Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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17

»So, nun können wir gehen«, sagte Maud ganz unvermittelt, als der letzte Gang abgetragen war. »Die Leute sollen sehen, daß wir nur des Essens wegen gekommen sind, nicht um ihretwillen.«

Sie hatte allen Grund, mit dem Verlauf des Abends zufrieden zu sein, denn es war alles so gegangen, wie sie es gewünscht hatte. Und dazu war noch die unverhoffte Genugtuung gekommen, zu der ihr Admiral Sheridan verholfen hatte. Sie wußte, daß diese Aufmerksamkeit des angesehenen und gefürchteten Mannes, über deren Absichtlichkeit sie sich völlig klar war, die glänzendste gesellschaftliche Rehabilitierung bedeutete, die ihr hatte zuteil werden können, und sie war dem alten Gentleman für sein ritterliches Eintreten von Herzen dankbar . . .

Sie war sich aber auch bewußt, daß sie dieses Eintreten vor allem dem freundschaftlichen Gedenken zuzuschreiben hatte, das Sir John ihrem verstorbenen Onkel bewahrte – und damit hatte sich ihr plötzlich doppelt schreckensvoll auch wieder der Gedanke an die neue Gefahr aufgedrängt. Die Sache mit der ›Chinesischen Nelke‹ war ja noch nicht zu Ende, sondern wollte wieder aufleben, und es lag nicht an ihr allein, daß der Name Herbert Bexter, der so viel gegolten hatte, auch diesmal von jedem Makel verschont blieb. Das eine Mal war es ihr zwar gelungen, und sie hatte sogar auch den gewissen verhängnisvollen Zettel in ihre Hände bekommen, aber sie wußte ja nicht, ob außer diesen Zeilen und der ›Chinesischen Nelke‹ nicht doch ein weiteres gefährliches Papier vorhanden war. Daß die andere Seite den Kampf wieder aufnahm, ließ fast darauf schließen, daß ihr neue Waffen zu Gebote standen.

In Maud hatte sich alles gesträubt, an eine Verfehlung Onkel Bexters zu glauben, aber schließlich hatte sie sich vor der Wucht der Tatsachen beugen müssen. Das entsetzliche Schuldbekenntnis wies die charakteristischen kritzeligen Schriftzüge Bexters auf und lautete so klar und bestimmt, daß an seinem Inhalt nichts zu deuten war. Die Sache war Maud unfaßbar, aber sie mußte sie gelten lassen. Um so mehr, als es noch etwas gab, was immerhin für ihre Möglichkeit sprach. Schon Wochen bevor sie von der Existenz des Zettels und seiner Bedeutung erfuhr, hatten Maud Hogarth die letzten Augenblicke ihres Oheims sehr viel zu denken gegeben. Bexter hatte die Nacht vor seinem Tod fieberhaft über einer Arbeit gesessen, und der Diener fand ihn noch am. Morgen am Schreibtisch. Er berichtete in der Gesindestube, daß der Herr ungemein aufgeregt sei, und kaum eine Viertelstunde später trat die unerwartete Katastrophe ein. Als Maud als erste herbeieilte, konnte Herbert Bexter nur mehr unter Aufbietung der letzten Energiekräfte einige Worte lallen. Seine halb gelähmte Hand tastete dabei nach einem umfangreichen Briefumschlag auf der Tischplatte.

»Chinesische Nelke . . . Gut aufbewahren . . . – Niemandem . . .«, keuchte er mühsam, und in seinem erlöschenden Blick lag ein erschütterndes Flehen. Dann wollte er offenbar noch etwas hinzufügen, denn seine Lippen bewegten sich weiter, aber seine Stimme versagte bereits . . .

Das war das zweite Mal, daß Maud von der ›Chinesischen Nelke‹ gehört hatte. Zwei Tage vorher hatte ihr der Oheim plötzlich einen Strauß dieser Blüten gebracht – es war seine letzte Aufmerksamkeit für sie, und seither liebte sie diese Blumen.

»Ja«, hatte Bexter auf ihren Dank zerstreut und bedrückt erwidert, »sie sehen wirklich sehr hübsch aus, aber . . .«

Maud hatte diese halbe Bemerkung zunächst nicht beachtet, und erst als ihr von dem Sterbenden der geheimnisvolle Briefumschlag mit so verzweifelter Besorgtheit anvertraut worden war, schloß sie auf irgendwelche Zusammenhänge. Jedenfalls deutete sie die letzten Worte ihres Oheims dahin, daß sie die versiegelten Papiere sicher aufbewahren und niemandem übergeben sollte, und sie hielt sich daran. Der schriftliche Nachlaß Sir Herbert Bexters wurde von einigen höheren Offizieren, unter denen sich auch Oberst Wilkins befand, sehr gründlich gesichtet und zum Teil übernommen; von den Dokumenten der chinesischen Nelke aber war dabei nicht die Rede.

Erst von Major Foster hatte sie einige Wochen später wieder davon gehört . . .

All diese furchtbaren Dinge, mit denen sie allein fertig werden mußte, hatten Maud in der letzten halben Stunde derart beschäftigt, daß sie plötzlich verstummt war und kaum noch den Blick gehoben hatte. Tante Ady war damit sehr zufrieden, denn sie machte sich nichts aus Konversation; besonders bei Tisch nicht. Sie fühlte sich so wohl, daß sogar die Erinnerung an die Peinlichkeit des Einzuges in ihr bereits völlig verblaßt war.

Aber Mauds »So, nun können wir gehen . . .« gemahnte sie mit einem Schlag wieder daran und bereitete ihrem Behagen ein jähes Ende. Sie versuchte daher auch diesmal wieder einen Einspruch, aber er klang wenig hoffnungsvoll. »Wir könnten doch wirklich noch ein Weilchen bleiben. Die Musik ist ja so wunderschön . . .«

»Die kannst du zu Hause auch haben, wenn du dich ans Radio setzt«, erwiderte Maud und fügte ein ungeduldiges »Also . . .!« hinzu, gegen das es keine Widerrede gab.

So begann Mrs. Adelina Derham unter mächtigem Herzklopfen und mit unsicheren Händen ihre Kleinigkeiten zusammenzusuchen, während Maud bereits stand und den kostbaren Hermelinkragen umlegte. Dabei glitt ihr Blick zum ersten Male über die nächsten Tische – um plötzlich starr und mit einem Ausdruck jähen Schreckens auf einem Punkte haften zu bleiben . . .

Die chinesische Nelke im Knopfloch des tadellosen Fracks hätte in ihr vielleicht sonst bloß ein flüchtiges Interesse für den Träger geweckt, aber die alarmierende Botschaft vom vorgestrigen Tage und ihre augenblickliche Stimmung ließen sie nun darin eine neue Drohung sehen. Das auffällige Benehmen des Unbekannten sagte ihr auch ganz deutlich, daß er die Blumen wirklich ihretwegen trug, und sie glaubte in den zwingenden Augen, die sich in die ihren bohrten, eine Herausforderung zu lesen, die sie das Schlimmste befürchten ließ. Major Foster hatte offenbar einen Nachfolger gefunden, und es schien, als ob dieser die Angelegenheit noch rücksichtsloser betreiben wollte. Jener war heimlich zu ihr gekommen, dieser aber scheute sich nicht, ihr den Kampf vor aller Welt anzusagen. Zuerst in der Zeitung – und nun sogar unter Hunderten von begierigen Augen.

Wann würde dieser Kampf beginnen? Was hatte man noch in der Hand, um sie zur Herausgabe der Papiere zu zwingen? In welche neuen Teufeleien würde sie verstrickt werden?

Maud Hogarth fühlte plötzlich, daß ihre seit Monaten mühsam aufgepeitschte Spannkraft zu versagen drohte. Noch vor Stunden hatte sie den kommenden Dingen ziemlich gefaßt entgegengesehen, aber seither war ihr doppelt eindringlich zum Bewußtsein gekommen, worum es ging und welche Verantwortung auf ihr ruhte. Sie durfte nicht warten, bis die Gefahr da war, sondern mußte ihr begegnen. Sie mußte wissen, was man im Schilde führte – noch heute – noch in dieser Nacht mußte sie es wissen . . .

Tante Ady war fertig. Sie schlug noch einmal verzweifelt die Augen auf und holte tief Atem, dann wandte sie sich nach dem Mittelgang, den sie gekommen waren. Aber Maud berührte leicht ihren Arm und wies nach der Seite.

»Dort, bitte . . .«

Mrs. Derham wechselte mit überraschender Beweglichkeit die Richtung, denn dieser Weg war ihr weit sympathischer. Dort gab es zur Linken nur ganz wenige Tische mit einzelnen Herren.

Maud folgte ihr auf dem Fuß. Sie ging hoch aufgerichtet und sah gleichgültig über die vielen Köpfe, die plötzlich wieder in lebhafte Bewegung gerieten, hinweg. Auch der Gentleman mit der chinesischen Nelke war für Maud Hogarth nicht mehr vorhanden . . .

Einige Schritte vor seinem Tisch hob sie den Arm, um auf der winzigen Brillantuhr flüchtig nach der Zeit zu sehen.

Und dann ging sie an ihm vorüber. Ihr Fuß stockte nicht den Bruchteil einer Sekunde, sie zeigte nicht das leiseste Anzeichen irgendwelcher Erregung, und auch ihre Lippen bewegten sich kaum.

Aber Donald Ramsay vernahm ganz deutlich, wie sie sagte:

»In zwei Stunden Westbourne-Park-Station, Südseite.«

Und während der Herr mit der chinesischen Nelke bedachtsam die Asche von seiner Zigarette klopfte, gab er ebenso leise, aber ebenso deutlich zurück:

»All right.«

 

Die neugierige Lady Falconer war sehr befriedigt, sie lächelte verständnisvoll und ein ganz klein wenig ironisch. »War das nicht riesig unterhaltend?« tuschelte sie Oberst Wilkins zu, der noch immer die Unterlippe zwischen den Zähnen hatte. »Vielleicht war es der Anfang eines richtigen Liebesromans. Ich habe ganz deutlich bemerkt, daß sie im Vorübergehen etwas murmelte, und daß der unternehmende Herr darauf erwiderte. Diese Maud Hogarth sieht zwar sehr kühl und unnahbar aus, aber man weiß ja nie, was hinter der Maske einer Frau steckt. Das zeigt sich erst, wenn der Richtige kommt – und es richtig anstellt.«

Der Tonfall der letzten Worte rüttelte Wilkins jäh aus seiner teilnahmslosen Versunkenheit auf. »Ich wäre sehr glücklich, Lady Helen«, flüsterte er mit einem werbenden Blick zurück, »wenn ich diese Bemerkung als einen kleinen Fingerzeig auffassen dürfte. Wenn man das Empfinden hat, der Richtige zu sein, ist es ja nicht so schwer, es richtig anzustellen.«

»Als kleinen Fingerzeig?« Die interessante Frau ließ ihr angenehmes dunkles Lachen hören. »Sie wollen wohl sagen als Wink mit dem Zaunpfahl? Nein, das sollte es nicht sein. So leicht darf man es den Männern nicht machen.«

»Sie machen es mir aber zu schwer«, beklagte sich der Oberst gereizt. »Wenn ich Ihnen etwas mehr wäre als . . .«

»Pschtscht«, gebot Lady Helen leise. »An einem so festlichen Abend bin ich nicht in der Stimmung, über so tragische Dinge zu sprechen.«

»Natürlich.« Es klang sehr bitter. »Das höre ich ja bei jeder Gelegenheit. Und ich muß mich wohl allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, daß Sie überhaupt nie in dieser Stimmung sein werden.«

Lady Falconer blickte aufmerksam in den goldenen Taschenspiegel und tupfte mit dem Handschuh an den Konturen ihrer Lippen herum. »Das kann man nicht wissen«, erwiderte sie mit bedächtigem Ernst. »Vielleicht . . .«

Sie sprach indessen nicht weiter, und Oberst Wilkins zuckte unwillig die Achseln. Dieser verwünschte Abend stellte an ihn Anforderungen, denen seine Selbstbeherrschung nicht gewachsen war.

Auch Admiral Sheridan fühlte sich gewissen Dingen nicht gewachsen. »Es ist so, wie ich Ihnen sagte«, fauchte er seinem Tischgenossen aufgeregt ins Ohr. »Auf meine Augen kann ich mich verlassen. Es hat irgend etwas zwischen den beiden gegeben. Mir ist ja schon die Nelke aufgefallen. Was, zum Teufel« – sein fein besaiteter Nachbar zuckte zusammen, und der Admiral beendete rücksichtsvoll –, »kann da los sein?«

»Wir werden es abwarten müssen«, flüsterte Sir Frederick noch leiser als sonst.


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