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Es war am 23. Dezember, zwischen zehn und elf Uhr vormittags, als in dem Schicksal der schönen, aber arg bemakelten Miss Maud Hogarth und einiger anderer, weniger anziehender, dafür aber höchst geachteter Persönlichkeiten durch das Zusammentreffen verschiedener kleiner Zufälle plötzlich eine entscheidende Wendung herbeigeführt werden sollte.
Die Sache fing damit an, daß ein sehr gut und sehr jugendlich aussehender Gentleman, der sich Donald Ramsay nannte, diesen Londoner Wintermorgen völlig hoffnungslos fand. Die Welt vor den Fenstern des unscheinbaren Hauses nahe der Westminster-Brücke in Lambeth steckte in einem dicken schmutziggelben Dunst, und der Gedanke, sich durch diese triefende Finsternis hindurchtasten zu müssen, hatte gar nichts Verlockendes.
Also stemmte der junge Mann die Füße wieder gegen den wärmenden Kamin und nahm nochmals die »Times« auf.
Aber erst auf der wappengeschmückten Seite mit den Personalnachrichten und sonstigen Anzeigen blieben seine lebhaften Augen plötzlich auf einer Stelle haften, und dann spitzten sich die bartlosen Lippen zu einem dünnen Pfiff. »Das läßt sich hören . . .«, murmelte er und las die Ankündigung noch ein zweites Mal.
Sie betraf das Weihnachtsessen des Piccadilly-Hotels am 25. Dezember um 8 Uhr abends, das Gedeck zu sechs Guineen. Für diese Kleinigkeit gab es neunzehn erlesene Gänge.
»Imperial Pfahlaustern – Marinière – fein . . .«, wiederholte der Gentleman, nachdem er mit dem Studium der Speisenfolge zu Ende war, und zog entschlossen das Tischtelefon heran, um die wichtige Angelegenheit sofort zu erledigen. Das Gespräch mit der Hotelleitung gestaltete sich kurz und ergab keine Schwierigkeiten.
»Nein, besondere Wünsche wegen des Platzes habe ich nicht«, erklärte Ramsay, und als ihm daraufhin ein Vorschlag gemacht wurde, war er ohne weiteres damit einverstanden. »Gut, also Nummer 28, äußerste Reihe rechts. Die Tischkarte wird noch im Laufe des heutigen Tages abgeholt werden. – Danke.«
Der junge Mann legte den Hörer auf und warf einen Blick auf die Uhr. Da diese eben ein Viertel vor zehn zeigte, klingelte er.
Bereits in der nächsten halben Minute tauchte nach einem schüchternen Klopfen Mrs. Machennan auf. Sie war eine zierliche, immer noch recht hübsche Frau mittleren Alters, aber das Anziehendste an ihr war die Sanftmut, die sich in ihrem ganzen Wesen offenbarte. Sie hatte geradezu rührend sanfte Rehaugen, eine sanfte, sehr angenehm klingende Stimme, und um den etwas üppig geratenen kleinen Mund spielte ewig ein gewinnendes Lächeln.
Donald Ramsay empfing sie mit einem freundlichen Nicken, und Mrs. Machennan schlug verschämt die sanften Rehaugen nieder. Dann atmete sie tief auf und ließ ihre angenehme Stimme hören.
»Ich hoffe, daß alles nach Ihren Wünschen ist, Mr. Ramsay«, sagte sie. »Leider konnte ich in der Eile . . .«
»Es ist alles ganz nach meinen Wünschen, und ich fühle mich bei Ihnen sehr behaglich«, versicherte der neue Hausgenosse lebhaft, und das Lächeln um den Mund der Frau wurde geradezu glückselig. »Machen Sie also meinetwegen keine weiteren Umstände. Die Nachbarschaft könnte sonst vielleicht aufmerksam werden, und das wäre mir nicht angenehm.«
Mrs. Machennan lächelte unentwegt und schüttelte den Kopf. »Die Nachbarschaft kümmert sich nicht um uns, Mr. Ramsay«, erklärte sie. »Ich habe gar keinen Verkehr, und das Mädchen ist etwas menschenscheu und sprechfaul. Außerdem benützen wir stets den Ausgang durch den Hof, und dort gibt es nur Kontorgebäude.«
»Das ist mir lieb«, sagte Donald Ramsay. »Im übrigen werde ich in einigen Stunden aufs Land fahren und erst übermorgen nachmittag zurückkehren. – Ja – und am Abend werde ich dann das Weihnachtsessen im Piccadilly mitmachen.«
Mrs. Machennan, die sehr aufmerksam zugehört hatte, neigte den kokett frisierten Kopf. »Da werden Sie also den Frack benötigen; ich werde alles zurechtlegen. Wünschen Sie auch eine Blume fürs Knopfloch, Mr. Ramsay? – Und was für eine?«
Der junge Mann hob die Oberlippe und zeigte seine kräftigen tadellosen Zähne. »Donnerwetter, Sie denken doch wirklich an alles, liebe Mrs. Machennan. Natürlich eine Blume. Aber was für eine – jawohl . . . Das ist sehr wichtig . . . Sagen wir also eine . . .«
Der Gentleman überlegte mit großer Gründlichkeit. »Ja – also sagen wir: eine chinesische Nelke. Sie verstehen mich? Nicht eine gewöhnliche Gartennelke, sondern eine richtige Chinesen-Nelke. Vielleicht können Sie so etwas auftreiben?«
»Oh, sicher werde ich sie bekommen«, erwiderte Mrs. Machennan und wurde mit einem Mal gesprächig. »Zufällig weiß ich genau, wie solch eine chinesische Nelke aussieht, man kann mir daher nicht etwas anderes aufhängen«, erklärte sie. »Ich habe nämlich diese Blume bei der aufregenden Verhandlung gesehen, die vor einigen Monaten in Old Bailey gegen Miss Maud Hogarth stattfand, weil die junge Dame einen Offizier erschossen haben sollte. Die Sache war sehr geheimnisvoll, und es haben dabei gerade solche chinesischen Nelken eine gewisse Rolle gespielt. Deshalb hat auch ein ganzer Strauß davon vor dem Richter gestanden, und die Leute haben sich um die Blumen förmlich gerauft, als das Urteil gesprochen war. – Leider ist der rätselhafte Fall nicht aufgeklärt worden, und Miss Hogarth wurde nur freigesprochen, weil die Geschworenen keine Beweise hatten . . . Ja.«
Mrs. Machennan brach etwas unvermittelt und verwirrt ab, denn ihr zerstreuter Zuhörer sah mit sichtlicher Ungeduld wieder nach der Uhr.
»Es dürfte nun bald ein Mann kommen«, sagte er.
»Der Mann ist bereits hier«, lispelte Mrs. Machennan mit ihrem allersanftesten Lächeln. »Ich habe ihn allerdings auf den Hof geschickt, damit er sich die Schuhe gründlich reinigt. Ich werde ihn sofort heraufbringen.«
Als sich die Tür hinter der geschäftigen Frau geschlossen hatte, sah sich Donald Ramsay veranlaßt, die kurze Anzeige von der Chinesen-Nelke zum dritten Male zu überfliegen.
»›DIE CHINESISCHE NELKE‹ hat neue Blüten getrieben. Wenn sie ins Haus kommt, hat man genau fünf Tage Zeit, nochmals die Wahl zu treffen«, las er halblaut Wort für Wort vor sich hin und wurde so nachdenklich, daß er diesmal das schüchterne Klopfen völlig überhörte.