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6

An dieser Stelle ließ Simon eine Pause in seinem Bericht eintreten. Die in ihm aufsteigenden Erinnerungen an jene Szene stimmten ihn so nachdenklich, daß er nur still lächelnd vor sich hinnickte. Wenn er etwa erwartet hatte, daß John Jones zu dieser seltsamen Geschichte eine Bemerkung machen würde, so sollte er sich darin getäuscht sehen, denn dieser Jüngling betrachtete im Moment den leichtbeschwingten Flug des Habichts, hoch oben in den Lüften, und schien für nichts anderes Interesse zu haben.

»Vielleicht werden Sie sich wundern«, fuhr Joseph Simon schließlich fort, »wie ich in das Haus der Vereals kam und so ihr Privatleben kennenlernte. Das will ich Ihnen sogleich erzählen.

Ich habe bereits gesagt, daß die Extravaganzen der Familie denen eines regierenden Fürsten nicht nachstanden. Sie kümmerten sich nicht um die Zukunft, solange ihr Ansehen und Einfluß keinen Schaden litt. Unter diesen Umständen reichten Minen, Herden und Farmen allein nicht aus, ihren Aufwand zu bestreiten. Dazu war noch mehr erforderlich, und zwar sehr viel Bargeld.

Abgesehen von den Wohlfahrtsaufwendungen in San Triste verschlangen auch noch andere Ausgaben große Summen. Es war zum Beispiel gang und gäbe, daß jeder Sohn der Familie eine ausländische Universität besuchte, um seine Studien abzuschließen. Jeder mußte seine Auslandsreisen machen und durfte die Repräsentation dabei natürlich nicht außer acht lassen. Ein Kammerdiener, ein oder zwei Sekretäre, ein Majordomo, der dem Haushalt vorstand, und viele andere, die ihrerseits wieder ihre Bediensteten hatten, bildeten den Reisetroß. Der Gedanke, ein Vereal könnte zum Knauser geworden sein, würde ganz San Triste zum Erröten gebracht haben, wenn so etwas in der Heimat bekannt geworden wäre!

Solch einen Aufwand konnte natürlich nicht einmal ein Krösus auf die Dauer bestreiten. Die Vereals gerieten immer tiefer in Schulden. Schließlich wurden ihre Gläubiger ungeduldig und drängten auf sofortige Zahlung, denn sie befürchteten, daß die Gesamtverpflichtungen der Vereals den Wert ihres Realbesitzes übersteigen könnten.

Vereal – es war der alte Don Diego – wußte nicht, was er tun sollte. Da kam einer seiner Gläubiger zu ihm und sagte: »Lassen Sie mich all Ihre anderen Schulden begleichen. Dann haben Sie es nur noch mit mir zu tun. Ich werde Sie mit der Rückzahlung des Geldes nicht drangen, sondern Sie brauchen nur die Zinsen zu zahlen, bis Sie nach einigen Jahren imstande sind, mit der Amortisation des Kapitels zu beginnen.«

Das war ein edelmütiger Vorschlag, den ihm dieser Mann – es war mein Vater, Jacob Simon – machte. Vereal konnte sich dem nicht widersetzen. Er gab seine Zustimmung, und mein Vater begann die Schuldscheine, die sich in den Händen von Mexikanern befanden, aufzukaufen. Es handelte sich um so große Summen, daß mein Vater viele Liegenschaften verkaufen mußte, um die Verpflichtungen abzudecken. Er mußte sein ganzes Vermögen nach und nach mobilisieren und zum Schluß die Feststellung machen, daß er keine anderen Vermögenswerte mehr besaß als die Schuldscheine der Vereals; diese Schuldscheine beliefen sich auf zwei Millionen und sechshunderttausend Dollar.«

Als er diese riesige Summe nannte, zitterte seine Stimme vor Erregung, aber John Jones verhielt sich immer noch gleichgültig. Er hielt es nicht einmal der Mühe wert, den Erzähler anzublicken.

»Natürlich«, fuhr Simon fort, »mußten sofort irgendwelche Maßnahmen getroffen werden. Vereal vernahm die Gesamthöhe seiner Schuld mit staunenswertem Gleichmut. Er ließ seinen Obersekretär herbeirufen, der die geschäftlichen Angelegenheiten der Familie zu ordnen hatte. »Ich schulde eine Summe von ungefähr drei Millionen – etwas mehr oder weniger spielt keine Rolle«, sagte er zu diesem. »Ich möchte die Schuld sofort bezahlen. Lassen Sie einige Besitzungen verkaufen.« Der Sekretär wagte nicht, ihm zu erzählen, daß er, Vereal, wahrscheinlich an den Bettelstab kommen würde, falls man versuchte, drei Millionen Dollar durch einen forcierten Verkauf zu realisieren. Danach kam er zu meinem Vater und ersuchte ihn um Hilfe. Mein Vater wußte bereits um alles Bescheid. Sie können sich wohl denken, daß er sich vorher genau über den Wert der Besitzungen informiert hatte, bevor er daranging, sein Geld zu investieren.

Der gesamte Besitz hatte einen Wert von fünfeinhalb Millionen Dollar. Aber bei einem forcierten Verkauf würde man nicht die Hälfte des wirklichen Wertes erzielen können.

Als mein Vater dem Sekretär die Sachlage auseinandersetzte, sagte dieser, daß das seinen Erwartungen entspräche. Er wagte nicht, Vereal solch eine Unglücksbotschaft zu überbringen. Da suchte mein Vater Vereal auf und sprach zu ihm: »Señor Vereal, wir haben eine Aufstellung der Vermögenswerte gemacht und festgestellt, daß Ihre Schulden wohl durch einen forcierten Kauf der gesamten Liegenschaften beglichen werden können, für Sie selbst aber kaum etwas übrigbliebe.«

Vereal antwortete, ohne lange zu überlegen: »Geld oder kein Geld – es bleibt sich alles gleich. Jeder Besitz ist unweigerlich mit großen Sorgen verknüpft. Lassen Sie also alles verkaufen und nehmen Sie den Erlös an sich. Wenn nur soviel einkommt, daß Sie gedeckt sind, bin ich zufrieden. Wenn etwas für mich übrigbleibt, werde ich mich freuen. Wenn das Geld aber nicht einmal für Sie ausreicht, so werde ich das fehlende durch meiner eigenen Hände Arbeit verdienen und es Ihnen zurückzahlen.«

Das waren die eines Vereals würdigen Worte. Schon der Umstand, daß er diese Worte anhören mußte, kam meinem Vater so achtungswidrig vor, als ob er einen König entehrt hätte. Tief bekümmert kehrte er in sein Haus zurück. Tagelang zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er Vereal aus der Klemme helfen könne, doch er kam zu keinem Resultat. Mit der Zeit wurde er immer aufgeregter, und schließlich befiel ihn ein hitziges Fieber. Er starb nach zweitägiger Krankheit und überließ mir gerade in diesem kritischen Stadium die Ordnung der geschäftlichen Angelegenheiten. Glücklicherweise war ich mit allem vertraut. Außerdem hatte ich keine solche Scheu vor den Vereals wie andere Leute. Ich fürchte mich vor nichts«, sagte Joseph Simon. »Man kann mich nicht einschüchtern!«

John Jones erinnerte sich vielleicht an die ersten Augenblicke seines Zusammentreffens mit Simon, aber er lächelte nicht.

»Schließlich«, fuhr Simon fort, »kam der Zeitpunkt heran, wo ich zu Vereal ging und mit ihm unter vier Augen sprach. Ich sagte ihm so unumwunden meine Meinung, wie sie ein Vereal wohl seit vierhundert Jahren niemals gehört hatte. Ich sagte zu ihm: »Sie glauben, wunder was Sie tun, wenn Sie Ihren Besitz veräußern, um mir mein Geld zurückzugeben. In Wirklichkeit fügen Sie mir ein großes Unrecht zu. Sie werden nach meiner Meinung bestenfalls fünf Sechstel von dem, was Sie mir schulden, aus dem Verkauf erzielen.«

»Ist das nicht genug?« fragte Vereal.

»Jeder Dollar, mit Zins und Zinseszins zurückerstattet – das allein ist für mich genug!« sagte ich.

Er richtete sich in seinem Stuhl auf und starrte mich an, als wäre ich die Pestilenz. Doch ich ließ mich durch seine Mißachtung nicht abschrecken. Ich handelte ja schließlich mehr in seinem als in meinem Interesse.

»Uebrigens«, sagte ich, »mag es Ihnen persönlich ja gar nicht so unangenehm sein, diese unerfreulichen Geldgeschichten aus der Welt zu schaffen, aber Sie bedenken nicht das Interesse Ihrer Kinder. Was werden diese von Ihnen denken, wenn sie herausfinden, daß Sie sich so leichten Kaufs aus der Affäre gezogen haben, ohne ihnen auch nur das geringste zu hinterlassen?«

»In der Familie der Vereals ist die Ehre des Vaters die Ehre des Sohnes«, sagte Vereal. »Sorgen Sie sich nicht um die Bestrebungen meines Jungen. Alles, was ich tue, wird auch er gutheißen.«

»Aber es gibt eine Lösung für das ganze Problem«, entgegnete ich. »Besteigen Sie ein Schiff und reisen Sie nach Europa. Bleiben Sie einige Jahre im Ausland.«

»Wie sollte das einem bankrotten Manne möglich sein? Ich werde meine Gläubiger nicht betrügen«, wehrte er ab.

»Ich werde Ihnen das Geld vorschießen, und Sie werden imstande sein, mir die Zinsen zu zahlen, die ich für mein gesamtes Kapital verlange.« Dann entwickelte ich ihm meinen Plan bis ins einzelste.

»Sie müssen nur das altgewohnte Leben für ein paar Jahre aufgeben«, sagte ich. »Danach steht es Ihnen frei, sobald wie möglich zurückzukehren. Leben Sie ein paar Jahre lang wie ein Mann, der nur reich ist – nicht wie ein König. Wenn Sie meinen Rat befolgen, dann garantiere ich Ihnen, daß Sie wieder ein König sein werden.«

Er fragte mich, wie das möglich sein könnte, und ich erzählte ihm, daß er anstatt eines Dutzends Begleiter für sich und eines weiteren Dutzends für seinen Sohn nur zwei Leute mit auf die Reise nehmen dürfe – einen Kammerdiener für sich und einen Lehrer für seinen Sohn. Im übrigen könnte er tun und lassen, was ihm beliebte, wenn er mir die Versicherung gäbe, kein Geld für wohltätige Zwecke auszugeben. Andere Bedingungen stellte ich nicht.

Wenn er sich an die von mir aufgestellten Richtlinien hielt, konnte er soviel Geld ausgeben, wie er wollte. Ich wußte, daß ich in dieser Beziehung nichts zu befürchten hatte, weil die Vereals keine unnötigen Ausgaben für sich machten, sondern nur für andere Leute – für den Troß des Gefolges und für wohltätige Stiftungen. Vereal hörte mich ruhig an und machte ein mürrisches Gesicht, aber er nickte endlich zustimmend.

Dann setzte ich ihm noch weitere Einzelheiten des Planes auseinander. Mein Vater hatte nicht daran gedacht, sonst würde er die Idee selbst mit Leichtigkeit verwirklicht haben können. Ich schlug ihm vor, mir die unumschränkte Verwaltung des gesamten Realbesitzes zu übertragen, dergestalt, daß es meinem Ermessen überlassen blieb, Käufe und Verkäufe zu tätigen, Leute zu engagieren und zu entlassen, im Namen der Vereals Kontrakte einzugehen oder irgendwelche Erwerbungen zu machen, ganz gleich, ob es sich um eine Goldmine handelte oder um ein Mauleselgeschirr. Ich machte mich anheischig, ihm zu beweisen, was eine gute Verwaltung in ein paar Jahren zuwege bringen könnte.

Vereal forderte mich auf, ein Schriftstück abzufassen und darin alle Einzelheiten bis ins kleinste auszuarbeiten. Ich verfertigte also ein Dokument, auf Grund dessen ich mich mit dem ganzen Besitz während seiner Abwesenheit hätte davonmachen können, wenn es mir in den Sinn gekommen wäre. Nachdem ich ihm am nächsten Tage das Dokument gebracht hatte, unterbreitete er es seinem Rechtsanwalt. Dieser erbleichte, als er es zu Ende gelesen hatte. »Wenn Sie das unterschreiben«, erklärte er, »so unterzeichnen Sie Ihr Todesurteil!«

»Gut«, entgegnete Vereal. Damit nahm er das Schriftstück und schrieb seinen Namen darunter. Dann gab er es mir. »Ich werde Sie bei Ihrer Arbeit von keinen Spionen bespitzeln lassen«, sagte er. »Ich werde Ihnen voll und ganz vertrauen. Sie sind jetzt der Herr und Meister, mein Freund Simon!«

Am Tage darauf schiffte er sich nach Europa ein und ließ sein ganzes kleines Königreich in meinen Händen zurück.«


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