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XIV

An Berlin fuhr man vorbei, weil der Oberst angesichts seiner nicht standesgemäßen Heirat den Begegnungen mit seinen vielen militärischen Freunden aus dem Wege zu gehen wünschte. Hierauf dauerte es bis Dresden nur noch drei Stunden.

Bei Sendig quartierte man sich ein.

Die Hotelverwaltung hatte ein übriges getan, um den Neuvermählten ein vornehm behagliches Heim auszugestalten. Salon, Schlaf- und Toilettenzimmer, – mehr brauchte man nicht; denn die Enge des Beieinanderwohnens mußte der äußerlichen Vertrautheit bald auch die innere hinzugesellen.

Und in der Tat! Der Herr Oberst durfte mit seinen Flitterwochen zufrieden sein.

Er, dem im Laufe seines langen Liebeslebens wohl Hunderte auf dem Schoß gesessen hatten, der sie alle aus- und inwendig zu kennen glaubte, die Herben und die Süßen, die Keuschen und die Durchtriebenen, die Sensitiven und die Dreisten, die Innerlichen und die Glänzenden, – die, deren Hand in scheuer Liebkosung gerade nur den Unterarm zu streifen wagt, und die, die in Raserei beißend und saugend an Männerlippen hängen, – er, der alte Weiberfreund, dem von Rechts wegen nichts Weibliches fremd sein durfte, stand ungläubig staunend vor diesem lieblichen Wunder.

Soviel Hingebung und soviel Stolz, soviel Zartheit und soviel Glut, soviel raschfassende Klarheit und arglosen Kindersinn in demselben träumerisch lachenden Madonnenkopf vereint, hatte sein wohlgepflegtes Rouétum ihm nie zu bieten vermocht.

Am meisten rührte und verblüffte ihn ihre Anspruchslosigkeit.

Wenn man nach der Karte zu Abend speiste, konnte er sicher sein, daß sie mit unbeirrbarem Blick die allerbilligsten Speisen für sich auswählte, und der Ausdruck des Wunsches, manchmal Orangelimonade trinken zu dürfen, kam an zögernder Scham einem Liebesgeständnis gleich.

Eines Tages, als sie, vom Großen Garten heimkehrend, durch allerhand Gassen schlenderten, war Lilly, die sonst um keinen Preis vor Schaufenstern stehen bleiben mochte, von einem arg bescheidenen Grünkramkeller nicht wegzubringen gewesen. Und als er, neugierig geworden, nach dem Grunde forschte, da kam's allmählich heraus: sie äße für ihr Leben gern Sonnenblumenkerne, – und ob er ihr sehr böse wäre, wenn sie ihn bäte, welche zu kaufen.

Je mehr er sie mit Geschenken überhäufte, desto weniger schien sie fassen zu können, daß man um ihretwillen Geld ausgäbe.

Auch war ihr infolge des langen Darbens jede Fähigkeit, die Höhe einer Ausgabe zu schätzen, abhanden gekommen. Was er ihr in die Tasche steckte, drückte sie ohne Zögern dem ersten, besten Bettler in die Hand. Die fünfzig Pfennige aber, die er dem Blumenmädchen für eine Rose gab, bereiteten ihr Gewissensbisse.

Einmal, als sie wieder eine der Unglaublichkeiten vollführte, die ihn sonst mit feinschmeckerischem Entzücken erfüllten, fragte er, von plötzlichem Mißtrauen gepackt: »Sag' mal, kleines Mädchen, spielst du vielleicht Theater?«

Aber sie verstand ihn nicht einmal. Und mit den großen, traurigen Unschuldsaugen, die sie in solchen Fällen zu machen pflegte, erwiderte sie: »Ach, wo denkst du hin! Seit Papa fort ist, habe ich ja nicht einmal Theater spielen sehen

An demselben Tage bestellte er eine Proszeniumsloge, und sie tanzte mit den blauen Zetteln wie eine Besessene in den Zimmern herum.

Aber ihr Glück wurde gedämpft durch die gebieterische Weisung, große Toilette zu machen. Daß man, um sich an Shakespeares »Wintermärchen« zu erbauen, Hals und Schultern nackt tragen müsse, war ihr unverständlich. Zudem pflegte sie scheu, wie um ein Nesselbeet, um die funkelnden Festgewänder herumzuschleichen, die er in Gebelaune und ohne eigentlichen Zweck für sie hatte machen lassen. Denn sie in Gesellschaft einzuführen, verbot sich bis auf weiteres von selbst.

Als sie steif vor Befangenheit, mit starren, strengen Augen und dennoch glühend vom Fieber des Ausgeputztseins vor ihn trat, die zartgewölbte Brust in einem Nest von weißen Spitzen halb versteckt, die märchenschöne Perlenkette um den spielenden Vogelhals geschlungen – noch höher, noch biegsamer scheinbar, noch mehr eine werdende Venus als sonst, da packte den alten Räuber der Rausch über seine Beute, und beinahe wäre der Flitterstaat in den Schrank und das Päcklein der Billets in den Papierkorb gewandert, aber sie flehte so inständig, daß er seine Wallung hinunterwürgte und mit ihr in den Wagen stieg.

Und er, der geglaubt hatte, über die banale Eitelkeit des Prunkens vor Fremden längst hinaus zu sein, erlebte einen Triumph, der ihm, dem alt gewordenen Junggesellen, eine neue, unerwartete Sensation bot und den er halb höhnisch und halb geschmeichelt, doch bald wie etwas Selbstverständliches einheimste.

Von Lillys Eintritt an hatte das ganze Haus nur Augen für sie. Das vornehm-schöne, seltsame Paar, dessen Zusammengehörigkeit allein schon Rätsel aufgab, beschäftigte aller Phantasie, und sobald nach dem ersten Akte der Flammenkranz an der Decke sich wieder entzündet hatte, begann das Raunen und Fragen, das Aufblitzen der Gläser von neuem.

Lilly, die nie in einer Loge gesessen hatte, wollte im ersten Augenblick verwirrt und ängstlich zurückzucken, aber da sie längst schon an blinden Gehorsam gewöhnt war, nahm sie ohne Widerrede den Platz ein, den er ihr wies. Dann, als sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt sah, überfiel sie das übliche Erstarren. Ihr war zu Mute, als rege sich, als lächle und spreche statt ihrer eine andere, die mit ihrer eigenen Person nur in ganz zufälligem Zusammenhange stand.

Erst, als der Saal sich verdunkelte und der Vorhang in die Höhe ging, kam das Erwachen. Atemlos in Jubel und Entsetzen, ließ sie sich in die Lande des Dichters tragen.

Von nun an saßen zwei Lillys an ihrem Platze – die eine, die in seliger Selbstvergessenheit auf den siebenfarbigen Schwingen ihrer Kinderphantasie durch Himmel und Höllen dahinflog, die andere, die als aufgezogene Puppe abgezirkelte Gesten machte und, während sie unbewußt die Formen der Wohlerzogenheit nachahmte, ein seltsam heißes, quälend-süßes Gefühl in sich emporkriechen fühlte: den Rausch der Eitlen. –

Als man heimgekommen war, hatte der Oberst an seinem Triumphe noch nicht genug. Er ließ das Abendessen nicht wie sonst auf dem Zimmer servieren, sondern ging, Lilly am Arm, in den Speisesaal, wo Zigeuner fidelten und hinter rotumschirmten Kerzen elegante Leute aller Art ihr Pfauenrad schlugen.

Hier wiederholte sich das Spiel, – nur daß Lilly, durch den Traumzauber der Geigen verführt, ihre Blödigkeit fallen ließ und leise sich streckend, mit glühenden Backen und schwimmenden Augen, ein wenig mitzuspielen wagte.

Drüben – zwei Tische weiter – saß ein blonder, junger Mann, mit weißer Hemdenbrust und schwarzer Krawatte, wie die anderen alle. Der starrte sie mit heißer Beharrlichkeit, als sei sie ein fremdes Wundertier, wohl minutenlang an.

Sie wand sich unter diesem Blicke, der streichelte und weh tat, der fremde, wilde Worte redete und im Grunde nichts anderes war als jener Geigenton, dessen Widerhall fiebrig zitternd in den Gliedern auf und nieder fuhr.

Da – drehte ihr Gatte sich plötzlich zur Seite, überraschte den Anbeter mitten in seiner Sünden Blüte und bohrte ihn mit einem seiner Dolchblicke so ganz in Grund und Boden, daß er alsbald verschwand.

Aber auch dem Oberst schien die Laune ein wenig verdorben.

Er sagte: »Es ist Zeit« und führte sie hinauf.

Jetzt, als er sie wieder ganz für sich allein hatte, brach die Freude an seinem Besitz von neuem hervor und steigerte sich zu einer Art von Siegeswut.

An dem Triumphe ihres Festgewandes mochten andere sich weiden, die holde Herbheit ihrer kindlich-ungeprägten Züge war für die Schaustellung da unten gut genug … Fort mit der Perlenkette! Hinunter mit den Spitzen!

Hüllenlos wollte er sie haben, – wollte das Geheimnis ihres stolz erblühenden Leibes gierigen Auges in sich trinken, – sein hungriges Alter sättigen an den längst verbotenen Zaubern fremder, gestohlener Jugend.

Und sie, wehrlos, willenlos, tat, wie sie schon oft getan hatte: Sie ließ sich in immer neu brennender Scham den letzten Schleier von den Gliedern reißen, sie warf sich auf den Teppich und erhob sich wieder, – sie tanzte, sie stellte Posen als Adorantin, als Schutzflehende, als Mänade, als Kannenträgerin, als zwischen den Fingern Hindurchlachende – alles, was er wollte.

Doch heute war noch ein Neues hinzugekommen, das wie ein Gifttropfen in ihrem Blute brannte: ein zagendes Begehren, das eigentlich ein Abscheu war – eine Liebe, die sich an ihn klammerte in dankbarem Gebenwollen und ganz insgeheim nach etwas anderem verlangte – nach dem Schluchzen von Geigen und dem Rauschen von Feuersbrünsten, nach einem Sternenhimmel von purpurnen Schirmchen und der todessüßen Sehnsucht, die in Hermione lebt.

Dann, als er des Treibens satt war – und er wurde bald satt, das brachten seine Jahre mit sich – hieß er sie das silberdurchwirkte Florhemd anziehen, das er ihr schon in den ersten Tagen des Dresdener Aufenthaltes geschenkt hatte und in dem sie vor dem Schlafengehen immer noch eine Weile um ihn herumspielen mußte. Und obwohl die Metallfäden eine Eiskälte ausströmten und mit ihren Enden in die Haut stachen wie Nadeln, so hatte sie sich doch bald daran gewöhnt, denn sein Wille war ihr Gesetz. Dann steckte er sich im Bett noch eine Zigarre an, ließ sie auf dem Rande niedersitzen und erzählte ihr lachend zotige Witze.

Das nannte er: sein Kind in den Schlaf singen.

Von diesem Tage an fand der Oberst Gefallen daran, die Mahlzeiten unten im Speisesaal einzunehmen. Er wünschte den stachelnden Genuß, sein junges Weib bewundernd und begehrlich angestarrt zu sehen, noch weiter auszukosten. Der Wert seines Besitzes schien sich ihm in demselben Maße zu erhöhen, in dem er selbst darum belächelt und beneidet wurde.

Und Lilly konnte die trunkenen Empfindungen jenes Abends immer von neuem in sich erwachen sehen. Sie durfte unter gesenkten Lidern die schweigende Flamme hoffnungsloser Wünsche aus so vielen jungen, heißen Augenpaaren rings um sich brennen fühlen und durfte, von dem Wehruf der Geigen, von dem Hymnus des Zymbals getragen, in die dunklen, seligen Weiten entfliehen, zu denen der Weg ihr – sie wußte nicht, wodurch? – seit dem Kommen des großen Glücks verschlossen war.

Aber nie hatte sie sich einfallen lassen, einen der Blicke, die sich zu ihr drängten, nur für die Dauer eines Augenaufschlags zu erwidern. Jene jungen Herren blieben ihr Statisten, die sie brauchte wie die Lichter und die Töne, wie die Blumen, die die weißen Tische schmückten, wie den Zigarettenrauch, der rings in kleinen, blauen Säulen zur Decke zog.

Und doch geschah es eines Tages, als sie am Arm ihres Gatten durch die Pragerstraße wanderte, daß ein solcher Blick sie ins Herz traf.

Er kam aus einem dunklen Augenpaar, das freundlich forschend schon von weitem auf sie gerichtet war und plötzlich wie in einem Blitz des Erkennens zu fremdem, traurigem Feuer aufloderte.

Ihr war zu Mute, als müsse sie dem Weiterschreitenden nacheilen und ihn fragen: »Wer bist du? … gehörst du zu mir? … willst du, daß ich zu dir gehöre?«

Und da beging sie die Unvorsichtigkeit, sich nach ihm umzudrehen.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde! –

Aber ihr Gatte hatte es doch bemerkt, denn als sie sich wieder zurückwandte, sah sie sein Auge in Mißtrauen lauernd auf sich ruhen.

Und hierauf nickte er ein paarmal vor sich hin, als wolle er sagen: »Aha, soweit sind wir schon.«

Den ganzen Tag über blieb er in sich gekehrt und übler Laune.

Für Lilly aber war jenes Begegnen nur das erste einer endlosen Reihe gewesen. Jenen einen freilich sah sie nie mehr, so oft sie auch nach ihm ausspähte. Doch an seine Stelle traten unzählige andere.

Von nun an waren die des Wegs daherkommenden nicht mehr wesenlose Wandelbilder, durch die man hindurchschaute, als wären sie nicht da. Wenn jetzt eine schlanke Gestalt voll Jugend in Umriß und Haltung vor ihr auftauchte, dann fragte sie wartend: »Wie wird er aussehen? Wird er mich ansehen?« Und fand er Gefallen vor ihr, war sein Blick nicht frech und doch voll Staunen oder Sehnsucht, dann fühlte sie oft einen Stich im Herzen, der ihr sagte: »Zu dem paßt du weit besser als zu dem alten Mann, an dessen Arm du gehst.«

Und jedesmal fühlte sie sich traurig werden.

Aber traurig wurde sie ebenso, wenn einer, der ihren Beifall fand, sie übersah. Dann dachte sie: »Dem bin ich nicht gut genug. Der verschmäht mich. Warum verschmäht er mich?«

Auch im Speisesaal, auf der Brühlschen Terrasse und an anderen eleganten Orten, wo ein Kreuzfeuer verstohlener Blicke herüber und hinüber schießt, begann ihr Benehmen gegen die Umwelt sich allgemach zu ändern.

Sie quittierte für den ihr gespendeten Weihrauch vorsichtig durch einen kleinen, dankbaren Augenaufschlag; sie sah den sie musternden Damen ohne Scheu ins Gesicht. Und obgleich sie eine Sehkraft hatte wie ein Falke, hätte sie gern eine Lorgnette besessen; sie wagte nur nicht, etwas davon verlauten zu lassen.

Oft quälte sie die Begier, ihren Blick in den jenes Mannes einzutauchen, dessen Auge sie auf sich ruhen fühlte, – ohne Zurückhaltung, ohne Angst, ohne Anstand, genau wie er. Es wäre das eine mystische Vereinigung der Seelen gewesen und hätte ihr unendlich wohl getan. Denn darüber hegte sie nun keinen Zweifel mehr: sie hungerte, hungerte – wie sie ihr Lebtag nicht gehungert hatte.

Der Oberst schien von allem, was in ihr vorging, nicht das mindeste zu bemerken. Aber zwischen ihm und allen denen, deren Blicke sie belagerten, herrschte erbitterter Kampf. Das Auge des alten Ulanen war allzeit auf der Spähe. Und wo einer seine Glut oder seine Wehmut allzu beharrlich entfaltete, da stach sein Blick ihn nieder.

Aber es ereignete sich auch, daß dieser oder jener von seinem Drohen keine Notiz nahm, oder gar die Kühnheit besaß, stirnrunzelnd zu erwidern, was er ihm antat. Dann begann er unruhig zu werden, spielte mit seiner Visitenkartentasche, wollte etwas schreiben, steckte den Bleistift wieder ein und endete meistens damit, daß er sagte: »Es scheint, wir sind in schlechte Gesellschaft geraten, wir wollen gehen.«

Trotz dieser unbequemen Erfahrungen gewann er es nicht mehr über sich, mit seinem jungen Weibe in der Stille der Zweisamkeit dahinzuleben. Er, der von Jugend auf an buntscheckige Geselligkeit gewöhnt gewesen war, brauchte rings um sich Lärm und Lachen und Lichter. – Aber sein Argwohn verstärkte sich und nahm schließlich auch Lilly aufs Korn.

Eines Tages verbot er ihr den morgendlichen Kirchgang, an dem sie mit Inbrunst hing.

Was sie nach dem ersten Erwachen an seiner Seite, einem zufälligen Impulse folgend, getan hatte, war ihr allmählich Gewohnheit geworden. Während er seinen unerwecklichen Schlummer weiter schlief, kleidete sie sich leise an und glitt in die Morgenfrische hinaus.

Die Kirche diente als Vorwand.

Meistens netzte sie sich gerade nur mit Weihwasser und tat ihre drei Knixe. Bisweilen schlüpfte sie sogar an dem Portal vorbei und machte sich nicht einmal ein Gewissen daraus.

Denn vor ihr lag eine Stunde goldener, zaum- und herrenloser Freiheit, die einzige, die der Lauf des Tages ihr brachte.

Zuerst eilte sie auf die Augustusbrücke, bot die Brust den Winden, die zu allen Zeiten darüber hinstreichen, und ließ die Wasser tief unter sich vorüberziehen. Dann ging sie an den Ufern entlang, im Sturmschritt meistens, um soviel als möglich an Bildern und Geschehnissen einzuheimsen, bevor sie in das eheliche Heim zurückkroch.

Und alles gewann Bedeutung, was diese Stunde ihr bot.

Der Frührotnebel, der über den Hügeln lagerte und in goldenen Streifen zum Strom hinunterstieg – der Singsang des Glockenspiels von der Altstadt her – das erste schüchterne Sprossen in dem von jungem Saft schon rötlichen Gezweig – das Hasten der Marktkarren – das Sausen und Sprühen der schwankenden Drähte, wenn der Bügel eines Tramwagens darunter hinfegte – alles war Erlebnis, alles war Glück.

Auch vor den Schaufenstern wagte sie jetzt, da ein Beschenktwerden ihr nicht drohte, staunend und lernend stehen zu bleiben und schnappte begierig nach jedem Brocken Kunst. –

Das alles sollte fortan zu Ende sein!

Klirrend schlug die Pforte zu, durch die sie für eine einzige Stunde dem duftenden, von Gier und Nichtstun überheizten Gefängnis ihres Lebens entflohen war.

Aber so weich, so bildsam war sie geartet, daß sie nicht einmal in ihrem tiefsten Innern darüber murrte.

Er wollte es so – das war ihr genug.

Und soviel Liebe lag brach in ihrer Seele und schrie nach Betätigung, daß sie ihm in dieser Zeit der inneren Kämpfe das doppelte Maß an Zärtlichkeit gab und geben mußte, gleichviel, ob sie wollte oder nicht, gleichviel, ob ihr Gedanke bei ihm weilte oder auf heimlichen Traumwegen dahinglitt.

Sie war ihm Sklavin, Spielzeug, Publikum; – sie kleidete ihn an – sie bewunderte seine Schönheit – sie salbte ihm den Hüftknochen – sie band ihm das Hasenfell zurecht, das er zum Schutz gegen seine Ischias um die Lende gebunden trug – sie brachte ihm das Natronpulver, wenn er zu viel gegessen hatte – sie wusch seinen ergrauenden Kopf mit einem Haarwasser, dessen streng süßer Geruch ihr Übelkeit verursachte, und sie waltete als Gehilfin und Kunstrichterin, wenn er sich seinen Schnurrbart färbte.

Und tat das alles mit der gleichen, eifervollen Hingabe, mit derselben harmlosen Zuversichtlichkeit, als ob sie in seiner Pflege Zweck und Endziel ihres Lebens gefunden hätte.

Dabei fehlte es nicht, daß er sich in ihren Augen aller Dämonie und aller Gottähnlichkeit entkleidete und daß nichts weiter von ihm übrig blieb als ein zwar ritterlich gearteter, doch launischer, eitler, bei aller Denkkraft geistig träger, bei allem Feingefühl brutaler, bei allem Liebeshunger längst erschlaffter Halbgreis.

Nicht, daß sie sich jemals über diese seine Eigenschaften klar geworden wäre.

Sie würde ihn dann vielleicht gehaßt und verachtet haben – denn sie war nicht reif genug und konnte unmöglich wissen, daß der Hexenkessel des Weltlebens dergleichen aus den meisten Männerseelen zurecht braut, wenn mit den Haaren zugleich die großen Gefühle erbleichen und kein Altar da ist, zu dem man sich rettet, indem man sich opfert.

Aber das Bild, das ihre Phantasie sich von ihm zurecht gemacht hatte, verschob und verfärbte sich Tag für Tag, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite hin, bis zu dem ängstlichen Respekt sich ein kleines Mitleid gesellte, bis zu der Kindlichkeit eine gewisse Mütterlichkeit hinzuwuchs, die widersinnig gewesen wäre, wenn sie ihren Grund nicht in der unbeirrbaren Herzensgüte gehabt hätte, die jede Schwäche des andern zu einem Grunde für eigene Sorge umzustempeln weiß.

Ach, wenn sie nur nicht so hätte hungern müssen!

Hungern, angesichts einer festlich geschmückten Tafel, die jeden Tag aufs neue mit erlesenen Genüssen überreich bedeckt war.

Mit gierigen Augen las sie allmorgendlich die Zettel, die in der Vorhalle des Hotels von den dargebotenen Freuden des Abends zu erzählen wußten. Aber der Oberst pflegte sie rasch hinwegzudrängen. In seiner kleinen Garnison hatte er sich längst jeder Kunst entfremdet. Die Organe, sie aufzunehmen und auszukosten, waren ihm abhanden gekommen, und ärgerlich scheute er vor der geistigen Arbeit zurück, die sie ihm zumutete.

Alles, woran er Gefallen fand, das überlustige Treiben der Singspielhallen, der Farbenschrei bengalisch beleuchteter Apotheosen, der Jahrmarkt physischer Menschenkraft, war Lilly nach der Stillung der ersten Neugier alsbald ein Greuel geworden.

Zu Shakespeare und Wagner aber brachten ihn, wie er erklärte, keine zehn Pferde mehr. Und nun gar, wohin Lillys tiefgeheimste Sehnsucht drängte: in den Konzertsaal!

Eines Tages fand sie die C-Mollsymphonie, mit der aus Kindheitszeiten tausend Fäden sie verbanden, auf den Zetteln angekündigt. Sie schwieg, wie sich's gehörte, aber als sie oben war, warf sie sich aufs Bett und weinte bitterlich. Er forschte, sie gestand. Da brachte er mit gelangweiltem Lachen das Opfer und führte sie hin.

Seit dem letzten Klavierabend ihres Vaters war sie in keinem Konzert mehr gewesen.

Als sie eintrat, zitterte sie und sog, ihre Tränen verbeißend, die Luft durch die Nase ein.

»Du schnüffelst ja wie ein Pferd, das Hafer riecht,« scherzte der Oberst.

»Findest du nicht, daß in allen Konzertsälen die gleiche Luft ist?« fragte sie in freudiger Bewegung. »In dem unseren zu Hause roch es gerade so.«

Aber er besann sich nicht. – Auch auf die C-Mollsymphonie besann er sich nicht.

»Das sind so 'ne Chosen,« sagte er …

Was voranging, war ihr gleichgültig; sie wollte nur erst wieder den Schicksalsruf hören, der sie einst – an der Schwelle der Jungfräulichkeit – mit ahnungsvollem Schauder erfüllt hatte.

Und er kam und dröhnte an die Herzen und ließ die Kniee aller derer erbeben, die als Gefährten und Mitkämpfer – in gleicher Furcht und gleicher Wurmesohnmacht – unter den Streichen des Schicksals sich winden.

Aber ihr Gatte summte vergnügt: »ti ti ti – tom, ti ti ti – tom,« denn das war das einzige, was er begriffen hatte.

Und als sie sich leise zur Seite wandte, um ihn, wenn möglich, zur Ruhe zu mahnen, gewahrte sie, daß in seiner Ohrmuschel ein großer Busch gelb-grauer Haare wucherte. Das hatte sie bisher noch nie bemerkt, und sie ekelte sich davor.

»Ja, wenn er Haare in den Ohren hat,« dachte sie, als ob das der Grund seiner Musiktaubheit gewesen wäre. Und eine tiefe Mutlosigkeit kam über sie. Nie mehr würde sie sich des Schönen freuen, nie mehr zu ringender Heldengröße anbetende Arme emporrecken, nie mehr am Quell der Begeisterung den Durst nach einem höheren, reineren Leben stillen!

Zwischen all dem und ihr stand dieser Mann, der »ti ti ti – tom« sang und dem die Haare aus den Ohren wuchsen.

Die weiche Tröstung der Violinen verhallte ungehört, das wehmütige Sichbescheiden des Andante fand keinen Widerhall in ihrer Seele, und das sieghafte Jauchzen des Finale – ihr brachte es keinen Sieg.

Gequält, erniedrigt, mit sich selbst zerfallen, verließ sie an der Seite ihres gähnenden Mannes den Saal.

Aber zu kernhaft war ihre Lebensenergie, zu hell ihr Glaube an das Sonnenhafte des Menschendaseins, als daß sie solche Stimmungen nicht überwunden hätte.

Zudem ereignete sich in diesen Tagen etwas, das ihrem Wesen neue Flügel gab und sie mit der Trunkenheit verwegener Hoffnungen berauschte.

Ohne daß von Plänen für die nächste Zukunft viel die Rede gewesen war, stand es fest, daß man bis Anfang Mai in Dresden oder vielleicht noch einer anderen großen Stadt verweilen und von dann ab auf Schloß Lischnitz wohnen würde, auf dem wie immer während der Abwesenheit des Hausherrn das oft genannte Fräulein von Schwertfeger die Zügel führte …

Der Oberst, der im Verkehr mit seiner jungen Frau zwischen Vertrauen und Argwohn ewig hin und her schwankte, war eines Abends von neuen Zweifeln gepackt worden, und um ihr durch etwaige Fabeln hindurch bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen, begann er zu forschen, ob, wie oft und wen sie in ihrem Vorleben schon geliebt habe.

Arglos wie immer kramte Lilly ihre paar Erlebnisse aus.

Zuerst erzählte sie von Fritz Redlich, – weil dieses die größere Liebe gewesen – und dann kam der arme schwindsüchtige Hilfslehrer an die Reihe.

Ihr Gatte, dessen Urteil trotz aller schweigenden Eifersüchteleien klar genug geblieben war, um die ahnungslose Reinheit ihres Gewissens zu würdigen, ließ seinen Verdacht zum Teufel fahren und lachte, wie er sonst nur über seine Zoten lachen konnte.

Lilly aber wünschte ihn gerührt zu sehen, und sich an ihren eigenen Worten berauschend, schilderte sie die Kunstgeschichtsstunden und die Italiensehnsucht, die der arme Todgeweihte aus der eigenen Sehnsucht heraus in ihrem Herzen angefacht hatte.

Ihre Backen brannten, ihr Auge entglitt unter die schwelgerisch gesenkten Lider; sie träumte, phantasierte und achtete seiner kaum.

Da fragte er plötzlich: »Wie wär's, möchtest du mal hin?«

Sie antwortete gar nicht. Es wäre zu viel des Glückes gewesen.

Und er begann ernstlich zu erwägen: Statt daß man hier hockte und sich mit allem möglichen Pack herumärgerte, konnte man sich ebensogut auf die Bahn setzen und in einer knappen Tagestour nach Verona oder Mailand hinunterspritzen.

Sie sprang ihm an den Hals. Sie warf sich ihm zu Füßen. Es war zu viel des Glückes.

Von nun an wurde ihr Leben etwas durchaus Unwirkliches, ein immerwährender Wechsel von Ekstasen und Angstzuständen, denn es konnte ja immer noch etwas dazwischen kommen.

Zuerst mußte er sich einen Kniehosenanzug machen lassen, wie alle vornehmen Touristen ihn trugen. Dann gab es noch ein Dutzend anderer Hindernisse.

Die Wahrheit mochte wohl sein, daß er sich zu schwerfällig geworden fühlte, um mit ihrer Genuß- und Glücksfähigkeit gleichen Schritt halten zu können.

Da kam ein Zwischenfall, der die Abreise beschleunigte.

Seit einigen Tagen schon fand man sich von einem fahlblonden, sechs Fuß hohen, stiernackigen jungen Manne verfolgt, der mit stupider Hartnäckigkeit Lillys Interesse auf sich zu lenken suchte.

Seinem Aussehen nach war er ein reisender Angelsachse. Seine Manieren zeigten eine gewisse gleichmütige Großartigkeit, und die Drohblicke des Obersten prallten, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, von ihm ab.

Zum erstenmal sah Lilly ihren Gatten in dauernde Bedenklichkeit geraten. Er schritt im Zimmer auf und nieder und murmelte einmal über das andere: »Ich werde ihn ohrfeigen müssen,« und dann wieder: »Ich werde mich nach einem dritten Mann umsehen müssen.«

Und als der Lästige an einem der nächsten Tage über den Schloßplatz hinweg in zehn Schritt Entfernung hinter ihnen hertrottete, drehte er sich kurz um und stellte ihn.

Der blonde Hüne maß ihn von oben bis unten und nahm nicht einmal die Stummelpfeife aus dem Munde.

»Ech känn anseihn, uaen ech uill and ech känn auch geihn, uau ech uill!« erklärte er.

Dabei wiegte er sich, die Ärmel seines Überziehers ein wenig zurückstreifend, in eine höchst bedenkliche Boxerstellung hinein, die angesichts der drohenden Holzerei jede Lust zu ritterlicher Züchtigung im Keim erstickte.

Der Oberst machte einen letzten Versuch, den Handel auf ehrenhafte Weise zum Austrag zu bringen, indem er dem Gegner seine Visitenkarte überreichte. Aber da der sie mit einem freundlichen » Thank you, Sir« in die Tasche steckte, ohne von der zwingenden Bedeutung dieser Formensprache scheinbar die leiseste Ahnung zu haben, ließ sich nichts weiter tun, als ihm den Rücken zu drehen, zumal Vorübergehende sich anzusammeln begannen.

Der Erfolg dieses Rencontres war kein anderer, als daß der Engländer sich auch noch das Recht anmaßte, Lilly und deren Gatten mit seinem Gruße zu beehren. Und der Oberst, der das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, in einer Flut von Schimpfreden zu ersticken suchte, bestimmte selber die Abreise.

In München, wo man – es war gegen Mitte April – für einige Tage Station machte, um dem Hofbräuhaus Besuch und Huldigung darzubringen, ereignete sich nichts Besonderes.

Aber der Oberst war nervös geworden. Er musterte harmlose Bewunderer mit herausfordernder Kampfbereitschaft und begann Lilly mit Vorwürfen zu überhäufen. Es scheine, daß jedermann auf den ersten Blick sehe, daß sie keine Dame sei, denn sonst würde so viel undelikate Aufmerksamkeit sich nicht an sie heranwagen.

Sie, die sich sonst bitter gegrämt haben würde, hörte nur mit zerstreutem Lächeln zu. Ihre Seele lebte längst nicht mehr auf deutschem Boden. Ihr Atem trank schon die Luft des geliebten Landes, auf dessen Schwelle sie zu stehen glaubte.

Noch eine Nachtfahrt – ein kurzer Tag in Bozen, und dann tat es seine Tore auf.

Nun konnte nichts mehr dazwischen kommen.


Es war in einem Abteil des Schnellzuges, der spät abends München verließ, um in finsterer Morgenfrühe den Brenner zu überschreiten. Lilly und ihr Gatte hatten die Fensterplätze inne. Neben ihm, auf der Korridorseite, hatte ein junger Mann mit lächelndem Gruße Platz genommen und sich sodann, ohne die Reisegefährten zu beachten, in ein Buch vertieft, das, wie es schien, in italienischer Sprache geschrieben war.

Ein Italiener also. Ein Sendbote des Paradieses, der sich hinzu gesellt hatte, um sie willkommen zu heißen. – Das sicherte ihm ihr Interesse.

Unter gesenkten Wimpern, scheinbar schlafend, musterte sie ihn.

Er hatte ein streng geschnittenes, hochmütiges Gesicht von einer eigentümlichen, milchig gelben Farbe. Ohne Falten und Schattierungen, glatt, wie mit einer Paste überstrichen.

Ein kleines, dunkles Bärtchen, leicht gekräuselt, saß auf der Oberlippe, und die Haare an den Schläfen waren so kurz geschnitten, daß die Haut darunter hervorleuchtete.

Gern hätte sie auch das Auge gesehen, aber das blieb hartnäckig auf das Buch gesenkt, in dem er gleichwohl nur zu blättern schien.

Was sie am meisten wunderte, war das eigentümlich Runde, Weichliche in allen seinen Bewegungen. Es schien beinahe, als ob eine verkleidete, junge Frau in dem schwarz-weiß gewürfelten Anzug stecke, der ihr mit einem Schimmer unerhörter Vornehmheit ins Auge fiel. Am Halse kam ein violett und dunkelrot karriertes Seidenhemd zum Vorschein, in dessen weichen Kragen eine grüne Krawatte nachlässig geknotet war.

Dies alles, wie befremdlich es auch aussah, paßte so wunderbar zusammen und schien mit so viel Sorgfalt und Raffinement gewählt, daß Lilly ganz unbehaglich dabei zu Mute wurde. Fast konnte man glauben, daß dieser junge Fremde durch Miene und Haltung und Kleidung und vor allem durch die offenbare Nichtbeachtung ihrer Person sich ihr mit Gewalt aufzwingen wollte.

Es war lächerlich, aber sie hatte Angst vor ihm.

Als an der österreichischen Grenze die Zollbeamten das Coupé betraten, sprach er ein paar leise, fremd klingende Worte, die gleichwohl verstanden wurden, denn die Beamten wandten sich mit tiefen Bücklingen von ihm ab.

Dabei erhob er auch das Auge, ließ es umherwandern, und während der Oberst seine Tasche öffnete, ruhte es für eine Sekunde gleichsam zufällig auch auf ihr.

Was das für ein seltsames Auge war!

Ein schwarzer Diamantglanz stach daraus hervor, und dennoch liebkoste es, liebkoste mit einer bösen, sicheren Zärtlichkeit, die ungeduldige Fragen tat – Fragen, vor denen man erröten mußte.

Im nächsten Moment war nichts gewesen. Er neigte sich über sein Buch wie vordem und schien sie gar nicht bemerkt zu haben.

Ihr Gatte aber musterte sie mit einer wachsamen Listigkeit, als fände er in ihrem Gesichte etwas, das er schon lange darin gesucht hatte.

Dann, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, wünschte er zu schlafen. Er wählte, besserer Bequemlichkeit wegen, den leer gebliebenen Platz der Korridorseite, so daß der Fremde, um ihm nicht gegenüber zu sitzen, unwillkürlich weiter nach der Mitte hin rücken mußte, wodurch die Entfernung zwischen ihm und Lilly sich wesentlich verringerte. Noch ein Weniges mehr, und er hätte ihr gegenüber gesessen.

Wäre ihr irgend ein Hintergedanke gekommen, so würde sie dem Schlafe ihres Mannes eine größere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Doch all ihr Sinnen richtete sich auf den Wunsch, dem Fremden zu entweichen, dessen Nähe sie mit tausend Nadeln stach.

Sie drückte sich in ihre Ecke und sah krampfhaft zum Fenster hinaus, auf dessen nachtschwarzem Hintergrunde das erleuchtete Innere des Wagens sich wie in einem Spiegel wiederfand.

So konnte sie ihn in Ruhe betrachten, ohne doch bei einem gelegentlichen Aufblicken von ihm ertappt zu werden.

Das Licht der Deckenlampe fiel grell auf seine glatte, weiche Wange, deren gleichmäßiger Schimmer nach der Schläfe hin in bläuliche Dunkelheiten überging, eine Wange zum Anschmiegen und Streicheln wie geschaffen, über die mit leiser Hand hinzugleiten eine seltene Wonne sein mußte.

Und was für lange, schwarze Wimpern er hatte, längere als sie selbst! Ihre Schatten malten dunkle Halbkreise, die bis zu den fein gezeichneten Nasenflügeln hinunterreichten.

Und plötzlich hob er den Blick und sah sie an.

Da war er wieder – der schwarze, liebkosende Glanz – kalt, und doch wie verführerisch!

Sie erschrak und erschrak noch mehr bei dem Gedanken, daß er ihr Erschrecken bemerkt haben könnte.

Er lächelte ein ganz klein wenig und las dann weiter.

Und immer mehr umspann sie ihn mit angstvollen und schmeichelnden Gedanken. Gedanken, die Verbrechen in sich bargen und doch nur wie ein Alp auf sie herniederfielen, ohne daß sie sich hätte wehren können.

Da plötzlich – ein eisiger Strom fuhr ihr zum Herzen – fühlte sie einen leisen, zärtlichen Druck auf ihrem linken Fuß, den sie bei irgend einer unwillkürlichen Bewegung wieder nach der Mitte hingeschoben haben mußte, denn kurz vorher hatte er sich fest an den anderen gelehnt – und der berührte bereits die Fensterwand.

Was tun?

Ein rügendes »Pardon«, ein erzürntes Emporzucken hätte den Oberst geweckt, dann hätte es neuen Argwohn, vielleicht gar einen Zusammenstoß gegeben, – darum zog sie langsam mit unendlicher Vorsicht ihren Fuß von dem seinen zurück und preßte ihn gleichfalls, als wüßte sie ihn gerettet, gegen die gepolsterte Wand.

Aber die wenigen Sekunden des Zögerns – das fühlte sie – hatten sie zur Mitschuldigen gemacht, und dieses Bewußtsein lastete auf ihr mit qualvollerem Drucke als die Gedankensünde, von der sie sich vorhin hatte treiben lassen.

Entehrt, besudelt erschien sie sich, wehrlos jedem Wegelagerer preisgegeben.

Doch warum ihn schelten? Was er frech begehrt hatte, war es nicht die Erfüllung des eigenen unreinen Wunsches gewesen?

Sie glaubte ersticken zu müssen an diesem Gedanken, sie wollte aufspringen, schreien, um Vergebung bitten, – der Fremde aber las ruhig weiter, als ob nicht das mindeste geschehen wäre. – – –

Als sie aus halbwachem Betäubungsschlummer emporfuhr, schimmerte grauer Tag durch die Fenster. Ein weißschaumiges Wildwasser stürzte sich in die Tiefe. Dahinter türmten grünliche Felsklötze ihre gigantischen Massen zum Himmel. Ein Bild, wie sie es sonst nur im Traume gesehen hatte, selbstverständlich in seiner Größe, von allerlösender Kraft.

Was sie vor dem Einschlafen erlebt hatte, war nur eine fratzenhafte Phantasie gewesen und hatte jede Daseinskraft verloren.

Behutsam kehrte sie sich nach dem Innern des Wagens.

In wüstem Schlafe ausgestreckt lag der Fremde, pustete mit aufgequollenen Backen und sah fahl und weibisch aus. Ihr ekelte vor ihm.

Doch als sie sich noch mehr zur Seite wandte, sah sie plötzlich das Auge ihres Mannes weit geöffnet, mit starrem, strafendem Glanze auf sich ruhen.

Sie fuhr zusammen, wie auf frischer Tat betroffen.

»Schläfst du nicht mehr?« fragte sie mit beklommenem Lächeln.

»Ich habe überhaupt nicht geschlafen,« erwiderte er.

Es lag etwas im Ton seiner Stimme, das sie von neuem erbeben machte, eine Anklage, ein Richterspruch zugleich.

Und wie er sie ansah! –

Wortlos fuhr man weiter. – Den Fremden beachtete sie nicht mehr.

Als man in Bozen Quartier genommen hatte, trat der Oberst in Lillys Zimmer und sagte: »Mein liebes Kind, ich habe dir eine Eröffnung zu machen. Ich bin der Inkonvenienzen müde, die sich Tag für Tag um uns herum ereignen … Wie weit dein Aussehen und dein Benehmen daran schuld sind, wie weit ich selbst als ein gealterter Mann dazu verführe, will ich unerörtert lassen … Einen Vorwurf wegen grober Pflicht- oder Geschmacksverletzung habe ich dir übrigens nicht zu machen … Ich kann auch die selbstverständlichen Reserven der großen Dame nicht von jemand verlangen, der bis vor drei Monaten hinter dem Ladentisch gestanden hat … Um dich dergleichen zu lehren, dazu gehört Zeit … und das ist ein Geschäft, das ich meinem Fräulein von Schwertfeger wohl ruhig überlassen kann … Fürs erste haben wir genug und werden mit dem Mittagzuge nach Deutschland zurückkehren … Übermorgen abend – vielleicht schon übermorgen früh – können wir auf dem Gute sein.«

Lilly grämte sich nicht einmal – so gedemütigt und so zerschlagen war sie.

Und das Land ihrer Träume versank. –


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