Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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Auch Simonow in seinem Winkel empfand in diesem Augenblick eine geradezu unbändige Freude, und er bedurfte auch eines solchen Gefühls, um halbwegs wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Er hatte eine schlimme Nacht, einen üblen Tag und wieder einen bösen Abend hinter sich, und die Erinnerung an das rätselhafte Abenteuer in Notting Hill ging ihm wie ein richtiges Mühlrad im Kopf herum. Die gewaltige Beule an seinem Scheitelbein schmerzte noch immer höllisch, aber er hatte keine Zeit, etwas dagegen zu tun, denn der Chef gebärdete sich mit einem Mal verdammt ungemütlich. Und wenn der abgebrühte Simonow auch nicht zu jenen gehörte, die es wegen einiger scharfer Worte gleich mit der Angst zu tun bekommen, so hatte ihm diesmal der häßliche Ton doch eine Gänsehaut über den Rücken gejagt.

Deshalb hatte er sich schleunigst aufgemacht, um wenigstens den zweiten Dieb aufzuspüren. Und nun hatte er nicht bloß diesen vor sich, sondern dazu wahrhaftig auch noch den verwünschten Windhund vom gestrigen Abend, an dem dem Chef und auch ihm selbst noch weit mehr gelegen war. Die Matrosenkluft konnte ihn nicht einen Augenblick täuschen. Dieser gefeite Satan hatte ihm bereits alle möglichen schrecklichen Gedanken aufgedrängt, aber nun wußte man endlich, wo man ihn hinzutun hatte.

Simonow neigte den Kopf noch tiefer und begann, vor seinem Glas Bier mechanisch mit den Fingern zu spielen. Auf diese Finger waren in dem großen Lokal unauffällig an die zwanzig Augenpaare gerichtet, die Leuten gehörten, auf die man sich unbedingt verlassen konnte. Jeder Finger galt einem andern, und es machte auch einen Unterschied, ob er gestreckt oder gekrümmt wurde.

Der einsame Gast im Winkel saß ungefähr eine halbe Stunde und zeigte weder für die Männer auf dem Podium noch für die vielen anderen, die ununterbrochen kamen und gingen, das geringste Interesse. Und schließlich verschwand er ebenso plötzlich und unauffällig, wie er aufgetaucht war.


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