Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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32

Als um die siebente Abendstunde dieses Tages in der Halle eine Klingel dreimal kurz und gedämpft anschlug, verließ die sanfte Mrs. Machennan ihren Platz am Fenster des verdunkelten Zimmers und nahm mit einem raschen Griff zwei Dinge an sich, die auf ihrem Nähtischchen lagen. Draußen schlüpfte sie noch in ihren Mantel und trat dann den Weg über den Hof nach der rückwärtigen kleinen Pforte an. Bevor sie den Riegel zurückschob, lauschte sie eine Sekunde, dann aber riß sie die Tür so blitzschnell auf, daß der Mann, der sich in seiner Ungeduld dagegen gelehnt hatte, mit einem gefährlichen Schwung über die Schwelle stolperte. Mrs. Machennan faßte mit ihrer zarten Hand hilfreich zu, und da sie genug gesehen hatte, ließ sie die kleine Schußwaffe, deren Lauf sich an die zylindrische Taschenlampe schmiegte, unauffällig in der Manteltasche verschwinden.

»Bitte, geradeaus jene Tür dort«, flüsterte sie hastig, indem sie mit der Linken wieder abschloß und mit der Rechten über den Hofraum leuchtete. Aber Mr. Brook war durch den Griff, der ihn gerade noch im letzten Augenblick wieder fest auf die Beine gestellt hatte, so verblüfft, daß er sich nicht vom Fleck rührte. Mrs. Machennan huschte also voran, aber sie ging so eilig, daß der Besucher trotz seiner langen Beine kaum zu folgen vermochte; und er betrat erst die Halle, als seine Führerin bereits am anderen Ende durch eine Tür verschwand.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, lud sie mit liebenswürdiger Dringlichkeit ein. »Vielleicht am Tischchen neben der Treppe. Sie finden dort auch einige Zeitungen. Mr. Ramsay dürfte bald kommen.«

»Danke, Madam«, rief Brook mit ganz besonderer Höflichkeit zurück, denn er glaubte nun seiner Sache völlig sicher zu sein.

Deshalb deutete er auch mit dem Zeigefinger wortlos auf den Fußboden, als Ramsay eine Viertelstunde später oben in seinen Zimmern nachdenklich sagte: »Sie werden sich nach einer geschickten Frau umsehen müssen.«

Der Gentleman hielt schon seit einer geraumen Weile die fotografische Vergrößerung einer Zehnpfundnote unter das Licht der Schreibtischlampe und betrachtete unverwandt den kleinen ovalen Fleck am rechten Rande, der sich in seinen Umrissen und mit seinem Netz feiner Linien klar und deutlich abhob. Es war ein Abdruck von wunderbarer Schärfe, und auch Brook, der ihn gebracht hatte, fand dies, wagte aber nicht davon zu sprechen.

»Also, eine geschickte Frau«, wiederholte Ramsay nochmals, indem er endlich die Kopie beiseite legte. »Aber es wird notwendig sein, daß sie auch etwas Mut hat. Erkundigen Sie sich sofort, ob solch eine Person zur Verfügung ist und . . .« Er unterbrach sich und sah verständnislos auf seinen Mann, der mit dem zu Boden gerichteten Zeigefinger heftig arbeitete. »Was meinen Sie?« fragte er ungeduldig.

»Mrs. Turteltaube . . .«, flüsterte Brook und zwinkerte geheimnisvoll. Aber Ramsay verstand ihn nur halb.

»Oh, die ›Turteltaube‹ – natürlich«, sagte er lebhaft. »Das wäre allerdings das, was wir brauchen. Man hat mir schon sehr viel von ihr erzählt. Aber wer weiß, wo sie augenblicklich herumfliegt?«

Brook versuchte sich in einem selbstbewußten Lächeln. »Hier!« erklärte er kurz, und sein langer knochiger Zeigefinger wies nun so starr nach unten, daß Ramsay über die Bedeutung dieser Geste nicht länger im unklaren sein konnte.

»Mrs. Machennan?« stieß er überrascht hervor, aber der andere hob ungewiß die Schultern.

»Jene Frau, die mich eingelassen hat. Ich habe sie sofort wiedererkannt, denn wir haben einmal in Paris längere Zeit in demselben Hotel gewohnt. Und sie scheint sich meiner auch erinnert zu haben, weil sie es gar so eilig hatte, mir aus den Augen zu kommen. Ich habe mir nämlich sagen lassen, daß sie . . .«

Ramsay lachte plötzlich belustigt auf, aber was er dabei abgerissen vor sich hinmurmelte, gab Brook keine rechte Erklärung für diese herzliche Heiterkeit. »Peter Owens Priem . . . – Und der arme Mann, der auf einmal auf dem Boden lag . . . – Also das ist unsere gefürchtete Mrs. Turteltaube. – Man hat mich zwar wegen der Unterkunft an sie gewiesen, mir aber sonst keine Andeutung gemacht.«

Brook nickte verständnisvoll. »Sie liebt das nicht, Sir, das wollte ich vorhin noch sagen. Sie soll so schrecklich schüchtern und bescheiden sein. Und ich fürchte, Sir« – der ernste Mann räusperte sich unbehaglich, und sein gelangweiltes Gesicht verriet wirklich ernste Sorge – »sie wird es mir sehr übelnehmen, daß ich . . .«

»Ich werde es schon so anstellen, daß Sie aus dem Spiel bleiben«, beruhigte ihn Ramsay, indem er rasch nach der Uhr blickte. »Aber nun das Weitere. Ich habe nach acht eine Verabredung.«

Das Weitere betraf zunächst die bedenklichen Pillen, die sie Simonow abgenommen hatten, worüber sich Brook kurz faßte.

»Ich war dabei, als das Zeug im Laboratorium untersucht wurde, aber die Herren konnten nicht einig werden, und man hat daher einer alten Katze so ein Kügelchen eingegeben. Fünf Minuten später hat sie zu taumeln begonnen, und nach weiteren zwanzig Minuten ist sie verendet. Man hat allerdings in den Organen nichts finden können. Man vermutet, daß es sich um ein Pflanzengift handelt. Wir werden darüber noch einen genauen Bericht bekommen.«

Ramsay nickte. »Und der Wagen?«

»Der hat uns gestern nacht gründlich gefoppt«, erklärte Brook verdrießlich. »In der kurzen Querstraße, wo wir ihn plötzlich aus den Augen verloren, ist eine enge Durchfahrt, die er wahrscheinlich benützt hat, und wir sind an ihm vorübergerast. Sie ist sogar bei Tag kaum zu bemerken, und der Galgenvogel von Chauffeur, der diesen Weg trotz seines brummenden Schädels in der Dunkelheit gefunden hat, muß wirklich jeden Winkel Londons kennen. Aber das wird ihm nicht viel nützen, eines Tages fasse ich ihn doch. Vorläufig ist er allerdings verschwunden, und der Wagen auch. Das habe ich mir gleich gedacht, denn so etwas läßt man nicht überall herumstehen, damit die Leute es begaffen können. Er ist regelrecht gepanzert, wie ich Ihnen schon sagte, Sir. Ich habe ihn gründlich abgeklopft, als ich mich mit dem idiotischen Gärtner unterhielt. Und wer weiß, welche Stückchen er sonst noch spielt . . .«

»Gut. Wie steht es in Notting Hill?«

Brook machte mit seiner großen Hand eine lässige Bewegung. »Es lungern fünf Strolche dort herum, die es furchtbar dumm anstellen«, berichtete er. »Vielleicht sind sie Ihnen auch aufgefallen, Sir, als Sie Miss Hogarth vorhin heimbrachten? Übrigens ist einer von ihnen der Dame auf einem Motorrad gefolgt, als sie um drei ausfuhr, und ich habe ihm natürlich sofort jemanden auf die Fersen gehetzt. Bis vor einer halben Stunde waren aber die beiden noch nicht zurück. Wahrscheinlich hat der erste die Spur verloren, und unser Mann ist hinter ihm drein gefahren.«

»Wenn er sich wieder meldet«, sagte Ramsay, »fragen Sie ihn vor allem, ob ihm nicht irgendwo ein Mann mit einem auffallend kahlen spitzen Schädel in den Weg gekommen ist. Falls es so ist, wie ich vermute, dürfte der kluge Bursche dafür gesorgt haben, daß sein schönes Haupt recht viele Leute zu Gesicht bekommen.«

»Jawohl, Sir«, erwiderte Brook mit hohler Stimme, womit er andeutete, daß er sich der Wichtigkeit dieses neuen Auftrags wohl bewußt war, obwohl er eigentlich nur das Schlagwort »Mann mit auffallend kahlem spitzem Schädel« begriffen hatte. Aber schon die nächste Minute ließ ihn wenigstens ein bißchen klarer sehen.

Auf dem Schreibtisch meldete sich das kleine Telefon mit den roten Zeichen und Ziffern, und Ramsay hatte bereits den Hörer am Ohr.

»Ja . . .«, sagte er halblaut und dann: »Ich war seit Mittag unterwegs.« Hierauf lauschte er einer dünnen, kaum vernehmlichen Stimme, und plötzlich schoben sich seine Brauen mit einem Ruck in die Stirn, und die scharfen Linien um seinen Mund begannen lebhaft zu arbeiten, bis sie sich zu einem starren Lächeln formten. »Gewiß habe ich verstanden«, flüsterte er erregt in den Apparat. »Oberst Wilkins interessiert sich also für einen kahlköpfigen Mann . . . Wahrscheinlich für denselben, dem ich heute kennengelernt habe. Das heißt, ich habe ihn nur ganz flüchtig gesehen, weiß aber jedenfalls von seinem Dasein. Und ich glaube sogar, nun noch mehr zu wissen . . .«

Er wurde durch eine hastige Erwiderung unterbrochen und dachte einen Augenblick nach. »Gut, morgen wird sich das wohl machen lassen«, erklärte er dann. »Also um halb zwölf am Themse-Tunnel. Ich werde sehr pünktlich sein, denn Sir John ist ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen.«

Damit legte er den Hörer auf und war plötzlich in so übermütiger Stimmung, daß der stocksteife Brook einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter abbekam.

»Jawohl«, wiederholte Ramsay und lachte ihn an, »ich glaube, nun sogar noch mehr zu wissen. Ich weiß nämlich, weshalb der Mann in Richmond so unvorsichtig war, weder einen Hut noch eine Kappe aufzusetzen; und daß ich das weiß, wird ihn den schönen kahlen Kopf kosten. Besonders, da auch Oberst Wilkins bereits hinter ihm her ist. Aber Wilkins mag es noch so geschickt anstellen, die Hand werden wir auf den Mann legen, Brook. Und nun passen Sie auf . . .«

Als der würdevolle Brook sich fünf Minuten später entfernte, hatte er eine Menge von Aufträgen, deren Zweck er zwar nicht begriff, die ihn aber ahnen ließen, daß es diesmal um eine verdammt wichtige und heikle Sache ging, und daß die Andeutung von den hundert Pfund, die für ihn auf dem Spiel stehen sollten, keine bloße Redensart gewesen war. Solche Sachen hatte Mr. Brook für sein Leben gern.

»Liebe Mrs. Machennan«, begann Donald Ramsay fünf Minuten später, indem er seiner schüchternen Hauswirtin höflich einen Sessel zurechtrückte und sich trotz seiner Eile zu einem gemütlichen Plausch einrichtete, »ich muß Ihnen nochmals wegen der Nelken danken. Ihre Vorsicht war mir sehr nützlich, denn ich habe wirklich noch eine zweite Blume gebraucht. Ja . . .«

»Ja . . .«, hauchte die ahnungslose Mrs. Machennan mit verschämt gesenktem Blick und spielte ratlos mit den Fingern, »dieser Mr. Brook soll ein sehr brauchbarer Mann sein und hat gewiß ein gutes Gedächtnis, aber ich fürchte, er ist ein großer Schwätzer und hat Ihnen alles mögliche erzählt. Solche Geschichten hören sich jedoch immer schrecklicher an, als sie wirklich waren, denn es wird dabei viel übertrieben. Aber –«, Mrs. Machennan tat einen tiefen Atemzug und verkrampfte die Finger, um sie zur Ruhe zu bringen, »wenn ich Ihnen vielleicht in irgendeiner Hinsicht dienlich sein kann, Mr. Ramsay . . .«

Wieder eine Viertelstunde später kam die schüchterne Mrs. Machennan leichtfüßig die Treppe heruntergetrippelt, und ihr Anblick konnte die verfänglichsten Gedanken erwecken. Ihr hübsches Gesicht glühte, ihre sanften Rehaugen strahlten, und um ihren üppigen kleinen Mund lag ein süßes Lächeln. Sie schlüpfte in die dunkle Küche, wo Pheny, das Mädchen beim Fenster saß.

»Pheny«, sagte Mrs. Machennan sanft, aber eindringlich, »ich werde Sie morgen vielleicht längere Zeit allein lassen müssen. Wie Sie sich zu verhalten haben, wissen Sie ja bereits, aber wir müssen nun schauen, daß Sie endlich auch ein bißchen Gefühl in Ihre schreckliche Hand bekommen. Solange Sie bei den Übungen in den Emailtopf Beulen hauen, ist das viel zu kräftig für einen menschlichen Kopf . . .«

Pheny, das Mädchen, fuhr rasch in den Mund, um das Fünfunzengewicht herauszuholen, und gurgelte dann eifrig.


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