bücherschränken, Phiolen, Globen und den Büsten großer Männer. Erschrocken sah sie vor sich ein einfenstriges Zimmerchen, in dem ein ungemachtes Bett, ein aufgeklappter Kartentisch, ein Kleiderständer und ein Regälchen voll meist ungebundener und zerzauster Schwarten die eigentliche Einrichtung bildeten.

»Der wohnt ja kläglicher als wir,« dachte sie und nahm auf seine Aufforderung hin, unbefangener als sie geahnt hatte, auf einem der zwei Stühle Platz.

Die gemeinsame Armut brachte sie ihm näher.

»Wie ist das liebenswürdig von den jungen Damen, meiner zu gedenken –«

Lilly besann sich auf den Rosenstrauß, den sie noch in der Hand hielt.

»Ach bitte!« sagte sie.

Ohne ein Dankwort nahm er ihn und drückte ihn gegen sein Gesicht …

»Sie duften nicht mehr,« sagte er, »es sind die letzten – aber meine ersten. Sie mögen daraus schließen, wie wert sie mir sind.«

Lilly fühlte, wie vor Freuden sich ihre Augen verschleierten.

»Sind Sie noch leidend, Herr Doktor?« brachte sie hervor.

Er lachte. »Leidend? Nein, mein Fräulein. Leiden habe ich nicht. Ein bißchen Fieber manchmal … aber das ist ganz hübsch … ganz amüsant … da fährt die liebe Seele im Luftballon über alles weg – über Städte, Länder, Meere, auch über Jahrhunderte … und da gibt es oft hohen Besuch, wenn auch nicht so schönen, das heißt – Pardon –«

Er erschrak über sein Kompliment. Er war ja der Lehrer, sie die Schülerin.

Und mitten in seiner Verwirrung schien es plötzlich, als ob eine Blindheit von ihm wiche.

Mit den Augen, die wie zwei Flammen in blauen Höhlen brannten, starrte er sie an: »Wie heißen Sie?« fragte er mit einer Stimme, die noch höher, noch heiserer klang als sonst.

»Lilly heiße ich. Lilly Czepanek.«

Er lebte erst seit kurzem in der Stadt, – der Name war ihm fremd.

»Und Sie wollen Lehrerin werden – Sie?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Wissen Sie was? Lassen Sie sich nach Rußland verschicken und schmeißen Sie dort Bomben – gehen Sie in ein Pesthospital und waschen Sie Geschwüre, heiraten Sie einen Säufer, der Sie prügelt und Ihnen das Bett unter dem Leibe verkauft, aber werden Sie nicht Lehrerin – Sie nicht.«

»Warum gerade ich nicht, Herr Doktor?« fragte sie.

»Das will ich Ihnen sagen … Wer flache Brust und welke Backen hat, – wessen Auge wässerig blickt, – wem das Haar leicht ausfällt – und wer von jedem Geschehnis immer bloß eine Seite sieht, der kann Lehrer werden. Wem selber nicht genug Lebensnerv und Lebensblut gegeben ist, um sein eigenes Leben auszuleben, der kann andere dazu dressieren – der ist gut genug dazu … Wem aber das Blut durch den Leib geht wie flüssiges Feuer, wem die Sehnsucht aus den Augen spritzt, wem die Lebensprobleme zum Schauen da sind und nicht zum Bemäkeln und wer – doch davon darf ich mit Ihnen nicht reden, obgleich ich große Lust dazu hätte, –«

»Ach, tun Sie's, bitte, tun Sie's, Herr Doktor,« flehte sie.

»Wie alt sind Sie?«

»Sechzehn.«

»Und schon ein Weib …«

In schmerzlicher Bewunderung glitt sein Auge über sie hin.

»Sehen Sie mich an,« fuhr er fort, »ich war auch einmal Mensch … man sollt's nicht glauben … ich hab' auch einmal zwei straffe Arme begehrend zum Himmel aufgestreckt … ich habe auch einmal sehnsüchtig in Mädchenaugen geschaut, wenn auch noch nicht in ein Paar wie die Ihren … lassen Sie mich nur schwatzen – ich bin ein Sterbender, der tut Ihnen nichts.«

»Sie sollen aber nicht sterben, Herr Doktor,« rief sie aufspringend.

Er lachte: »Setzen Sie sich, Kindchen, und ereifern Sie sich nicht um mich … Es lohnt sich nicht … Ein Freund von mir hat mal einer wildernden Katze mit dem Knüppel das Rückgrat gebrochen. Sie konnte nicht fliehen, nicht schreien, nichts. Sie saß bloß still auf ihren vieren und hustete und würgte – immerzu – bis sie den zweiten Streich bekam … So geht's mir auch … Was soll man da anfangen? … Gehen Sie weg, Kindchen, ich habe schon meinen Frieden gemacht. Aber wenn ich Sie ansehe, wird es mir wieder schwer.«

Sie wandte sich ab, um ihre Tränen nicht zu zeigen.

»Muß ich?« fragte sie.

»Müssen?« Er lachte wieder. »Ich werde von jeder Minute Ihrer Gegenwart zehren wie der Hungernde von den Krümeln, die er aus den Taschenwinkeln holt … Sie saßen auf der linken Ecke der letzten Bank. – Jawohl. Ich besinne mich … Ich sagte mir: Was sind das für ein Paar unwahrscheinliche Augen? Das sind ja Augen, wie die Zauberhunde in Andersens Märchen sie haben, Augen, zu denen man sagen möchte: ›Bitte, machen Sie doch nicht so große Augen,‹ und die vor Erstaunen darüber, daß man sie groß findet, immer noch größer werden.«

Nun lachte sie.

»Sehen Sie,« sagte er, »jetzt habe ich Sie doch wieder lustig gemacht. Ein allzu leichenfarbenes Bild sollen Sie nicht von hier wegnehmen … Und hübsch waren unsere Stunden – was?«

Lilly antwortete mit einem Seufzer.

»Als ich von Italien sprach, da jappsten Sie ein paarmal vor lauter Sehnsucht. Ich dachte mir: die jappst gerade so wie du und hat's gar nicht mal nötig.«

»Sie möchten wohl sehr gern hin, Herr Doktor?« wagte sie zu forschen.

»Fragen Sie einen Brennenden, ob er gern ein kaltes Bad nehmen möchte. Ich vermute beinahe, er sagt ja, wenn er überhaupt noch was sagen kann.«

»Also das wäre, was Sie am Leben erhielte, Herr Doktor?«

Er sah sie eine Weile finster, verbissen von unten auf an.

»Was fragen Sie? Was wollen Sie von mir wissen? Sagen Sie den jungen Damen Ihrer Klasse, ich bedanke mich schön, ich wäre gerührt von solcher Anteilnahme, ich – –«

Ein Hustenanfall erstickte seine Stimme.

Lilly sprang auf und schaute nach Hilfe um sich. Unwillkürlich griff sie nach einem Wasserglase, das, mit einer schwachgefärbten Flüssigkeit halb gefüllt, auf dem Klapptisch stand, und näherte es seinem Munde.

Er tastete gierig darnach und trank. Dann warf er sich ermattet in den Sessel zurück und sah sie mit zärtlichen Augen dankbar an.

Schwach lächelnd erwiderte sie seinen Blick und dachte nur eines: »Welch ein Glück, hier zu sein!«

So still war es nun in dem halbdunklen, überheizten Zimmer, daß sie das Ticken seiner Taschenuhr hören konnte, die unfern an der Wand hing.

Er wollte sich aufrichten und weiterreden, aber die Kräfte schienen noch nicht wieder auszureichen. Lilly blickte in flehender Mahnung nach ihm hin. Er lächelte und lehnte sich wieder zurück.

Und so schwiegen sie weiter.

»Welch ein Glück!« dachte Lilly. »Welch ein großes, großes Glück!«

Dann streckte er mit matter Bewegung die Hände nach ihr aus. Sie umklammerte sie gierig mit ihren beiden Fäusten. Heiß und schweißig fühlten sie sich an, und der Puls klopfte bis in die Fingerspitzen hinein. Er ging doppelt so rasch als der ihre, denn auch den ihren spürte sie dabei.

»Hören Sie, Kind, liebes,« flüsterte er, »ich will Ihnen einen guten Rat mit auf den Weg geben: Sie haben zu viel Liebe in sich. Von allen drei Sorten: Herzens-, Sinnen- und Mitleidsliebe. Eine davon muß jeder Mensch haben, wenn er nicht zum Stück Nutzholz verdorren soll – zwei sind gefährlich, alle drei führen in den Untergang … Nehmen Sie sich in acht vor Ihrer eigenen Liebe … verschwenden Sie sie nicht, das rat' ich Ihnen, als einer, an den Sie nichts verschwenden, denn ich kann's brauchen – ach Gott, wie sehr!«

»Haben Sie niemand um sich, Herr Doktor?« fragte sie voll Angst, daß irgend eine Frau außer ihr das Recht haben könne, ihn zu pflegen.

Er schüttelte den Kopf.

»Darf ich nicht wieder kommen?«

Er stutzte. Die Inbrunst ihrer Frage war ihm aufgefallen.

»Wenn die Klasse Sie wieder herschickt, gewiß.«

Nun warf sie alle ihre Reserven fort.

»Ich habe ja gelogen!« stammelte sie. »Es weiß ja kein Mensch, daß ich gekommen bin.«

Er schnellte in die Höhe – fast wie ein Gesunder … Sein Gesicht verlängerte sich, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er streckte seine Hände, die heftig zitterten, in halber Abwehr gegen sie aus.

»Gehen Sie,« flüsterte er, »gehen Sie!«

Sie stand noch immer da.

»Wenn Sie nicht gehen,« fuhr er fort, und die Erregung erstickte fast seine Worte, »dann ruinieren Sie Ihre Zukunft. Zu einem unverheirateten Mann, der so wohnt wie ich, kommen junge Damen nicht … Auch wenn er ihr Lehrer ist und so krank wie ich … Sagen Sie niemandem, daß Sie hier gewesen sind, keiner Freundin, niemand. Von Ihrem Ruf sollen Sie Ihr Brot essen. Ihr Brot kann ich Ihnen nicht stehlen. So gehen Sie doch!«

»Und ich darf niemals wieder kommen?«

Ihr Auge bettelte.

»Nein!« sagte er mit einer Stimme, die klirrte wie geborstenes Eisen.

Zugleich fühlte sie sich hinausgeschoben. – Der Schlüssel drehte sich hinter ihr.


Noch in derselben Stunde brach sie ihm den Gehorsam.

Sie rannte zu Rosalie Katz, ihrer Freundin du jour, um alles zu gestehen und sich satt zu weinen.

Und da die kleine, braune Jüdin ein weiches Herz hatte und zum Überflusse auch in ihn verliebt war, so weinten sie zusammen.

Aber sie hatten vergessen, die Tür zuzuschließen, und so geschah es, daß Herr Katz, dessen Wohlhabenheit und gesellschaftliches Ansehen in einem runden Bäuchlein malerischen Ausdruck fanden und dem infolgedessen die Westenknöpfe nur lose saßen, zu seiner Tochter ins Zimmer trat, um sich den jüngst abgesprungenen von ihr annähen zu lassen.

Als er die beiden Mädchen Brust an Brust und in Tränen vorfand, zog er sich zwar fürs erste rücksichtsvoll zurück; kaum aber hatte Lilly die Wohnung verlassen, da nahm er seine Tochter umso ausführlicher ins Gebet. Und so erfuhr er die Geschichte von dem kranken Hilfslehrer, den gescheiterten Komiteesitzungen und den vergeblichen Eisbaisers.

»Nu – können wir machen!« sagte er und drehte schmunzelnd an der sehr dünnen Uhrkette, die sich vom dritten Westenknopfloch nach rechts und links hin verzweigte. Denn sehr dicke Uhrketten trugen unter den Herren Getreidehändlern nur noch die gesellschaftlich zurückgebliebenen.

Und so geschah es ferner, daß acht Tage später Herr Doktor Mälzer einen eingeschriebenen Brief erhielt, worin ihm von zwei fremden Herren mitgeteilt wurde, die Mittel für seinen längeren Aufenthalt im Süden wären vorhanden, er hätte nur nötig, um Urlaub einzukommen, und die erste Rate auf dem Kontor von Goldbaum, Katz und Komp. in Empfang zu nehmen …

An einem klarkalten Oktoberabend fuhr er ab. Das Lehrerkollegium begleitete ihn zum Bahnhof. Auch Lilly und Rosalie, denen auf dem Kontor des Papa Katz die Stunde der Abreise mitgeteilt worden war, hatten sich eingefunden.

Aber sie hielten sich im Dunkeln.

In einen dicken Schal gehüllt, die Feuerbrandaugen gierig in die Ferne gerichtet, so glitt er an ihnen vorbei.

Als der Zug abfuhr, hatten sie sich fest umschlungen und weinten vor Liebe und vor Stolz.

Auf dem Heimwege lud Rosalie ihre Freundin ein, mit ihr eine Napoleonschnitte zu essen, denn für Eisbaisers war es inzwischen zu kalt geworden.

Eine Viertelstunde später saßen sie in der Konditorei, lächelten sich an und besahen Bilder.


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