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Der Zug fuhr knatternd durch die Nacht … Funkenschwärme stoben … Wenn der Heizer neue Kohlen aufschüttete, warf sich ein Leuchten von Feuerwolken tief in die Finsternis hinein und ließ für einen Augenblick purpurrote Fichten, goldglänzende Schneedächer und gelbgesprenkelte Ebenen aus dem schwarzen Nichts erstehen.
Wie schön, wie seltsam das war!
Lilly lehnte den champagnerschweren Kopf in die rotsammetnen Kissen zurück. –
Nun war alles vorüber. Ein Wirrwarr von halbgelebten, halbgeträumten Bildern spukte noch durch den Kopf.
Ein großes, schwarzes Tintenfaß mit einem kleinen, graubärtigen Mann dahinter, der allerhand unnütze Fragen tat … Eine weiße, myrtendurchflochtene Spitzenwolke, von der Frau Kriegsrätin ihr über den Kopf geworfen, die dabei aus einem Entzücken in das andere fiel … Ein hassenswerter, evangelischer Pastor mit zwei lächerlichen, weißen Kinderlätzchen, anzusehen wie ein Totengräber, der aber schließlich so wunderschön sprach, daß man sich am liebsten an seinem Halse hätte ausweinen mögen … Zwei schwarze und zwei bunte Herren; – der schwarzen einer Herr Doktor Pieper, der bunten einer der Oberst.
»Frau Oberst – Frau Oberst –« knatterten die Räder.
Oder wenn man genau hinhörte, dann klang es auch, wie die Herren heute immer gesagt hatten: »Gnä – digste Baro – nin, – gnä – digste Baro – nin.«
Immer im Takte, immer im Takte.
Etwas sehr Merkwürdiges war das Eis gewesen: Ein richtiges Bergwerk mit Stollen und Erzadern und kleinen Grubenlichtern, die durch die vielen Kristalle hindurch schimmerten. Sie hätte es ihr Leben lang anschauen mögen, aber sie mußte mit einem großen, goldenen Löffel hineinstoßen, so daß gleich ein ganzes Gebirge zusammenfiel.
Und dann hatte sie ihn gefragt, ob sie in Zukunft täglich Eis essen dürfe, und er hatte lachend zugesagt. Wäre sie nicht schon etwas beschwipst gewesen, so hätte sie die Dreistigkeit wohl nicht gehabt, und sie nahm sich auch vor, ihn später um Entschuldigung zu bitten.
Nun saß er drüben und bohrte die Augen in sie hinein.
Das war das einzig Genierliche, und wäre sie nicht ein solcher Hans Hasenfuß gewesen, so hätte sie ihn sicher gebeten, zur Abwechslung auch mal wo anders hinzusehen.
Aber eigentliche Furcht fühlte sie heute nicht. Die war ihr in jüngster Zeit allmählich abhanden gekommen, als sie bemerkt hatte, wie unmenschlich lieb er war, und daß sie einen Wunsch kaum erst auszusprechen brauchte, um ihn bereits erfüllt zu sehen.
Und dann noch eines, was sie freilich niemandem sagen durfte, und was zu denken schon ein Verbrechen war: Er hatte krumme Beine. Die richtigen Kavalleristenbeine, die noch dazu für den mächtigen Oberkörper ein wenig zu kurz geraten waren und seinem steifen Gange etwas Federnd-Unsicheres gaben, als bemühe er sich stets, auf einer Dielenritze einherzugehen. Besonders seit er Zivil trug und die Hände in die Jackentaschen zu stecken pflegte.
Von Zeit zu Zeit neigte er sich vor und fragte: »Sitzt du auch gut, geliebtes Kind?«
O! Sie saß unendlich gut. Sie hätte ihr ganzes Leben so sitzen mögen, in die roten Sammetpolster zurückgelehnt, mit den weichen, dänischen Handschuhen und den neuen Lackstiefeln, von denen ab und zu ein fein geschwungenes, blankes Spitzchen unter dem Reisekleide hervorguckte.
Was war das auf dem Bahnhof nur für ein Gewühl gewesen!
Uniformen freilich hatten sich nicht blicken lassen, denn offizielles Geleit hatte seinem Wunsche entsprechend unterbleiben müssen. Umso größer aber war die Anzahl verschleierter Damen, die sich mit gesuchter Unauffälligkeit auf dem Bahnsteig zu schaffen machten.
Als sie an seinem Arme zum Coupé gegangen war, hatte sie sogar zwei, drei halblaute Ausrufe der Bewunderung aufgefangen. Und die waren – weiß Gott! – nicht aus befreundetem Munde gekommen.
Das alles floß ihr noch immer wie ein warmer Strom wohlig ums Herz.
Im letzten Augenblick, als der Zug sich bereits bewegte, waren zwei Sträußchen zum Fenster hereingeflogen.
Sie schaute noch einmal hinaus. Da standen die beiden Schwestern, machten tiefe Verbeugungen und weinten wie die Regenrinnen.
So groß war ihr Glück, daß es selbst den Neid entwaffnete und alles böse Gift zu schmerzlicher Mitfreude sich wandeln ließ!
Und drüben saß der, der es ihr geschaffen hatte.
Für einen Augenblick überwältigten sie Wohlgefühl und Dankbarkeit so ganz, daß sie vor ihm auf dem Filzteppich niederhockte und, die Hände auf seinem Schoß gefaltet, in Anbetung zu ihm emporsah.
Doch als er sie nun umfaßte, an sich riß und die Linke an ihrem Körper entlang gleiten ließ, da wurde ihr wieder bange. Sie bog sich auf ihren Platz zurück, und er nickte vor sich hin – mit einem Lächeln, das zu sagen schien: »Meine Stunde wird schon kommen.«
Und die Stunde war da, rascher als sie geahnt hatte.
»Mach dich zurecht,« sagte er plötzlich, »wir steigen gleich aus.«
»Wo denn?« fragte sie erschrocken.
»Auf der Station, – du weißt – von der aus eine Seitenbahn nach Lischnitz führt.«
»Fahren wir denn nach deinem Gute?« fragte sie erschrocken, denn es war bisher immer von Dresden die Rede gewesen.
»Nein,« sagte er kurz, »wir bleiben da.« – – – –
Nun standen sie auf einem dunklen Bahnsteig, Taschen und Koffer um sich her.
Um die spärlichen Laternen herum bildete der Eisnebel regenbogenfarbene Sonnen, und weißliche Atemwolken umhüllten jede der dunklen Gestalten, die in das Lichtbereich trat.
Der Zug fuhr von dannen.
Sie standen da, und niemand kümmerte sich um sie.
Da hub der Oberst ein großes Fluchen an, wie er's vom Exerzierplatz her gewöhnt sein mochte, wenn sich die Welt nicht nach seinem Willen gedreht hatte.
Wie Wetterschläge fielen die Zornschreie auf Lilly nieder. Sie fing am ganzen Leibe zu zittern an, als habe sie selbst seinen Unwillen verschuldet.
Etliche der niederen Bahnbeamten, denen dieser Kommandoton von altersher vertraut schien, kamen eilfertig herbei, beluden sich mit dem Gepäck und waren in ihrer Zerknirschung jämmerlich anzuschauen.
Ein Hotelwagen wartete.
Lilly drückte sich verschüchtert in die hinterste Ecke.
Die Ölfunzel, die über ihr in einer schmutzigen Glasglocke trübselig brannte, warf wirre Lichter und Schatten über sein scharfliniges Gesicht, das dadurch ein neues, flackriges Leben bekam, als tobe die längst erloschene Wut noch in ihm weiter.
»Dem alten, bösen Mann da, den du nicht kennst, der dich nichts angeht und nie etwas angehen wird, bist du auf Gnade und Ungnade ausgeliefert,« dachte Lilly. Ein Frieren überkam sie. – »Wenn du mit einem Satz an ihm vorbei sprängest, die Wagentür aufrissest und in die Nacht hinausliefest?« – Sie malte sich aus, was dann geschehen würde. Er würde den Wagen halten lassen, würde ihr nacheilen, rufen, schreien und, falls sie sich gut zu verstecken wüßte, die Polizei auf die Beine bringen. Am nächsten Morgen würde man sie finden – in einem Mauerwinkel niedergekauert, schlafend, vielleicht erfroren.
Da streckte er, wie verliebte Leute pflegen, seine Hände suchend nach den ihren aus. Das Schattenbild zerstob, und mit aufblühendem Lächeln schlug sie ein.
Doch als sie in dem fremden Gasthof, an dessen Schwelle Wirt und Bedienstete sie mit begeisterten Bücklingen empfingen, Lichtglanz, Glockenschlag und Wärme sich entgegenströmen fühlte, übermannte der Fluchtgedanke sie von neuem: »Wenn ich jetzt sagte, ich hätte im Wagen etwas vergessen, hinausliefe und nicht wiederkäme –?«
Aber da schritt sie schon an seinem Arme die Treppe hinan.
Ein weites, Achtung einflößendes Zimmer mit buntblumiger Tapete und einem kahlen, dreiarmigen Kronleuchter nahm sie auf.
In einer Ecke stand ein mächtig breites Bett, mit einer weißen Damastdecke platt bedeckt und einem hoch aufgebauten Schnitzwerk am Kopf- und am Fußende.
Vergebens sah sie sich nach einem zweiten um.
»Heiliger Joseph!« zuckte es ihr durch den Kopf.
Der Oberst – sie nannte ihn in ihrem Innern noch immer den Oberst – tat, als ob er hier zu Hause wäre. Er murrte ein weniges, schrob an den Lampen und warf seinen Überzieher in einen Winkel.
Sie stand noch da, an die Wand gelehnt, so wie sie eingetreten war. »Wollte ich jetzt noch fliehen,« dachte sie, »dann müßte ich mich schon zum Fenster hinausstürzen.«
»Hast du die Absicht, dich bis morgen früh nicht mehr zu rühren,« sagte er, »dann werde ich dich als Kleiderständer engagieren.«
Eine schmunzelnde Ruhe schien über ihn gekommen, als fühle er sich jetzt erst seines Besitztums sicher.
Er warf sich in die Sofaecke, steckte sich eine Zigarette an und sah mit Kennermiene zu, wie sie sich langsam ihres Mantels entledigte und mit zögernden Fingern die Nadel aus dem Hute zog.
Es klopfte.
Ein Kellner brachte eine Platte mit kalten Speisen und eine silberhalsige Flasche.
»Schon wieder Champagner?« fragte Lilly, der von der Mittagstafel her ein leises Übelsein noch in der Kehle saß.
»Gerade Champagner,« sagte er und ließ einen sprühenden Strahl in die Kelchgläser niederfließen. »Der gibt kleinen Mädchen Courage, das schöne blauseidene Negligé einzuweihen, das im Koffer auf sie wartet.«
Sie stieß mit ihm an, wie er verlangt hatte, führte das Glas jedoch kaum an die Lippen.
Und als er sie scherzhaft zur Rechenschaft zog, erwiderte sie bittend: »Ich möchte aber nicht gerne betrunken sein an solch einem heiligen Abend.«
Diese Antwort erschien ihm höchst erfreulich. Er brach in ein lärmendes Lachen aus und meinte: »Umso besser, umso besser!«
Dann machte er Miene, sie zu sich niederzuziehen, aber sie, der jede Berührung mit ihm Unbehagen verursachte, entwand sich ihm rasch und sagte: »Ich sollte ja mein Negligé vorsuchen.«
Sie kniete vor dem Koffer nieder, den sie gestern abend selber gepackt hatte, hob die Einsatzkästen heraus und holte aus der Tiefe die spitzenumrandete Seidenwolke des Nachtzeugs hervor, das er ihr mit allen anderen Herrlichkeiten vor der Hochzeit geschenkt hatte.
Dann sah sie sich nach einem schützenden Winkel um, aber nirgends auf Erden gab es Rettung vor diesem Augenpaar, das, schwimmend in Gier, jede ihrer Bewegungen verfolgte.
Zaudernd, mutlos stand sie da, die Finger am Kragen des Kleides hängend, dessen Haken sie nicht zu öffnen wagte.
Er, ungeduldig geworden, sprang auf.
Seine Hände griffen nach ihr, doch in dem Blick, den sie ihm zuwarf, lag so viel verzweifelnde Not, daß er in ritterlicher Wallung von ihr ließ.
Dabei geschah es, daß er sich bückte, um eine Rolle aufzuheben, die bei ihrem Wühlen aus dem Koffer gefallen war.
Lilly sah etwas Hellschimmerndes zwischen seinen dunklen Fingern.
»Das Hohe Lied« schoß es ihr durch den Kopf! …
Aufschreiend stürzte sie auf ihn los und suchte ihm die Rolle zu entreißen. Aber seine Hand war wie ein Schraubstock.
Mit leichter Mühe erwehrte er sich ihrer, immer lachend.
Der Gedanke, daß das Geheimnis ihres Lebens in fremde Hände geraten war, machte sie sinnlos. Sie weinte, sie schrie, sie schlug auf ihn ein.
Nun erst begann die Sache ihm verdächtig zu werden. Ein Zweifel an der Unberührtheit ihrer Seele, ihres Fleisches sogar, mochte in ihm aufsteigen.
»Halt, mein kleines Mädchen!« sagte er. »Schleichwinkel und Hinterhalte gibt's jetzt nicht mehr. Entweder du läßt mich sofort gutwillig sehen, was du da hast, oder ich klemm' dich zwischen meine Kniee, so daß du kein Glied rühren kannst.«
Da legte sie sich aufs Bitten.
»Herr Oberst, lieber Herr Oberst! … Ein paar Bogen Notenpapier, mit Liedern vollgeschrieben, mehr ist es nicht. Ich schwör's Ihnen, lieber Herr Oberst.«
Die drollige Unschuld ihres Flehens rührte ihn, das demütig vergeßliche »Herr Oberst« brachte ihn von neuem zum Lachen. Zudem wußte er ja, daß man sich von ihr als Tochter eines Musikers künstlerischer Ambitionen wohl versehen konnte.
»Du komponierst da wohl höchstselber?« fragte er.
»Nein – nein – nein – das nicht,« klagte sie, »aber sehen Sie nicht 'rein, – geben Sie's mir wieder, – sonst spring' ich zum Fenster 'raus. Bei Gott und allen Heiligen, ich tu's!«
Sie gefiel ihm so gut, mit den in tödlicher Angst weit aufgerissenen Augen, mit dem beim Ringen aufgelösten Haar, mit dem Ausdruck einer tragischen Muse in dem süßen, zartgeschnittenen Halbkindergesicht, daß er den raren Anblick noch ein wenig genießen wollte.
Deshalb setzte er eine finstere Miene auf und spielte das, was er vor wenigen Augenblicken gewesen war.
Da fiel sie vor ihm auf die Kniee, und seine Beine umklammernd, stammelte, flüsterte sie, halb erstickt von Scham und Jammer: »Wenn Sie's mir wiedergeben, dann können Sie mit mir machen, was Sie wollen, dann tu' ich alles, was Sie wollen, und wehre mich nicht mehr.«
Dieser Handel schien ihm vorteilhaft.
»Hand darauf?« fragte er.
»Hand darauf,« erwiderte sie. »Und auch nie fragen – nein?«
»Wenn du mir bei deinem heiligen Joseph schwörst, daß da nichts weiter wie Noten sind.«
»Und der Text dazu, – das schwör' ich.«
Er reichte ihr die Rolle, und sie überließ sich ihm, – verkaufte sich dem Manne, der sie schon besaß, um den Preis des »Hohen Liedes«, das er ihr geraubt hatte.
Der Frühmorgenschein, der durch gelbstreifige Vorhänge in ihre Augen fiel, erweckte sie. Sie ruhte wohlig an etwas Warmes geschmiegt und hatte köstlich geschlafen.
Langsam dämmerte ihr auf, was geschehen war.
Sie neigte sich über ihn und wollte ihn küssen.
Er lag, den Kopf nach hintenüber geworfen, mit offenem Munde, und auf dem blanken, rissigen Kinn spiegelte sich das Fensterlicht. Über die hageren Backen liefen die Äderchen kreuz und quer wie Flüsse auf einer Landkarte. Das tintenschwarze Bärtchen glänzte von Pomade. Und die Augenlider waren so vielfach gefaltet, daß es schien, als würden sie, ausgestreckt, bis unter die Nase reichen.
»Bös sieht er nicht aus,« dachte Lilly, aber das Küssen vergaß sie.
Lautlos stand sie auf und kleidete sich an, ohne daß er sich gerührt hätte. Er, der alte Reitersmann, hatte einen gesegneten Schlaf.
Dann schrieb sie auf einen Bogen, den sie in der Hotelschreibmappe gefunden hatte, die Worte: »Bin in die Kirche gegangen,« legte ihm das Papier zwischen die Finger und schlüpfte hinaus, – die Treppe hinunter, an dem Portier vorbei, der so erstaunt war, daß er das Grüßen vergaß …
Die Straßen der kleinen Stadt träumten in der Stille des Spätwinters … Schneehügel, vom Fahrdamm hinweggekehrt, zogen sich die Rinnsteinzeile entlang … Ein schwarzer Krähenschwarm saß rings um den vereisten Marktbrunnen … Leise Schlittenglockentöne erfüllten die graue Schneeluft.
Auf dem Bürgersteig zogen Jungen mit Ranzen unter dem Arm, verschlafenen Schrittes der Schule zu. In einzelnen der dürftigen Kaufläden brannte noch Licht. Lehrlinge mit rotgefrorenen Backen fegten die Treppensteine rein. Bei Lillys Nahen erstarrten sie oder riefen eilige Worte ins Innere zurück, – neue Jünglinge erschienen, und alle zusammen glotzten ihr nach.
Hinter ihr dröhnten marschierende Schritte. Ein langer Zug Infanteristen mit Fausthandschuhen, aber ohne Mäntel, trappste auf dem Fahrdamm, beim taktmäßigen Atmen weiße Dampfwolken vor sich herstoßend … Alle machten »Augen links« nach ihr hin, geradeso, als wäre es kommandiert worden, und die Offiziere, die an der Seite gingen, warfen einander fragende Blicke zu und zuckten die Achseln.
Lange brauchte sie nicht zu suchen, bis sie die katholische Pfarrkirche gefunden hatte, die, ein plumper Steinbau mit vermauerten und verschmierten Resten von Gotik, hoch über alle Dächer ragte.
Barbarische Prunkaltäre mit greller Vergoldung und porzellanenen Fünfgroschenvasen füllten die Seitenschiffe. Ihren heiligen Joseph fand sie nicht. Und so nahm sie denn mit der schmerzensreichen Mutter vorlieb, die ihr aber nicht viel zu sagen hatte.
Ein Druck, eine Leere herrschten in ihrem Gemüte, die sie sich nicht zu erklären vermochte. Es war, als ob sie etwas verbrochen hätte, und wußte doch nicht, was.
Sie kniete nieder und schnurrte ihre Gebete herunter, so gedankenlos, daß sie sich dessen schämte.
Dann ertappte sie sich, wie sie mit ihren schwedischen Handschuhen liebäugelte, die in sammetweicher, anspruchsloser Vornehmheit ihre Finger umschmiegten.
Von Zeit zu Zeit ging ein Schauer durch ihren Leib, der sie zwang, die Augen zu schließen und die Zähne aufeinander zu beißen, – und dieses Schauers schämte sie sich auch.
Bald hörte sie ganz zu beten auf und sah sich die Muttergottes an, die ein weinerliches Gesicht machte, als wolle sie sagen: »Ach bitte, zieht mir doch das da heraus.« Die sieben Schwerter aber, die in ihrem Herzen steckten, waren oben am Griff mit Perlen und bunten Steinen belegt.
»Wäre ich wenigstens unglücklich,« dachte Lilly, »dann hätte ich doch was. Dann dürft' ich Zwiesprache mit ihr halten, wie ich's sonst mit dem heiligen Joseph getan habe, – und auch die Schwerter in meinem Herzen wären kostbar anzuschauen.«
So kostbar wie die Perlenkette, mit der er gestern zur Hochzeit ihren Hals geschmückt hatte.
Sie sah sich, wie sie zwei Monate früher gewesen war, wenn sie sich im Morgengrauen für eine halbe Stunde hinweggestohlen hatte, um ihrem Lieblingsheiligen das heiße, übervolle Herz zu Füßen zu legen – wie sie, getragen vom Rausch der Jugend, auf Wolken dahingeglitten war, den Blick in selige Weiten gewandt.
Und doch hatte sie bis zum Halse in Elend und Verlassenheit gesteckt.
»Wenn so das Glück aussieht,« dachte sie weiter und zuckte die Achseln.
Dann plötzlich kam eine Angst über sie, daß jene Zeiten nie mehr wiederkehren würden, daß sie nun ewig hinleben müßte wie heute, leer im Herzen, zerstreuten Geistes, von dumpfem Druck gequält.
»Das kommt nur daher, daß ich ihn nicht genug liebe,« gestand sie sich.
Nun wußte sie, um was sie die heilige Muttergottes zu bitten hatte.
Sie barg das Gesicht in beiden Händen und betete lange und inbrünstig. Betete darum, ihn zu lieben – mit so viel Leidenschaft als Tropfen in ihrem Blute – mit so viel Andacht als Hoffnungen in ihrer Seele – mit so viel Freudigkeit als Lachen in ihrer Brust.
Und siehe da! Ihr Gebet wurde erhört.
Befreiten Gemütes, mit leuchtenden Augen erhob sie sich und eilte zurück an den Platz, auf den sie gehörte, um ihm zu dienen in Demut und Vertrauen – als sein Kind, seine Magd, seine Buhle, wie er es gerade begehrte.