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Jetzt folgte eine köstliche Zeit. Ein Spiel des Suchens und Sichfindens – ein Schöpfen aus dem nie sich leerenden Born von Erwartung und Vorgenuß, von Nachfreude und Erinnerungsschwelgerei … Jeder Tag brachte neues Glück und neuen Reichtum.
Manchmal, wenn Lilly die Läden aufstieß und die rote Septemberfrühe ihr entgegendrang, war ihr, als habe der liebe Gott über den Himmel einen Mantel von Sonnengold gebreitet, um ihn und sie darin einzuhüllen, so eng, so dicht, daß die ganze Welt dahinter verschwand und nur sie beide übrig blieben, lachend aneinander gedrückt und trunken von all dem Licht.
Sie fühlte, daß sie schöner wurde von Tag zu Tag und daß eine Art von Leuchten um sie war, so daß alle, die ihr entgegenkamen, mit einem Lächeln der Überraschung und des Wohlgefallens zu ihr emporschauten, worin auch etwas Wehmut sich mischte, wie immer, wenn wir ein Menschen- oder Blumenwesen zu stolz, zu glücklich sich entfalten sehen, als daß sein Blütenwunder Bestand haben könnte.
Auch die »beiden Hochmögenden« hielten die Augen nicht geschlossen.
Der Oberst, der mit allen Hunden gehetzt war und hinter allen Türen gesteckt hatte, fand in seinem Erfahrungsschatze für diese Art von Wirkung keine Formel.
Hätte sie schwermutsvoll vor sich hingeträumt, wäre sie scheu und befangen um ihn herumgeschlichen, hätte sie zwischen Inbrunst und Fremdsein hin und her geschwankt, so hätte sein Argwohn alsbald zu spähen und zu tasten begonnen. Aber aus ihrer schmiegsamen, glückerfüllten Zärtlichkeit etwas anderes herauszulesen als ein gesteigertes seelisches Wohlsein, war ihm nicht gegeben.
So ließ er sich die arglose Heiterkeit, die sein junges, schönes Weib um sich verbreitete, schmunzelnd gefallen und heimste die Liebkosungen, in denen ihre rauschhafte Spannung sich ausströmen mußte, mit väterlicher Ruhe ein.
Anna von Schwertfeger nahm nicht minder wohlwollend an Lillys innerem Glücke teil. Ebensowenig wie der Oberst, schien sie Verdacht zu hegen, daß der Einfluß eines Dritten mit hineinspielte, denn sonst hätte sie dem häufigeren Zusammensein der beiden jungen Leute wohl kaum mit nachsichtiger Begönnerung zugesehen.
Was Lilly in jüngster Zeit ein wenig befremdete, war eine gewisse unruhige Leidenschaftlichkeit, mit der die gute Anna sie im täglichen Verkehr überströmte. Anfangs hatte sie sich davor geängstigt, aber, übervoll an Liebe, wie sie war, versuchte sie schließlich, was ihr gebracht wurde, mit warmer Neigung zu erwidern.
Abends zog die Schwertfeger sie oft in das Zimmer hinein, in dem sie zu ebener Erde zwischen ihren Rechnungsbüchern hauste. Ein richtiges Altjungfernheim mit Vogelbauern und Blumentöpfen, mit verblichenen Familienbildern und allerhand porzellanenem und vergoldetem Krimskrams, wie er in alten und verarmten Häusern sich als Rest verwehten Glanzes weiter erbt.
Oder sie kam zu unwahrscheinlich später Stunde in Lillys Schlafzimmer geschlichen, setzte sich zu ihr ans Bett und rührte sich nicht früher, als bis der Wagen des heimkehrenden Obersten sich hören ließ.
Dann gab es tiefsinnige Unterhaltungen über Leben und Sterben, über Alterseinsamkeit und Jugendüberfülle, über das Maß, das Gott jedem Menschen gesetzt hat, und das Unglück, darüber hinaus zu wollen … Sie forschte nie, sie warnte nie, und doch lag in ihrer umherspringenden Art, in der Achtlosigkeit, mit der sie oft das Gegenteil von dem aussprach, was sie vor kurzem geäußert hatte, Grund genug anzunehmen, daß sie eigentlich an ganz, ganz andere Dinge dachte.
Oft, während ihre Rede eintönig dahinplätscherte, sah Lilly aufschauend mit Staunen, daß ihr Auge in trauriger, fast angstvoller Spannung an ihr hing. Dann wieder fühlte sie sich mit soviel bedauernder Innigkeit gestreichelt und geküßt, daß sie selber gerührt wurde und sich später, wenn sie allein war und das Licht ausgemacht hatte, vor der Dunkelheit zu fürchten begann. Als säße zu Fußenden ihres Bettes ein drohendes Schicksal, bereit, sich auf sie zu stürzen und sie zu ersticken.
Aber woher sollte das Unglück über sie herfallen? War sie schließlich nicht sicherer geborgen als je vorher? Wen betrog sie? Worin sündigte sie? Und selbst, wenn die paar unschuldigen Heimlichkeiten, die sie mit Walter verbanden, ans Tageslicht gekommen wären, was hätte ihr mehr begegnen können als eine gediegene Strafpredigt, wie sie unvorsichtigen Kindern zu blühen pflegt?
So tröstete sie sich, ehe der Nachgeschmack von diesen spätabendlichen Besuchen von neuem in glücklichen Träumen sich verlor.
Der September schritt voran.
Fast jeder Tag brachte einen gemeinsamen Ritt, oder um die Abenddämmerung ein scheinbar zufälliges Begegnen im menschenleeren Teil des Parkes. Man sah sich beim Umherschlendern an diesem oder jenem ein für allemal festgesetzten Orte, und war eine vorherige Verabredung unmöglich gewesen, so mußte das Pusterohr aushelfen.
Mit diesem wohltätigen Instrument, das er ihr eines Tages aus der Stadt mitgebracht hatte und das – als überzählige Gardinenstange – harmlos in einer Balkonecke lehnte, war sie im stande, ihm quer durch das Weinlaub hindurch jede beliebige Botschaft ins geöffnete Fenster zu blasen.
Manchmal war es nur ein »Guten Morgen, Kamerad«, manchmal die Stunde eines neuen Zusammentreffens oder irgend ein harmloser Scherz, dem Übermut des Augenblicks entsprossen.
An den Abenden, an denen der Oberst zu Hause blieb, wurde er meistens zu Tische geladen. Dann behielt er freilich seine reglementsmäßige Steifheit bei, aber Gelegenheit zu irgend einem kleinen Zwischenspiel bot sich jetzt immer.
Keiner von beiden verzog eine Miene dabei, und die »beiden Hochmögenden« saßen ahnungslos.
Aber eine Nebenbuhlerin gab es für Lilly, die sie fürchtete und haßte, weil sie vermochte, ihr die Aufmerksamkeit des »Kameraden« auf Stunden zu entziehen, deren Namensnennung genügte, sie zur bloßen Statistin herabsinken zu lassen, und diese Nebenbuhlerin war – das Regiment.
Die Zeit der Herbstübungen war gekommen, und mit fiebrigem Interesse verfolgten beide Herren die Tätigkeit, die nach den Mitteilungen der Blätter ihrem alten Truppenteile zugemessen war …
Eines Abends sandten sie gemeinsam eine mit Glückwünschen beschriebene Ansichtskarte ins Gelände, und zwei Tage später war die Antwort da, alle Winkel und Ränder mit Namen bekritzelt, die sich erst durch schwere Arbeit allgemach entziffern ließen.
Zwei, drei aber blieben unverständlich. Bis Walter des Rätsels Lösung fand. Sie gehörten ein paar Sommerleutnants, die zu den Übungen eingezogen waren und sich zugleich mit den anderen Herren des Offizierkorps unterzeichnet hatten: von Holten, Dehnicke, von Berg.
Sie glitten an Lillys Ohr vorüber. Nur das Wort »Dehnicke« fiel ihr ein wenig auf, weil seine simple Bürgerlichkeit zu dem klingenden Zauber der alten Geschlechternamen nicht recht passen wollte.
Auf die Gemütsverfassung des Obersten hatte dieser Gruß aus versunkener Zeit eine wenig günstige Wirkung gehabt. Er wurde schweigsam, dann unwirsch, und Lilly fing einen nach ihr hinzielenden Blick auf, der sie zusammenschrecken ließ, – ein so wilder, ingrimmiger Vorwurf lag darin.
In der Folgezeit wurden seine Fahrten zur nahen Garnisonsstadt wieder häufiger, und wenn eine Jagdeinladung sich einfand, gab er ihr trotz seiner Schmerzen ohne Zaudern Folge.
So kam der erste Oktobersonntag heran.
Der Oberst war schon in früher Dämmerung zu einem Gutsnachbarn auf die Hühnerstreife gefahren und gedachte vor spät Abends nicht daheim zu sein.
Ein weiches Dunstgrau, von violetter Sonnenahnung durchschossen, lag auf der Erde, als Lilly am Arme der Schwertfeger quirlig und gelangweilt aus der Kirche kam.
Die Sonnenblumen in den Küchengärten der Dienstleute senkten bereits ihre gebräunten Häupter, und die Astern krankten, von den Keulenschlägen des mörderischen Nachtfrostes getroffen.
Aber die Luft war süß und würzig wie im Frühling, und von den Feldern klang es wie Lerchengewirbel.
»Ach heute, heute!« dachte Lilly und reckte sich in unbestimmter Sehnsucht nach heimlicher Zwiesprach und jauchzenden Streichen.
Sie mußte wohl ein wenig zu laut gedacht haben, denn Anna von Schwertfeger fragte: »Was ist denn mit heute?«
»Ich weiß selbst nicht,« erwiderte Lilly errötend. »Mir ist nur so, als wäre irgend ein Fest heute.«
Die Schwertfeger sah sie von der Seite an und sagte dann, jedes Wort einzeln betonend: »Ich für meinen Teil möchte mir wirklich heute ein Fest machen und in der Stadt eine Freundin besuchen. Ich weiß nur nicht, da der Oberst auch weg ist, –«
Lilly erschrak so sehr, daß im ersten Augenblick der Atem ihr versagte.
Aber sie nahm sich klug zusammen. Erst in vorsichtiger Kühle, dann allmählich wärmer und dringender, redete sie auf die Begleiterin ein: sie wäre den ganzen Sommer nicht fortgekommen, sie lebe wie eine Gefangene und müsse sich endlich eine Stunde der Freiheit gönnen.
Die Schwertfeger nickte bedenklich vor sich hin, und in ihrem Auge saß die Starrheit, die Lilly nicht gefiel.
Bei der Mittagsmahlzeit, die beide Damen heute allein einnahmen, war sie noch unentschlossen, aber nach Tisch ließ sie anspannen und fuhr ganz ohne Abschied davon.
Lilly, die statt zu ruhen lauernd am oberen Treppenrande gestanden hatte, rannte jubelnd zum Blasrohr.
Noch schlossen die Blättergewinde des wilden Weins ihr kleines Reich mit so dichten Mauern, daß er nichts von ihr sehen konnte. Aber sie sah ihn, wie er hinter dem geöffneten Fenster saß und mit schweren Stirnfalten über einem Buche brütete.
»Das ist alles mein guter Einfluß,« dachte sie triumphierend, und fast tat es ihr leid, ihn einem so ersprießlichen Tun zu entreißen.
In der Nähe des Hauses gingen Inspektor und Rechnungsführer, ihre Sonntagnachmittagzigarre rauchend, auf und nieder.
Doppelte Vorsicht war geboten.
Der Papierpfropfen, der ihre Botschaft enthielt, prallte gegen seine Stirn und fiel ins Freie zurück.
Und so straff hielt er sich in der Hand, daß er nicht einmal mit einem aufschauenden Blicke sein Einverständnis zu erkennen gab, sondern nach einer kleinen Weile wie durch Ungeschick sein Buch zum Fenster hinausfallen ließ und gleichmütig aufstand, um es herein zu holen.
Eine halbe Stunde später trafen sie hinter dem Karpfenteiche zusammen.
Er hatte einen neuen, schwarz und weiß karierten Winteranzug an, ähnlich wie jener verhängnisvolle Fremde im Coupé ihn getragen hatte.
»Sie sind heute viel zu fein für mich,« scherzte Lilly, »ich möchte am liebsten gar nicht mit Ihnen gehen.«
»Das wäre mordsschade,« meinte er, »denn ich habe mir diese Kluft extra für heute bauen lassen.«
»Warum für heute?«
»Weil heute unser Fest ist.«
»Wie kommen Sie auf so was?« stammelte sie, erschrocken darüber, daß ihrer beider Gedanken genau denselben Weg genommen hatten.
»Man hat so seine Ahnungen,« erwiderte er und lächelte vielsagend dazu.
Dann schlugen sie, von gleicher Regung getrieben, den Weg zum Buchenwalde ein, den sie an jenem ersten Abend ihrer wiedererwachten Freundschaft durch das sinkende Dunkel gegangen waren.
»Was macht Tommy?« fragte sie, des Dritten im Bunde gedenkend.
»Er hat die Diele durchgebissen und sich eine Höhle gebuddelt,« erwiderte er. »Dadrin faucht er wie ein Uhu. Ich möchte Ihnen nicht raten, Ihren Ringfinger hinein zu stecken. Die Ringe könnten plötzlich abhanden gekommen sein und der Finger dazu.«
»Warum haben Sie ihn so verwildern lassen?« fragte sie vorwurfsvoll.
»Warum hab' ich mich so verwildern lassen?« fragte er zurück.
»Na, nun werden Sie ja wieder zahm,« erwiderte sie, ihn mit ihren Blicken liebkosend, denn ihr Werk war ja alles.
»Glauben Sie?« fragte er und zog herrisch die Brauen zusammen, wie einst in seiner Leutnantszeit.
»Hab' ich nicht etwa Ihr Ehrenwort?« triumphierte sie.
»Päh,« machte er.
Sie sonnte sich in der Überlegenheit ihres Retteramtes.
»Und wenn Sie meine Einwirkung noch so gering schätzen,« erwiderte sie, »jedermann auf dem Hofe sieht, daß irgendwas mit Ihnen vorgegangen ist … Herr Leichtweg hat erzählt, Sie sind jetzt immer der Erste auf dem Platze … vom Oberst haben Sie sich das große landwirtschaftliche Lexikon ausgeliehen – das hat ihm riesig imponiert … und die Schwertfeger meinte unlängst, Sie sähen jetzt immer so appetitlich aus … Ja, das lob' ich mir, Herr von Prell, dann werden wir auch immer gute Freunde bleiben.«
»Apropos, appetitlich,« erwiderte er. »Ihr Hals ist ja von hinter den Ohren an ganz mit feinen, seidenen Härchen bedeckt. Wissen Sie auch, woher das kommt?«
»Ach, Dummheit,« meinte sie rot werdend, »wissen Sie es denn etwa?«
»Der weise Mann macht sich wohl so seine Gedanken,« erwiderte er. »Sehen Sie zum Beispiel diesen Grasfleck,« und er wies auf eine niedrig liegende Lichtung, die ein Rinnsal durchsickerte und die mit einem zarten, saftgrünen Rasen dicht bedeckt war. »Er sieht aus wie im Frühling, hat aber bis spät in den Sommer hinein noch unter Wasser gestanden. Die Stellen, die am schwersten oder gar nicht trocken werden, setzen nämlich einen besonders feinen Flaum an, – macht die Natur mit Vorliebe so.«
Beinahe hätte sie seine Belehrung mit dankbarem Ernst entgegen genommen. Da sah sie zufällig, welch niederträchtiges Gesicht er dazu schnitt. Und als ihr nunmehr über den unverschämten Seitenhieb ein Licht aufging, mußte sie so fürchterlich lachen, daß sie sich gar nicht zu helfen wußte.
»Sie, Baronissima, wollen wir Haschemann spielen?« fragte er. »Das sind wir Ihrem erlauchten Blutumlauf schuldig.«
Da jagte sie auch schon jubelnd den Abhang hinan, der sich im Dunkel des herbstlichen Purpurs verlor.
Aber sie kam nicht weit. Sie verzappelte sich in ihrem Plaid, das sie für alle Fälle mitgenommen hatte und das sie ihm zum Tragen nicht hatte geben wollen. Nun lag sie lang auf der Erde, und er war gerade noch zur Zeit da, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Da ihr hierdurch der Geschmack am Rennen vergangen war, so stiegen sie brav und gesittet zur Anhöhe empor, von wo das wogige Blättermeer weit ins Land hinaus zu überschauen war.
Die Buche glühte in sattem Rot … Der Ahorn spielte in allen Farben des Regenbogens … Die Birke zitterte in hellen Feuerflammen … Goldfarbig prangte die Rüster … Nur die Eiche hielt zäh das grüne Kleid des sommerlichen Lebens fest.
Mit gefalteten Händen starrte sie in die Ferne, die sich in veilchenfarbenen Schleiern verlor.
Die Sonne barg sich hinter lichtrandigem Gewölk, aus dessen Schoß feurige Bahnen zur Erde niederstiegen. Ein schmales Band von glührotem Dunste umrahmte den Horizont, von Lichtblitzen eingesäumt, die sich der Sonne entgegenwarfen.
»Wollen wir uns hier niedersetzen?« fragte er.
»Nein, hier nicht,« erwiderte sie, von einer unbestimmten Angst gefaßt. »Hier fang' ich gleich zu weinen an.«
Sie lief ihm voran – ins Waldinnere zurück und fand richtig den Pfad wieder, der an dem Rinnsal entlang führte.
Hier war es dunkel wie am Abend. Aber der Sonnenzauber, in dem sie soeben gestanden hatte, wirkte weiter und goß freudige Andacht in ihr Herz.
Wie war sie glücklich! O, wie war sie glücklich!
Keine Angst und keine Gefahr, so weit der Gedanke reichte … Keine Gefahr auch vor dem eigenen Herzen … Denn der da neben ihr herging, war Freund und Gespiele, und weiter nichts. Durfte und konnte nie etwas anderes sein … Kein heimlicher Wunsch, kein schielendes Verlangen ging von ihm aus oder drängte ihm entgegen.
Klar und sonnenhell war alles, was sie miteinander verband. – Und mochten die andern auch nie etwas ahnen dürfen, von Sünde gab's nichts darin, – nur Heil für ihn und Lachen für sie und Jugend für alle beide.
Sie spürte ein warmherziges Verlangen, seine Hände zu ergreifen. Aber sie fürchtete mißverstanden zu werden und ließ es lieber bleiben.
So gingen sie nebeneinander bis zu der Stelle, wo der Wasserlauf, in eine morsch werdende Holzrinne gefaßt, mit leisem Singsang aus der Erde quoll.
Welke Farnstauden deckten mit ihren zerfetzten roten Röcken das hellgrüne Moos, und aus den Buchenkronen wiegten sich müde Blätter hernieder.
»Hier wollen wir ausruhen,« sagte Lilly.
»Aber es wird feucht sein,« warf er ein.
»So breiten wir das Plaid aus,« rief sie, nahm ihm die Decke ab, die er nun doch an sich gerissen hatte, und warf sie über die Farnbüschel, die unter der Last vollends zusammenknickten.
Dann hockte sie auf der rechten Seite nieder und lud ihn ein, die linke zu benutzen, damit der schöne, neue Anzug keinen Schaden nähme.
»Jetzt müssen wir Vesper halten,« meinte er.
»Wir armen Kirchenmäuse haben ja nix,« lachte sie.
»Wer sagt Ihnen das?« fragte er triumphierend und holte aus einer Jackentasche ein in Papier gewickeltes Päckchen, das ein plattgedrücktes und in Brocken gesplittertes Stück Konditorkuchen enthielt. – Das legten sie lachend zwischen sich und machten die Hände hohl, um die Brocken zu Munde zu führen. Die schmeckten wie süßer Wein, und Lilly konnte glückselig feststellen, daß es Punschtorte war, die sie besonders gerne aß.
»Die Engländer nennen es tipsy-cake,« erwiderte er dann, »da wird man ganz bedudelt nach.«
»Auf den Rausch will ich's noch ankommen lassen,« lachte sie und warf sich auf den Rücken, die Hände unter dem Kopfe faltend, um ein höheres Kissen zu haben.
So lag sie eine Weile regungslos und schaute zum Himmel empor, von dem ein ausgezacktes Eirund zwischen den Laubmassen herniederschimmerte … Rosa leuchtende Flocken schwammen in dem opalisierenden Luftmeer, und weit dahinter schien noch ein neuer Himmel sich zu wölben, von dem es an einzelnen Stellen wie eine blaue Ahnung hindurch quoll.
Sehnsüchtig streckte sie die Arme nach der Höhe.
»Wollen Sie Lerchen fangen?« fragte er.
Nein, das nicht, aber eines der fallenden Blätter hätte sie gerne.
Wie flügellahme Vögel sanken sie immerzu und immerzu aus den Laubhöhlungen hernieder und kreisten in Spiralen über dem Boden, als wüßten sie nicht, wohin sie sich setzen sollten.
»Wir wollen aufpassen, zu wem das erste kommt,« sagte er und legte sich gleichfalls auf den Rücken.
»Der, zu dem das erste kommt, wird zuerst ein großes Glück haben,« setzte sie hinzu.
Beide lagen nun still und warteten.
Und endlich kam eines und machte Anstalt, sich auf seine Nase zu setzen.
Aber das wollte er nicht dulden, denn ihr gehörte das erste, große Glück – und blies es zu ihr herüber.
Sie ihrerseits war zu stolz, ein so reiches Geschenk von ihm anzunehmen, und blies es zu ihm zurück.
So ging es mit Lachen und Umsichschlagen ein paarmal hin und her. Und plötzlich stießen im Eifer des Kampfspiels die Lippen aufeinander und – ließen sich nicht mehr los.
Im nächsten Augenblicke hielten sich beide umklammert, und noch einen Augenblick später gehörte sie ihm. – –
Die Quelle sang, die Blätter fielen wie vorher. Aber ein feuriger Nebel lag auf der Erde, und überall blinkten regenbogenfarbene Sonnen.
Warum war das nur geschehen?
Gedankenlos sank sie zurück und bemerkte, daß auch der Himmel oben ganz in Feuer stand.
Ihr Kamerad saß neben ihr, krummbucklig wie ein gescholtener Schulbube, und rieb die Fingernägel aneinander.
»Ach, wir wollen heimgehen,« sagte sie mutlos.
»Wie gnädigste Baronin befehlen,« erwiderte er in fratzenhafter Ehrerbietung.
Sie lachte ein müdes, unfrohes Lachen.
Augenscheinlich war es ihm darum zu tun, das Geschehene eilends wieder aus der Welt zu schaffen.
»Ach, nun ist's schon egal,« seufzte sie, »nun dürfen wir uns schon ruhig ›Du‹ sagen.«