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Im nächsten Jahre machte Lilly zwei kleine Liebschaften durch, die für ihr ferneres Leben ohne Belang waren.
Während einer vierwöchentlichen Erholungsreise nach dem Riesengebirge war ihr ein damals vielgenannter Romandichter begegnet, der seinen jungen Ruhm durch die böhmischen Bäder spazieren führte und dabei freundlich mitnahm, was am Wege blühte. Er drang bei ihr ein, ohne viel gefragt zu haben, und fuhr nach ein paar Tagen zu neuen bonnes fortunes von dannen.
Und in Berlin erhörte sie einen schönen und sehr eleganten Gardehusaren, der in einem vornehmen Restaurant vom Nebentische her mit ihr angebandelt hatte, und den sie beleidigt wieder laufen ließ, als er Miene machte, für ihre Gunst mit einem kleinen, vom Juwelier stammenden Lederkästchen zu quittieren.
An beide Abenteuer dachte sie ungern zurück und löschte sie bald ganz aus ihrer Erinnerung aus.
Zu Weihnachten bekam sie einen neuen Hausgenossen. Da sie sich mehrfach bei Richard beklagt hatte, ihr Leben ginge leer und unlohnend dahin, sie müßte um alles in der Welt etwas Liebes und Lebendiges zum Sorgen und Betreuen haben, schenkte er ihr einen kleinen, nackten Affen, der selbst an ihrer Brust sich nicht erwärmen konnte und ihr, wenn er böse wurde, den Hohn auf ihre Sehnsucht fauchend ins Gesicht spie.
Von Zeit zu Zeit gab es auch wieder neue Heiratspläne.
Deren Anzeichen kannte sie genau.
Wenn Richard mit gerunzelter Stirn zerstreut und wortkarg durch sämtliche Zimmer marschierte, – wenn er aus heiler Haut über die Vergänglichkeit alles Irdischen zu philosophieren begann, – wenn Mama zu ungewöhnlicher Zeit den Wagen brauchte und sich in seiner Brieftasche kleine Pakete von Konzert- und Opernbilletts herumtrieben, dann wußte sie genau, daß irgend etwas sich anbahnte.
Und dann dauerte es meistens nicht lange, bis er das Schweigen brach.
Die eine hatte zwei, die andere drei Millionen; auch einflußreiche Verwandte, Bergwerke, Fabriken, Testamente, Staatslieferungen, Häuserkarrees und unendliche Baugründe winkten in der Ferne.
Manchmal schwirrten so viele Zahlen durch Lillys Ecksalon, daß man glauben konnte, auf dem Bureau eines Börsenmaklers zu sein.
Eine war sogar arm. An der hatte Mama einen Narren gefressen, weil sie eine Generalstochter war.
»Und ich bin eine Generals witwe,« sagte Lilly in ihrem verletzten Stolz.
Jene Kirchenmaus nannte er seine »Renommierkalle«. –
Aber dabei blieb es auch. Sie und alle die anderen schwanden wieder dahin, denn schließlich war ihm keine gut genug.
Lilly aber sann und plante: So müßte sie sein und so … Weiße, sanftgeschwellte Säulenarme müßte sie haben wie jene lange Dänin auf dem Künstlerfeste, und einen ganz zarten, kaum wahrnehmbaren Busen, – der ihre schien ihr zu üppig geworden – und beim Lachen zwei Grübchen in den Wangen, denn das bürgte für Friedfertigkeit.
Ja, Frieden verlangte sie vor allem für ihn. Sie wußte, daß er keinen Zank vertragen konnte, und eigentlich zankten sie sich auch nie. Geschah es aber doch einmal, so war er drei Tage lang verstört und elend, sprach in einem wehleidigen Krankenton und mußte gehätschelt werden wie ein Kind.
Und das tat sie auch mit Freuden, obgleich er es durchaus nicht verdiente.
Denn, man mochte die Sache drehen wie man wollte, er war ein richtiger Taugenichts geworden.
Daß er an seinen Klubabenden schon höchst achtunggebietende Summen verloren hatte, mochte ihm noch hingehen, aber er trieb sich auch auf Katersteigen herum, als wäre er der erste beste Ehemann, und seine Erlebnisse waren nicht immer von der reinlichsten Art.
Eines Tages kam eine junge, hübsche Person mit einem acht Wochen alten Kinde auf dem Arm, weinte und schrie und erklärte, sie müsse jetzt an Lillys Stelle treten, denn sie habe das Kind von ihm und darum auch die größeren Rechte.
Lilly tröstete sie, gab ihr Wein zu trinken und kitzelte ihrem Baby neiderfüllt das kleine, nasse Kinn, so daß es selig ins Leere lachte.
Darauf schied sie tiefberuhigt und küßte ihr noch die Hand.
An diesem Nachmittag aber bekam Richard keine schlechte Pauke.
Im übrigen wußte sie sich frei von jeder Eifersucht.
Und wenn er verlegen, aber mit pfiffigen Augen, den Kopf ganz nach links hinüberhängend, bei ihr erschien, während in seinem Kielwasser eine Welle minderwertigen Parfüms sich ausbreitete, dann hatte sie stets ein mütterlich-nachsichtiges Lächeln, das er wohl verstand, und das er fürchtete wie die Pest.
Mochte er sich noch so energisch aufs Schweigen eingerichtet haben, es dauerte keine halbe Stunde, dann saß er, in halberlognen Geständnissen rettungslos festgefahren, auf dem Sande und wollte womöglich noch gelobt oder getröstet sein.
Daß Lilly bei dieser Art von Leben, die alle Fehler und Tücken des Ehestandes treulich widerspiegelte, ohne dessen Würdegefühl und innerliche Rechte zu gewähren, sich immer mehr in sich zurückzog und immer trüber in die Zukunft blickte, mußte sich von selbst ergeben.
Sie lebte ihre Tage, als säße sie auf einem Ast, gewärtig von dem ersten besten Windstoß in die Tiefe geblasen zu werden. Und dann wieder war es ein kahler, grader, nicht endenwollender Chausseeweg ohne Ziel, ohne Augenpunkt, immer neue hoffnungslose Strecken aus sich heraus gebärend.
Immer dieselbe Vergnüglichkeit, immer dieselben Larven, immer das gleiche, zwecklose Herumziehen bis gegen die Morgenfrühe!
Manchmal fühlte sie sich so ermüdet, als habe sie schwere Arbeit geleistet.
Manchmal streikte sie auch, blieb im Bette und las die Fliegenden Blätter. Oder sie schloß die Augen und träumte von alten Zeiten.
Die sonnenlose Bücherhöhle der Witwe Asmussen wurde zum Paradiesgärtlein und ihre Milchmus zur Götterspeise. Um die Bilder der einst Geliebten strich ihre Sehnsucht furchtsam herum, als wäre es Verbrechen gewesen, sie aus den Tiefen heraufzuzaubern. Und daraus erwuchs ihr ein freudig-banges Vorgefühl, als müsse dieser oder jener von selber kommen, die Hand erlösend ausstrecken und ihr zurufen: »Nun bist du lange genug in der Fremde herumgeirrt, nun komm wieder heim.«
Wer es war, wußte sie nicht zu sagen. Aber einer von ihnen mußte es sein. Irgend etwas mußte sich ereignen. Denn so ging es nicht weiter … – –
Von Zeit zu Zeit, wenn die heimliche Unruhe sich nicht mehr bändigen ließ, nahm sie auch ihre abendlichen Wanderungen wieder auf, fuhr auf der Elektrischen in weitentfernte Gegenden und streifte dort mit schuldbewußter Seele durch buntbelebte Straßenzüge.
Genau wie Frau Jula es tat.
Aber noch immer gewann sie es nicht über sich, einem ihrer Verfolger Gehör zu schenken. – – –
Auf einem dieser Wege war's – fern ab im Norden, so um das Rosentaler Tor herum – daß sie eines Maiabends einem jungen Menschen begegnete, der sie nicht im mindesten beachtete, der auch durchaus nicht wie ein Gentleman aussah und der ihr doch bekannt erschien.
So bekannt, daß sie sogar einen Herzstich bekam.
Nur wußte sie beim besten Willen nicht, wo sie ihn unterbringen sollte.
Rasch entschlossen machte sie kehrt und ging hinter ihm her.
Er trug einen braunen, durchgeschwitzten Hut und einen pfeffer- und salzfarbenen, etwas ins Gelbliche schimmernden Anzug, der vielleicht auch einmal bessere Tage gesehen hatte. Sein Rockkragen glänzte. Um die Kniee herum waren große Säcke ausgebeutelt, und über den schiefgetretenen Absätzen gab es ein schwärzliches Gekräusel, als ob eine ausbessernde Nadel den mürben Stoff mit vielfältigen Fäden durchzogen hätte.
Nein, von ihren Freunden war das niemand. Selbst nicht in Verkleidung. Die trugen andere Hosen.
An diesem und jenem Schaufenster blieb er stehen, vor einem Zigarrenladen, einem Fleischladen, und besonders lange vor einem Wäschegeschäft, woraus sie folgerte, daß auch seine Oberhemden eine Erneuerung wohl vertragen konnten.
Wenn er ihr auf diese Weise sein Profil zuwandte, sah sie im Scheine der Lampenreihe ein hageres, knochiges Gesicht mit vorstehender Nase und einer Faust voll rotbrauner Haare auf jeder Seite des Kinns. Kränklich schien er nicht, eher dürftig oder vertrocknet. Nur die kleinen, schmalspaltigen Augen waren dick und entzündet, und ehe er in den grellen Schein eines Schaufensters trat, pflanzte er sich einen dunkelblauen Klemmer auf die Nase, um sie zu schützen.
Ein Tändelstöckchen hatte er in der Hand, dessen dünnes Rohr er wie eine Gerte auf den Steinfliesen sich krümmen und wieder hoch schnellen ließ. Dieses Tändelstöckchen, dessen silberblinkender Griff zu der Abgerissenheit seiner Kleidung nicht recht passen wollte, erinnerte sie an irgend etwas, das mit einem Frostgefühl – und warmen Semmeln – und Herbstrot – und Sonntagsgeläute zusammenhing.
Dann schrie sie hell auf.
Fritz Redlich war's … Ja, er war's … Da gab es keinen Zweifel. Ihre Jugendliebe! Ihre Jugendliebe! … Ihr großer Lebenskämpfer … Der Schützling ihres heiligen Joseph!
O Gott, ja, der heilige Joseph! … Und der Revolver! … Und die Kartoffelsuppe mit den Brühwürstchen! … Und die drei Gräber zu Ottensen!
»O Gott, – Herr Redlich, Herr Redlich!«
Zitternd, lachend stand sie hinter ihm und streckte dem ängstlich Zusammenfahrenden beide Hände entgegen.
Er ließ den Kneifer fallen und musterte die hohe, elegante Dame, hinter deren dunklem Spitzenschleier zwei große, tränengefüllte Augen in glückseligem Gruße zu ihm herüberleuchteten, mit einem argwöhnischen und blödsichtigen Zwinkern … Dann griff er linkisch nach der Hutkrempe.
»Aber Herr Redlich – ich bin ja die Lilly – die Lilly Czepanek. – Erinnern Sie sich denn gar nicht mehr?«
Ja, nun erinnerte er sich …
»Gewiß,« sagte er, »wie werd' ich mich nicht erinnern?«
Gleichzeitig zog er mit einem raschen und verstohlenen Griffe die Zipfel der Weste am Leibe herunter, als wäre den Mängeln seiner äußeren Erscheinung hiermit am wirksamsten abzuhelfen gewesen …
»Ach Gott, Herr Redlich! … Wir haben uns so lange nicht gesehen. Ich glaube, das sind sieben, acht Jahre … Nein, so lange ist es nicht. Aber es kommt mir noch viel länger vor … Und Ihnen ist es doch immer gut gegangen, nicht wahr? … Und Sie haben gewiß furchtbar viel zu tun, sonst könnten wir vielleicht noch ein bißchen zusammen bleiben.«
Zu tun hätte er allerdings sehr viel, aber wenn sie es wünschte, zusammen bleiben könnten sie immerhin.
»Vielleicht gehen wir in irgend ein Restaurant,« rief sie, immer noch zwischen Lachen und Weinen, »und trinken ein Glas Bier … Nein, Herr Redlich, wie ist es bloß möglich?«
Gegen das Glas Bier war er entschieden eingenommen.
»Die Restaurants sind immer so stickig und voller Menschen,« sagte er, »und das Bier hier herum ist auch so schlecht. Gar nicht zu trinken ist das Bier.«
»Der Ärmste hat gewiß kein Geld zum Bezahlen,« dachte sie und machte den Vorschlag, sich statt dessen auf irgend eine Bank zu setzen. Es wäre ja alles egal, wenn man nur beisammen bliebe.
»Das ließe sich allerdings erwägen,« meinte er, »wenngleich –« und er sah sich scheu nach rechts und nach links um, ob auch niemand an dem ungleichen Paare Anstoß nähme.
Sie schritten nun nebeneinander den stilleren Weinbergsweg hinan, und Lilly, ihn von der Seite mit Stolz und mit Rührung betrachtend, als hätte sie ihn aus dem Nichts erschaffen, murmelte immer wieder: »Nein, wie ist es möglich, Herr Redlich? Wie ist es möglich?«
Und dann fanden sie in der Nähe einer Kirche richtig eine Bank, dämmrig und von Fliederknospen überwölbt, die eben von einem Liebespärchen geräumt wurde.
»So, nun erzählen Sie los, Herr Redlich. Gott, Gott, was haben wir uns alles zu erzählen!«
»Zu erzählen wäre ja wohl mancherlei,« erwiderte er zögernd, »aber vielleicht machen die Frau Oberst den Anfang.«
»Ach pfui, ich bin ja schon lange keine Frau Oberst mehr,« rief sie und fühlte, wie sie errötete.
»Ja allerdings – ich habe so etwas gehört,« erwiderte er, und ihr war, als läge in seinem Tone ein Tadel, ein innerliches Verletztsein.
»Worüber ich mich übrigens nicht im mindesten beklage,« setzte sie rasch hinzu, »denn alles in allem lebe ich viel freier und angenehmer, als ich damals gelebt habe. Und ich habe auch nicht die geringsten Sorgen … Und ich besitze ein entzückendes kleines Heim … Und ich befinde mich überhaupt in den glücklichsten Verhältnissen … Und ich wäre sehr froh, wenn Sie sich einmal davon überzeugen wollten … Mittags finden Sie mich immer zu Hause … Und wenn Sie einmal bei mir speisen wollten!«
»O,« sagte er, sichtlich angenehm berührt.
Sie atmete erleichtert auf, die Klippe des eigenen Erzählens so glatt umschifft zu haben.
Er fragte auch nichts weiter. Aber ebensowenig schien er Lust zu haben, sich über seine eigenen Verhältnisse des näheren oder des weiteren auszulassen.
»Das Leben hat seine großen Schattenseiten,« sagte er, »und wer nun einmal auf der Schattenseite sitzt, der wird gut tun, zu erwägen, ob er davon viel Gerede machen soll oder nicht.«
»Aber einer alten Freundin, wie mir, könnten Sie sich doch anvertrauen,« rief Lilly. »Denken Sie, wir säßen hier auf unserem alten Beischlag in der Junkerstraße … Wissen Sie noch? … Damals, als wir zuerst miteinander sprachen, da war's auch so ein Maiabend wie heute.«
»Es war wärmer,« erwiderte er rasch und zog dabei den Kragen seiner Jacke über dem Halse zusammen.
»Sie frieren wohl?« fragte sie lachend, denn sie glühte über und über.
»Ich habe meinen Sommerüberzieher,« – er machte eine kleine Pause – »nicht mit.«
»Dann wollen wir doch lieber aufstehen,« sagte sie, nachdenklich werdend, »wir können uns ja eben so gut erzählen, wenn wir herumgehen.«
Und nun gingen sie herum – immer zu um die dunkle Kirche herum – aber mit dem Erzählen wurde es nichts … Der eine wich aus, und der andere wich aus, und wenn sie durchaus reden mußten, dann traktierten sie einander mit allgemeinen Redensarten.
Sie rühmte ihre glücklichen Verhältnisse, und er seufzte einmal über das andere: »Ja, es ist schwer! – Es ist sehr schwer.«
Gerade so wie er einst in Examennöten getan hatte. Ihr lag der Klang noch im Ohre, als wäre es gestern gewesen.
»Wie geht's den verehrten Ihren?« fragte sie, um auf ein anderes Thema zu kommen.
Sein Vater wäre vor zwei Jahren nach kurzem Krankenlager gestorben. Seine Mutter nähe Krawatten wie immer.
Dabei zupfte er etwas Unsichtbares unter dem hochstehenden Rockkragen zurecht. Wahrscheinlich saß dort noch immer ein bunt gesprenkeltes Zeugnis mütterlicher Kunst und mütterlicher Güte.
Dann – als sie ihr Beileid ausgesprochen hatte – wagte sie mit einem kleinen Herzpochen auch über Frau Asmussen und deren Töchter Erkundigungen einzuziehen.
Er ließ ein bedenkliches Schmatzen hören.
»Das ist eine höchst unerfreuliche Nachbarschaft. Die ältere der Töchter hat einen Zahlmeister geheiratet, der wahrscheinlich wegen Unregelmäßigkeiten demnächst wird abgehen müssen. Die jüngere führt ja wohl die Leihbibliothek, während die Mutter ganz den bösen Mächten des Trunkes verfallen ist.«
Das sagte er mit demselben innerlichen Verletztsein, mit dem er vorhin seine Kenntnis von Lillys Ehetrennung betont hatte.
»Er ist gewiß immer noch sehr sittenstrenge!« dachte sie und fühlte sich verwerflich und schuldbeladen.
Aber unglücklich war er, das stand fest.
Und arm. Sehr arm. So arm, wie sie wohl nie im Leben gewesen war. Wer konnte wissen, ob er nicht auch Hunger litt, während er in seinem dünnen, schäbigen Jäckchen fröstelnd neben ihr herschritt?
»Was meinen Sie, Herr Redlich?« sagte sie, »wenn Ihre Geschäfte es Ihnen erlauben, kommen Sie vielleicht schon morgen mittag zu mir.«
Seine Geschäfte erlaubten es ihm eigentlich nicht, er hätte leider auch nicht die mindeste Zeit, sich einen Gesellschaftsrock anzuziehen, aber wenn er in diesem Anzug kommen dürfte – –
»Sie dürfen, was Sie wollen,« rief sie lachend, »Sie bekommen sogar auch Mutters Kartoffelsuppe.«
Damit drückte sie ihm beide Hände und schlüpfte in einen Tramwagen.
O, war das ein Glück! War das ein Glück!
Nun hatte sie, wonach sie so lange auf der Suche gewesen war. Einen, für den sie sorgen, den sie pflegen und verwöhnen konnte. Einen, dem sie nicht bloß zum Schaustück oder Spielzeug diente, der sie brauchen konnte wie die Sonne, wie das Brot, der danach schmachtete, an leiser Hand zu Hoffnung und Freude zurückgeführt zu werden.
Einen für sich allein, für sich ganz allein!
Aus dem Grabe der Jugend war er emporgestiegen, gerade so, wie ihr Ahnen es ihr gemalt hatte.
Und reich sollte das Leben nun wieder werden – und vergnügt – und voller Geheimnisse! Kleiner, bunter und doch ganz unschuldiger Geheimnisse.
In dieser Nacht schlief sie wenig. Immer wieder jagte das neue Glück sie in weihnachtliches Wachen empor.
Die Dienstmagd, ein junges, dralles Ding vom Lande, das sich sehr rasch in die Großstadt hineinlebte, machte am nächsten Morgen große, erstaunte Augen, als sie ihre Herrin, die sie als ein wenig träge kannte, mit der Wachstuchtasche zu Markte gehen sah.
»Wir kriegen nämlich Tischbesuch,« erklärte ihr Lilly lachend.
Alles mußte sie selber einholen, das Fleisch, die Radieschen zum Nachtisch, und vor allem die Würstchen, die einst den Stolz der mütterlichen Kartoffelsuppe gebildet hatten.
Auch das Kochen besorgte sie heute.
Sie deckte selber den Tisch und hob die Palme aus dem Aquarium, damit wenigstens etwas Grünes dastünde, denn die Blumen hatte sie in ihrer großen Freude vergessen.
Es war der erste Mittagsgast, den sie seit zweieinhalb Jahren bei sich sah, und gleich ein so lieber – der liebste vielleicht, den das Leben ihr bescheren konnte.
Um halb eins meldete die Dienstmagd naserümpfend, es sei da draußen ein junger Mensch, der die gnädige Frau durchaus zu sprechen wünsche.
»Das ist er ja!« rief Lilly.
»Der sieht aber gar nicht so aus,« meinte das Dienstmädchen mit einer hochmütig ziehenden Stimme und schlenderte achselzuckend hinter der Herrin her, die ihm entgegenlief.
Anfangs war er so scheu, daß er gar nicht recht ins Helle wollte.
Er drückte sich um die Tür herum und zupfte an seinem Anzug. Der sah auch wirklich höchst abgerissen aus, weit mehr noch als gestern abend.
Die entzündeten Augen, die wie zwei rote Ritzchen hinter dem runden Kneifer hervorblinzelten, gaben ihm etwas Blödes, Tastendes, Hilfloses. Die kühne Denkerstirn hatte eine unangenehm zurückfliehende Linie bekommen, weil die Genielocke nicht mehr darüber fiel. Und die sieghaft blonde Mähne war in einen strohigen, filzigen Wirrwarr verwandelt, den schon lange kein Kamm durchfurcht zu haben schien.
Viel sprechen mochte er nicht …
Die Kartoffelsuppe aß er mit zitternder Andacht und ließ die schwimmenden Wurstbrocken übrig, bis der Teller ganz trocken war. Dann spießte er sie einzeln auf die Gabel und warf beim Zumundeführen argwöhnische Blicke nach rechts und nach links, als ob jemand da wäre, der sie ihm nicht gönnte.
Dem Braten sah er bereits mit größerer Fassung entgegen. Er häufte sich den Teller bis zum Rande voll, ohne im mindesten auf die bedienende Magd zu achten, die mit niederträchtigem Schmunzeln auf ihn niedersah.
Dazu trank er Richards guten Rotwein in langen, unvernünftigen Zügen, bekam rotfleckige Backen, lachte und fing an sich zu fühlen.
Lilly war anfangs ziemlich beklommen zu Mute gewesen, aber als sie ihn allmählich auftauen sah, kam die Hoffnung über sie, daß es doch am Ende gehen würde.
Dann plötzlich fiel ihr ein, daß sie diesmal eine echte und wahrhafte Menschenrettung zu vollführen habe, nicht bloß ein Spiel voll verliebten Selbstbetruges, wie es damals bei Walter der Fall gewesen war.
Und dieser Gedanke erfüllte sie wieder mit glückseliger Zuversicht.
Nach dem Essen waren sie in den Ecksalon hinübergegangen. Und da der ungewohnte Wein seine Seele mit herrenhafter Leichtigkeit erfüllte, so hatte er es sich sofort im Schaukelstuhl bequem gemacht und kitzelte den fauchenden Affen.
Während er sich mit ausgestreckten Beinen nach hinten hinüberneigte, waren die runzligen, schwarz durchstopften Hosenränder in die ausgeweiteten Hälse der Zugstiefel hineingerutscht, deren Gummizüge in Lappen herunterhingen.
Es war ein gräßlicher Anblick.
»So darf das nicht bleiben,« dachte Lilly und sann und sann, wie ihm am besten zu helfen wäre.
Er aber – weil seine Lebensgeister nun einmal in Aufruhr waren – fing an sein Innerstes herauszukehren und seine eigentliche Weltanschauung zum besten zu geben.
O, was da an Gift und Galle zum Vorschein kam!
So verbittert war er durch das lange Darben, durch das ewige neidvolle Emporstarren nach allem, was heiter, glückhaft und begnadet schien, daß kein Wert, keine Begabung, kein gedeihliches Streben vor ihm standhielt. Alles war hohl und korrupt und gleißnerisch in seinen Augen. Alles hing von Geburt und Klüngelei und gegenseitigem Vorwärtsschieben ab. An allem haftete der Erfolg nur als ein unauslöschlicher Makel.
Dabei berichtete er über seine eigentlichen Erlebnisse auch heute fast gar nichts. Nicht einmal, ob er noch Student war, vermochte sie zu erfahren. Nur daß er in stetem Lebenskampfe oft genug an seinem Innersten schweren Schaden genommen habe, bekannte er mit bittrem Ingrimm.
Und während er sprach und stoßhaft lachte, gruben sich die beiden kläglichen Spottfalten, an deren Ansätze sich Lilly von altersher dunkel erinnerte, wie zwei halbrunde Messerschnitte in seine abgehungerten Wangen.
»O du Armer, Armer!« dachte sie und schwor sich zu, ihn innerlich und äußerlich rasch wieder zum Menschen zu machen.
Aber als er gegangen war, blieb sie traurig und bedrückt.
»Schließlich – ergeht es mir besser?« dachte sie. »Denn wo ist meine Lebenszuversicht von einst? Wo ist mein Lebensjubel? Wo ist mein Hohes Lied? …«
An demselben Nachmittag, ehe Richard kam, ersann sie einen Plan, wie sie, ohne einerseits seine Kasse zu schädigen und anderseits Fritz Redlich herabzusetzen, dessen Neueinkleidung ermöglichen könnte.
»Denke dir bloß,« sagte sie nachher beim Tee. »Mir ist seit gestern zweierlei höchst Merkwürdiges passiert. – Etwas sehr Freudiges und etwas sehr Trauriges. Zuerst habe ich einen lieben Jugendfreund getroffen, der, bevor er zur Universität ging, mit mir auf einem Flur gewohnt hat … Und dann ist heute vormittag ein armer Student da gewesen, der etwas zu essen haben wollte und der sehr jämmerlich aussah. Hast du, falls er wiederkommt, etwas Garderobe für ihn übrig? Kleider und Stiefel und sonst was? Ich glaub' ihm fehlt alles.«
»Mit Vergnügen,« sagte Richard. »Ich weiß sowieso nicht, wo ich mit all' dem Zeugs hin soll.«
Aber der andere, der Jugendfreund, der stimmte ihn bedenklich: »Was ist denn das für 'ne Sorte von Mensch?«
In dem Bestreben, die beiden Fabelwesen, in welche sie die eine lebendige Wirklichkeit zerlegt hatte, möglichst scharf auseinander zu halten, begann sie »des anderen« Lob zu singen, weit volltönender, als es die Klugheit erlaubte. – Der sei ein reich begabter und ganz hervorragender junger Gelehrter, der eben seine Studienjahre absolviert habe und vor einer glänzenden Laufbahn stehe, ein Ausbund von Wissen und Geist und – weiß Gott! – wovon sonst noch.
Das wüßte sie selbst nicht. Etwas furchtbar Gelehrtes jedenfalls. Und er werde sicherlich die akademische Laufbahn einschlagen. Denn alles andere lohne sich nicht für ihn.
Mit all' dem Schwindeln hatte sie sich in einen solchen Wirbel hineingeredet, daß sie schließlich selber nicht wußte, was sie da sagte.
Richard aber, der in dem Bewußtsein seiner geistigen Kümmerlichkeit vor jeder überragenden Intelligenz einen Heidenrespekt hatte, bekam einen roten Kopf und sah beunruhigt und verdrossen aus.
»Da wird er dich natürlich auch besuchen wollen?« fragte er.
»Natürlich wird er das,« erwiderte sie, froh, es ihm auf diese glatte Art und Weise beigebracht zu haben.
»Gratuliere zum Seelenfreund,« sagte er mit einem höhnischen Bückling und fügte lachend hinzu: »Vorausgesetzt, daß ich ihm nicht zu begegnen brauche.«
Besser konnte es nicht kommen.
Am nächsten Morgen brachte ein Diener des Geschäfts ein großes Bündel, das Herr Dehnicke ihr schickte. Darin lag ein noch fast neuer, rötlich karrierter Sommeranzug von modernstem Schnitte, nebst bunten Battisthemden, einem Paar Chevreaustiefel und blauem, seidenglänzendem Unterzeug.
Es schien, als habe er ihr seine Großmut in einer besonders schlagenden Weise vor Augen führen wollen, denn Verschwendung gegenüber Armen war sonst seine Sache nicht.
Nun galt es aber einen Weg zu ersinnen, um die Kleider in Fritz Redlichs Hände zu spielen, ohne daß er sie gekränkt zurückwies.
Als er drei Tage später wiederkam, nahm sie Veranlassung, nach dem Essen mit ihm einen Rundgang durch sämtliche Räume zu machen, denn er müsse sich doch ansehen, wie sie eigentlich hause.
So kamen sie unversehens in eine Rumpelkammer, wo unter ausrangierten Blusen, zerschlagenen Vasen, welken Blumen und dergleichen Krimskrams auch der bewußte Anzug hing.
»Den habe ich mit den anderen Herrensachen zusammen aus Versehen mitgenommen,« erklärte sie, »als ich das Haus des Generals verließ. Das hängt nun so da und verkommt.«
Seine kleinen, kranken Augen wurden blank und gierig.
Ob er vielleicht irgend eine Verwendung dafür habe?
»Nicht daß ich wüßte,« meinte er wegwerfend, konnte sich aber nicht enthalten, dabei einen Blick auf seine Hosen hinunterzuwerfen.
Ob er vielleicht jemand begegnet wäre, dem damit ein kleiner Gefallen geschähe.
Auch hierauf konnte er sich nicht besinnen.
Trotz ihrer Angst ihm wehe zu tun, faßte sie sich ein Herz und sagte geradezu, sie glaube sich nicht zu irren, daß hier eine merkwürdige Ähnlichkeit der Figuren vorläge – höchstens etwas weiter um die Taille sei der General gewesen – und falls er einen kleinen Schneider damit betrauen wolle – –
Da wurde er aber ernstlich böse. Er sei nicht einer, der sich so ohne weiteres Wohltaten erweisen lasse. So niedrig dürfe ihn niemand taxieren. Er sei ein Mann von Grundsätzen, und abgelegte Kleider zu tragen, von Leuten, die ihn nicht das mindeste angingen, das würden ihm seine Grundsätze niemals erlauben.
Seufzend ließ sie von ihrem Vorhaben ab.
Dann aber konnte er das Weggehen nicht finden. Er saß und saß, – und schließlich mußte sie ihn selber an den Aufbruch mahnen, denn Richard konnte jeden Augenblick eintreten.
In der Tür zum Treppenhause drehte er sich noch einmal um und fragte stotternd, ob er das nächste Mal vielleicht lieber Abends kommen dürfe.
»Sie haben wohl Mittags keine Zeit mehr?« fragte sie betroffen zurück. Sie mochte um Richards willen zu später Stunde keine Fremden bei sich sehen.
Nein, das wäre es nicht. Was die Zeit beträfe, da – da – er druckste und druckste, und sie lauschte ängstlich die Treppe hinab.
»Was ist es denn sonst?«
»Ich möchte nämlich die Sache noch einmal reiflich erwägen und – und – –«
»Nun und?«
»Und in der Dunkelheit – da – könnte ich dann – den Packen vielleicht – selber gleich mitnehmen.«
Damit rannte er von dannen.
»So muß er seinen Stolz hinunterwürgen, der arme Kerl!« sagte sie, hinter ihm herschauend.
An demselben Abend sandte sie alles zusammen in einem Postpaket an ihn ab und fügte unter vielen Entschuldigungen auch einen Zwanzigmarkschein hinzu – erstens zu einem Hute, und zweitens, damit ihm der Schneider keine Schwierigkeiten mache.
Als er etliche Tage später zum Mittagessen wiederkam, hätte man ihn kaum erkannt, so gepflegt und blitzblank sah er aus. Der Anzug saß wie angewachsen, und in die Stiefeletten, die etwas zu lang waren, hatte er Wattebäusche hineingestopft, damit die Spitzen nicht in die Höhe wippten.
Selbst das Mädchen warf ihm schon freundlichere Blicke zu.
Schade war's, daß er sich von Bart und Struwwelmähne nicht trennen wollte. Man hätte sich sonst beinahe schon auf der Straße mit ihm sehen lassen können. Seine Wangen hatten sich gerundet. Selbst seine Augen waren besser geworden, dank der Hilfe des Arztes, zu dem sie ihn fast mit Gewalt hingeschleppt hatte.
Auch seine Manieren glätteten sich allmählich. Er schlang nicht mehr und stocherte nicht mehr mit den Fingern zwischen den Zähnen; sogar das Rotweintrinken lernte er.
Ebenso wie in Äußerlichkeiten begann auch in seinem Innenleben das friedliche Behagen des gastfreien Hauses sich wiederzuspiegeln. Er schimpfte mit Auswahl, und das Verbrechen, glücklich zu sein, erschien ihm bisweilen verzeihenswert.
Einen entzückenden Takt entfaltete er darin, daß er niemals nach Lillys Verhältnissen forschte. Und sie wußte ihm Dank dafür.
Wiewohl sie aus Erkenntlichkeit vermied, ihn nach seinem eigenen Tun und Treiben zu fragen, so vermochte sie doch eines Tages sich aus gelegentlichen Andeutungen und Selbstanklagen ein Bild seines verunglückten Studienganges zusammenzusetzen.
Ein paar von der Vaterstadt ausgeschriebenen Stipendien zuliebe hatte er nach zwei jämmerlichen Hungerjahren den Lehrerberuf an den Nagel gehängt und war mit bewußter Preisgabe seiner Überzeugungen zum Theologiestudium übergegangen.
»Also doch!« dachte Lilly erschüttert, sich der rotsonnigen Morgenstunde erinnernd, da aus den grünen Tiefen des Tales die Sonntagsglocken zu ihnen emporgegrüßt hatten.
Aber auch diese höchste Opfertat schien ihm für die Dauer keinen Segen gebracht zu haben, denn seit einem Jahr ernährte er sich von zeitweiligem Adressenschreiben und anderen dunklen Gewerben, über deren Art er sich nicht näher ausließ.
»Aber meine Menschenwürde habe ich darum doch immer hoch gehalten,« sagte er, »und bin ich auch arm und verachtet, so weiß ich doch, was ich von mir zu halten habe. Ja, das weiß ich.«
Dabei ging er finster und feurig im Zimmer auf und nieder. Und wenn er die Brust herausstemmte und sich mit den gespreizten fünf Fingern durch die zerzauste Mähne fuhr, sah er beinahe wieder jenem jungen Helden ähnlich, der einst Lillys schwärmende Phantasie mit Bildern unermeßlichen Ehrgeizes erfüllt hatte.
Um ihre Arbeit zu vollenden, um ihn ganz zum Glück zurückzuführen, forschte sie nach, was er in seinem Herzen vom Schicksal für sich begehrte.
Fort wollte er. Fort von Berlin! Wieder als Mensch wollte er sich fühlen, der seine Pflicht tut, der weiß, wo er hingehört und dem es vergönnt ist, in reiner Luft zu atmen.
Lilly seufzte.
»Ach, so was Schönes möchten wir alle,« dachte sie.
Eine Hauslehrerstelle müßte es sein, irgendwo auf dem Lande, am liebsten in einem Pfarrhause, denn dann könnte man gleichzeitig die Bibliothek benutzen.
»Und ringsum werden die Linden blühen,« dachte Lilly, »und das Korn wird im Winde Wellen schlagen, und das Vieh wird zur Tränke ziehen.«
Beinahe hätte sie vor Neid zu weinen begonnen.
Von diesem Tage an arbeitete sie fleißig, um ihrem Jugendfreunde den Wunsch seines Herzens zu erfüllen, gab ihm das Geld, um Anzeigen in die Kreuzzeitung zu setzen, schrieb selber Meldebriefe aller Art und bat die Gefährten des kleinen Kreises, sich für ihn zu bemühen.
Das alles mußte sie ganz heimlich tun, damit Richards Aufmerksamkeit nicht darauf gelenkt würde. Denn sie hatte ohnehin in letzter Zeit viel von ihm auszustehen.
Er fand, daß sie ihm nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit schenke, er schalt sie lieblos und kaltschnäuzig und witterte hinter jedem ihrer Worte fremde und feindselige Einflüsse.
»Das hat wohl dein geistreicher Freund gesagt.« »Da mußt du den glänzenden Gelehrten fragen.« So ging es ohne Ende.
Und eines Tages platzte die Bombe.
Trotz seines Versprechens, sich, wenn Fremde da waren, vorher anmelden zu lassen, trat er unversehens ins Zimmer, gerade als Lilly ihrem Jugendfreunde gegenüber am Mittagstische saß.
Er hatte nicht geklingelt, hatte kaum einmal angeklopft, und auf seiner Stirne standen die Rächerfalten.
Sie fuhr erblassend in die Höhe.
Als sähe er sich auf bösen Wegen ertappt, war auch Fritz Redlich aufgesprungen. Linkisch und verdutzt stand er da, während der Zipfel seiner Serviette aus dem Knopfloch langsam in den Suppenteller glitt.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen, nur das schadenfrohe Kichern der Dienstmagd war durch die halbgeöffnete Tür zu hören.
»Ich bitte um Vergebung, gnädigste Frau,« sagte Richard, immer noch mit demselben Drohen in Haltung und Miene. »Ich wollte nur eben mal sehen, wie's Ihnen eigentlich geht.«
»Herr Richard Dehnicke – ein guter Bekannter –, Herr Kandidat Redlich, mein Jugendfreund,« stellte sie vor.
Nun faßte er den gefürchteten Nebenbuhler näher ins Auge – besah erstaunt und mißbilligend den noch immer wuchernden Bart und die filzige Mähne – sein Blick glitt niederwärts – und verklärte sich … Ein freudig verblüfftes Wiedererkennen malte sich in seinen Zügen: War das nicht sein Anzug und sein Oberhemde?
Sein Blick wanderte weiter hinab, unaufhaltsam über die im Suppenteller liegende Serviette hinweg, an den Hosen entlang.
Waren das nicht seine Hosen? Waren das nicht seine abgelegten Stiefel, die der geistreiche und glänzende junge Gelehrte an den Füßen trug?
»Ach so,« sagte er. »So ist das.« – Weiter nichts.
Dann wandte er sich mit einem Schmunzeln niederträchtigen Hohnes zu Lilly zurück, die sich vor Scham kaum aufrecht halten konnte.
»Darf ich die gnädige Frau vielleicht einen Augenblick allein sprechen?«
»Verzeihung, Herr Redlich,« sagte sie und öffnete verwirrt und aus alter Gewohnheit die Tür des – Schlafzimmers, als wäre das der vorgeschriebene Ort, wo man als einzelne Dame seine guten Bekannten zu empfangen pflegt. Und Richard, der ebensosehr wie sie an diesen Weg gewöhnt war, folgte ihr, ohne sich der geschehenen Bloßstellung bewußt zu werden.
»Hör mal,« sagte er, als er die Tür geschlossen hatte; »ich bin Esel genug gewesen, auf deinen sogenannten Seelenfreund eifersüchtig zu sein. Aber nachdem ich das heute erlebt habe, schwör' ich dir zu: Deine Freunde können fortan kommen und gehen, Morgens und Abends, zu allen Zeiten, ganz wie's dir beliebt. Und alte Anzüge werd' ich auch immer für sie übrig haben. Mahlzeit … Bist du ein Schaf!«
Damit ging er in den Korridor hinaus. Sie hörte ihn noch lachen, als schon die Flurtür dröhnend hinter ihm zuschlug.
So sehr schämte sie sich, daß sie nicht wußte, woher den Mut nehmen, um je wieder ihrem Jugendfreunde vor Augen zu treten, ihm, der so sittenstrenge war, daß schon die Erwähnung ihrer Ehegeschichte ihn damals hatte schmerzhaft zusammenzucken lassen.
Dazu kam ihr gar noch zum Bewußtsein, daß sie im Schlafzimmer stand.
Nun war auch das Letzte offenbar: die ganze Schande ihrer Existenz. Alles. Alles.
Mochte er noch so weltunkundig sein, die Rolle, die dieser plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Eindringling in ihrem Hause spielte, mußte er durchschauen.
Lange zögerte sie, die Klinke in der Hand, und horchte, was er tat. Sie fürchtete seinen Schritt, sein Räuspern, – selbst sein Schweigen verhieß Unheil genug.
Zitternd, bereit ihm unter Tränen alles zu gestehen, trat sie endlich ins Eßzimmer zurück.
Aber siehe da! er saß ruhig wartend auf seinem alten Platz und rieb an den Flecken, die die durchnäßte Serviette auf der Weste zurückgelassen hatte. Der blaue Kneifer lag neben ihm. Freundlich und unbefangen blinzelte er ihr zu.
»Ist der fremde Herr schon weg?« fragte er harmlos.
Nicht einmal das Knallen der Tür schien er gehört zu haben.
Und da gerade der Braten kam, fuhr er mit gutem Appetit zu essen fort, ohne dem Zwischenfall eine weitere Erwähnung zu schenken.
Wahrhaftig –, so rein war sein Gemüt, daß er das Unreine selbst dann nicht sah, wenn es an ihm emporschlug!
O, wie dankbar sie ihm dafür war!
Und um ihm diese Dankbarkeit zu zeigen, sollte er fortan auch Abends kommen, – Richard hatte es ja erlaubt – ohne ihre Einladung zu erwarten, selbst dann, wenn sie nicht zu Hause war.
Das Dienstmädchen sollte ihm dann ein Abendessen zurechtstellen und dafür Sorge tragen, daß es ihm an nichts, aber auch an gar nichts fehle. Und eingedenk der Grimassen, die sie ihm anfangs geschnitten hatte, ermahnte sie sie noch besonders, ja recht freundlich gegen ihn zu sein, damit er sich allzeit wie zu Hause fühle.
Die dralle Kleine zog die Mundwinkel herab und sagte gar nichts.
Von nun an war Lilly mit verdoppeltem Eifer für ihn tätig.
Und wieder fand sie in Frau Jula eine Helferin.
»Lassen Sie mich nur machen,« sagte sie eines Tages. »Ich kenne von früher her da oben« – sie zögerte ein wenig – »jemanden, der ist sehr mächtig, der vertritt den lieben Gott in mehr als einem Pastorenhaus. Wenn ich dem schreibe … Bloß natürlich, ich muß ganz aus dem Spiel bleiben. Mein Name wirkt dort oben noch immer wie das rote Tuch.«
Am nächsten Tage schickte ihr Lilly eine der Annoncen, die Fritz Redlich in der Zeitung veröffentlicht hatte. Die sollte sie dem gewissen Jemand mitschicken und auf diese Weise das Eintreten einer Mittelsperson überflüssig machen. Auch ihr selbst war es lieber, wenn er seine künftige Existenz den eigenen Bemühungen zu verdanken glaubte.
Und siehe da! Frau Jula hatte Erfolg.
Als er in der folgenden Woche eines Abends unversehens bei Lilly eintrat – er machte das jetzt öfters so, gleichviel ob sie zu Hause war oder nicht –, da wußte er mit Genugtuung zu erzählen, seine Annoncen hätten so überzeugend gewirkt, daß er sofort aus einem hinterpommerschen Pfarrhause die Einladung bekommen habe, seine Papiere einzusenden und sich für alle Fälle zur baldigen Abreise bereit zu halten. Man schiene geradezu erpicht auf ihn.
Lillys Herz pochte in freudigem Stolze. Um nichts in der Welt hätte sie verraten, daß ihre eigene Hand dahinter steckte.
War doch sein Glück nun ganz ihr Werk! Und darum er selbst ihr Eigentum, mehr als sonst irgend einer auf der Welt!
Während der Mahlzeit herrschte ein gehobenes und glückliches Schweigen. Da er unangemeldet gekommen war, gab es heute die Kartoffelsuppe nicht, die sonst als Vorspeise niemals fehlte.
Sie entschuldigte sich und setzte mit einem kleinen Herzweh hinzu: »Sie werden ja nun sowieso nicht oft mehr bei mir essen.«
»Das kann schon sein,« sagte er und sah verlegen nach der Dienstmagd hin, deren Anwesenheit ihn augenscheinlich störte. Sonst hätte er für sein Gefühl wohl einen innigeren Ausdruck gefunden.
Nach dem Essen siedelten sie in den Ecksalon über.
Ein heißer Juliwind wehte durch die geöffneten Fenster, aber der kleine, nackte Affe, dessen Käfig neben dem Aquarium stand, fror selbst jetzt und mußte in seine Decke gehüllt werden, was er sich fauchend gefallen ließ.
Der Zeisig sang sein Abendliedchen, und die Dämmerung kam.
Fritz Redlich saß wie gewöhnlich im Schaukelstuhl, wo er sich nach der Mahlzeit gerne wiegte. Sie ging mit erregten Schritten im Zimmer auf und nieder.
»Nun werd' ich bald wieder einsam sein,« dachte sie, »und kann mich 'rumtreiben wie vorher.«
Aber ein Glück war es doch! O, welch ein Glück! Und das sagte sie ihm auch zum so und so vielten Male.
»Ja, es ist wirklich ein großes Glück, das ich mir hiermit erkämpft habe,« erwiderte er, die letzten Worte nachdrücklich betonend. »Wenn ich bedenke, was das für schreckliche Jahre gewesen sind. Wie oft ich meinen Charakter habe verleugnen müssen. Wie oft meine Grundsätze in Gefahr gewesen sind … Und nicht bloß das,« fügte er nach einem wehmütigen Schweigen hinzu. »Denn wenn man die zweifelhaften und unreinen Verhältnisse bedenkt, in die das Leben einen geworfen hat, dann ist es wahrlich kein Wunder, wenn man von dem darin herrschenden Geiste angesteckt wird und mancherlei tut, was man lieber unterlassen sollte. Ja, meine liebe gnädige Frau, es ist schwer. Sehr schwer ist es.«
»Ach, sagen Sie doch nicht immer ›gnädige Frau‹,« rief sie. »Sagen Sie ›Frau Lilly‹, sagen Sie einfach ›Lilly‹, wie es sich unter Jugendfreunden geziemt.«
»Wenn Sie es wünschen, tu' ich es gern,« erwiderte er.
In ihr war heute eine Zärtlichkeit für ihn, wie sie sie seit jenen Jugendtagen nicht mehr empfunden hatte. Und doch wieder anders: mütterlich, schwesterlich … Nein, eigentlich auch das nicht. Es war von allem etwas und noch ein anderes, das wie ein ferner Lichtschein zögernd näher und näher kam.
»Sagen Sie mir eins, Herr Fritz,« forschte sie, vor ihm stehen bleibend. »Haben Sie je in Ihrem Leben geliebt?«
Er zuckte betroffen zusammen.
»Geliebt? Wie meinen Sie das?«
»Nun – wie soll – ich das wohl meinen?« lachte sie, mit dem Daumennagel an dem Rohr des Schaukelstuhles kratzend.
Es war, als ob er erleichtert aufatmete.
»Was man wirklich lieben nennt, dazu hab' ich wohl noch nie Zeit und Sinn gehabt.«
»Und sind auch nie von einem Weibe geliebt worden?«
»Seh' ich wohl so aus?« fragte er achselzuckend zurück, »als ob man mich lieben könnte?«
Diese bittere Mutlosigkeit ärgerte sie.
»Na, na,« machte sie, ihm in tröstender Neckerei mit dem Finger drohend.
Und wieder schrak er zusammen. Es war, als ob der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit ihn in Angst jagte.
Der arme Mensch! Nie haben Mädchenaugen glühend die seinen gesucht, nie hat ein Frauenarm sich wonnig um seinen Hals geschlungen. Das Höchste, das einzige, um dessentwillen allein das Leben sich lohnt – für Mann wie für Weib –, hat er entbehren müssen.
Ein Geständnis brannte ihr auf den Lippen, ein Geständnis aus alter, längst verklungener Zeit, das ihn darüber aufklärte, wie sehr er im Unrecht war.
Aber sie schluckte es wieder hinunter.
Heute nicht. Später. Beim Abschiede vielleicht …
Die Dunkelheit sank herab, und der Laternenschein spielte auf Decke und Wänden. Der Affe hatte sich in seiner Decke zu einem Knäuel zusammengeballt, und auch der kleine Zeisig schlief.
Sie schritt noch immer auf und nieder, leise seinen Ellenbogen streifend, wenn sie an dem schaukelnden Stuhle vorüberkam.
Dann blieb sie aufs neue vor ihm stehen.
Da saß er, den sie einst so heiß geliebt hatte, und ahnte nichts davon. Ahnte nichts davon, was Frauenliebe schenken kann.
Der arme, arme Mensch!
»Den Wuschelkopf müssen Sie sich wirklich schneiden lassen,« sagte sie beklommen lachend, »dann werden Sie auch bei den Weibern mehr Glück haben.«
Und schwer, als hänge eine Zentnerlast daran, hob sie die linke Hand und legte sie auf sein krauses, hartes Haar, das wie ein Polster unter dem leichten Drucke zusammensank.
Er stutzte – hörte jählings mit Schaukeln auf – sah sich unruhig nach beiden Seiten um und hüstelte.
»Ja, ja,« sagte er nach einem kleinen Schweigen, »das ist ein kluger Rat. Wenn ich in meiner neuen Stellung einen angenehmen Eindruck machen will – –«
Und zugleich drehte er sich mit einer kleinen Wendung nach dem Fenster hin, so daß ihre Hand von selber an seinem Nacken hinunterglitt.
Sie verschluckte einen Seufzer, und schnell stand er auf, sich zu verabschieden.
So verlegen war sie, daß sie ihn nicht einmal zum Längerbleiben zu nötigen wagte.
Im Korridor stand schon die Magd mit der Lampe, um ihn hinunterzugeleiten. –
»Auf übermorgen also!« rief Lilly ihm noch vom Fenster aus nach.
Er grüßte dankend herauf und verschwand im Dunkel.
Der arme, arme Mensch! In Gram und Kleinmut versunken, schritt er dahin und ahnte nicht, was für Paradiese ringsum blühten.
Den Rest des Abends blieb sie ängstlich und verwirrt.
»Ich hätte ihm die Hand lieber nicht auf den Kopf legen sollen,« dachte sie.
Und dennoch freute sie sich, daß sie es getan hatte.
Am nächsten Vormittag kam eine Rohrpostkarte von Frau Jula. Sie hatte Nachricht von dahinten – die Sache war perfekt. Ihr Schützling solle sofort drüben eintreffen. Selbst das Reisegeld sei ihm bereits geschickt worden.
Lilly weinte Freudentränen.
Nun war ihr Werk vollendet. Der Jugendfreund gerettet und dem Leben zurückgewonnen. Das mußte dann ein übriges tun und ihn auch noch das Lachen lehren und den stolzen Freimut und alles, was von Rechts wegen zu ihm gehörte und was sie selbst nie mehr erreichen konnte.
Aus ihr mochte werden, was dem Schicksal gefiel, wenn er nur wieder aufwärts ging. Er war ja ein Stück ihres Lebens geworden. – Mit Sorge und Arbeit, mit Lüge und Angst hatte sie ihn sich zu eigen gemacht.
Und wenn er kam – morgen abend, wie's abgemacht war, dann würde sie ihm das alles sagen.
Auch das von der Jugendliebe – alles.
Und noch einmal – vor dem Abschiednehmen – würde sie ihm die Hand auf seinen Wuschelkopf legen. Dann mochte kommen, was da wollte …
Am nächsten Abend kleidete sie sich sorgfältiger an, als sie sonst pflegte, wenn sie Abends mit ihm allein war. Die Kartoffelsuppe hatte sie ihm selbst gekocht und das Beefsteak – jetzt aß er schon lange nicht mehr so große Portionen – selbst zurechtgeschnitten. Die Magd brauchte es dann nur noch in die Pfanne zu tun.
Die Uhr schlug acht, doch er kam nicht.
»Er wird mit dem Packen zu tun haben,« tröstete sie sich.
Die Uhr schlug neun, und er war noch immer nicht da.
Die Uhr schlug zehn – und nun war nichts mehr zu hoffen.
Es hätte denn sein müssen, daß er unten vor dem geschlossenen Haustor in die Hände klatschte, wie Richard es bisweilen tat.
Hinunterschauend lehnte sie im offenen Fenster, bis die Uhr elf schlug.
Dann ging sie müde und traurig zu Bette. – –
Am nächsten Morgen erhielt sie folgenden Brief:
»Sehr geehrte gnädige Frau!
Nachdem es mir aus eigener Kraft gelungen ist, mir eine neue Existenz zu gründen, betrachte ich es als meine Pflicht, mit dem bisherigen Leben abzuschließen, das mich, wie ich ja bisweilen andeutete, nur zu oft gezwungen hat, mich in Verhältnisse zu fügen, die meinen Grundsätzen durchaus widerstrebten und meine Charakterfestigkeit in Versuchungen brachten, aus denen sie, wie ich aufrichtig bekennen will, nicht immer unversehrt hervorgegangen ist.
Ich weiß sehr wohl, daß ich Ihnen, sehr geehrte gnädige Frau, großen Dank schuldig bin, den ich hiermit in geziemender Weise ausspreche. Denn des Mangels an Erkenntlichkeit soll mich niemand bezichtigen dürfen.
Das bare Geld, das ich, durch die Verhältnisse gezwungen, im Laufe der Zeit von Ihnen annehmen mußte, habe ich genau notiert. Dasselbe wie auch den Anzug, welchen ich trage, werde ich zurückerstatten, sobald mein Gehalt mir die Möglichkeit dazu gegeben haben wird. Dem demütigenden Begegnen aber mit dem Herrn, dem diese Kleidungstücke offenbar gehört haben, hätten Sie mich nicht aussetzen dürfen, wenn Sie mich wahrhaft achteten.
Im Anschluß hieran darf ich Ihnen folgende Bemerkung nicht ersparen: ›Bessern Sie Ihr Leben, gnädige Frau, welches allen Geboten der Moral ins Gesicht schlägt.‹ Und ich glaube mit diesen Worten mehr als ein echter und rechter Freund an Ihnen gehandelt zu haben, als wenn ich mich noch länger für dumm hätte halten lassen.
Hiermit verbleibe ich
Ihr stets dankbarer
Fritz Redlich
cand. phil. et theol.«
Lange und schwer hatte Lilly an diesem Erlebnis zu tragen.
Erst als nach etlichen Monaten die Magd ihr den Dienst kündigte, weil das abendliche Alleinsein mit dem sittenstrengen Kandidaten nicht ohne Folgen geblieben war, vermochte sie es über sich, ihm auch einige heitere Seiten abzugewinnen.