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Wenn man die Leute von San Triste nach der Familiengeschichte der Vereals gefragt hätte, so würden sie zweifellos auf einen Akt der Torheit seitens dieses fürstlichen Geschlechts hingewiesen haben, und zwar auf eine Mißheirat. Die Folgen dieses unbesonnenen Schrittes verspürten die Städter nun an ihrem eigenen Leibe, wie sie glaubten.
Einstmals war das Geschlecht der Vereals ebenso zahlreich wie reich und mächtig gewesen, aber im Laufe der Jahrhunderte war die Hauptlinie immer mehr und mehr zusammengeschmolzen, bis schließlich nur noch wenige Nachkommen übrigblieben. So kam es, daß die Geburt eines männlichen Erben von den Städtern jedesmal mit stürmischer Freude begrüßt wurde.
An Anbetracht dieser Umstände gestalteten sich die Heiraten der Töchter zu einem Problem, dem man die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen mußte, da es durchaus im Bereich der Möglichkeit lag, daß der Name und die Besitzungen der alten Familie einmal einer verheirateten Tochter zufielen.
Nun hätte man annehmen sollen, daß der alte Don Diego vor allen anderen Vereals darauf bedacht gewesen wäre, die heiligen Traditionen der Familie zu wahren; aber merkwürdigerweise war es gerade Don Diego, der zu dieser Mißheirat Anlaß gab. Sein ältestes Kind war eine Tochter, die als junges Mädchen auf Anraten ihres Vaters die Frau eines Cabrillo wurde. Die Cabrillos waren Pulquefabrikanten in Mexiko City; und was zu ihrem Nachteil noch weit mehr ins Gewicht fiel: sie waren sogar in der Alkoholfabrikation Neulinge.
Ihre Geschichte ließ sich höchstens eine Generation zurückverfolgen. Es wurde sogar behauptet, daß der alte Cabrillo, der den Grundstein zu dem Familienvermögen legte, ein gewöhnlicher Hirt gewesen sei. Sei dem, wie ihm wolle, die Tatsache ließ sich jedenfalls nicht leugnen, daß das Aussehen der Familienmitglieder auf eine niedrige Abstammung hindeutete. Nur der junge Francisco stach in dieser Beziehung vorteilhaft von den übrigen ab. Er war schlank und elastisch gebaut, zuvorkommend in seinem Benehmen und stets vergnügt und guter Dinge.
Als solch einen Mann lernte ihn Don Diego kennen. Sie wurden Freunde; sie wurden sogar sehr vertraut miteinander. So kam es, daß Vereal schließlich seine einzige Tochter mit diesem Mann verlobte.
Er hatte es nicht einmal der Mühe wert gehalten, die Familie seines jungen Freundes kennenzulernen. Allerdings war Francisco auch darauf bedacht gewesen, seine Verwandten von San Triste fernzuhalten. Aber als sie an dem Hochzeitstage eintrafen, um an der Feierlichkeit teilzunehmen, und Vereal ihrer Physiognomien ansichtig wurde – diese Stupsnasen, kleinen Augen, wulstigen Lippen ~, fühlte er sich angewidert. Aber dem Lauf der Dinge ließ sich nicht mehr Einhalt gebieten. So wurde seine Tochter mit Cabrillo vermählt. Der Ehe entsproß ein Sohn, Manuel.
Wie dieser auch immer geartet sein mochte, im Aussehen war er ein echter Cabrillo. Er hatte kurze, gekrümmte Beine, einen breiten Rücken, lange, kräftige Arme und einen wuchtigen Stiernacken, auf dem ein riesiger Kopf ruhte, der durch die niedrige Stirn und das vorstehende Kinn geradezu abstoßend wirkte. In Frankreich hatten sich die besten Lehrer seine Erziehung angelegen sein lassen und nach Kräften versucht, einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen. Aber wenngleich sein Geist aus den Bemühungen der Lehrer Nutzen gezogen haben mochte, so hatte sein Aeußeres dadurch doch keineswegs profitieren können.
Dieser Mann hatte das riesige Vermögen der Vereals, das durch die Aktivität Joseph Simons gerettet worden war, geerbt. Er saß an diesem Tage unter den Palmen am Abhange des Hügels, auf dem die Casa Vereal stand. In seiner Gesellschaft befand sich Frederico de Alvarado, der jetzt die älteste und angesehenste Familie in der Stadt repräsentierte, nachdem die Vereals ausgestorben waren.
Sein Aeußeres stand in krassem Gegensatz zu dem Cabrillos. Er war ein gerade gewachsener, schlank gebauter Edelmann, in mittlerem Alter. Sein Gesicht war schmal, die Farbe seiner Augen dunkel und die Hände fast so schlank und zart wie die einer Frau. Man konnte ihm auf einen Blick ansehen, daß ein Alvarado seit Generationen nicht gewohnt gewesen war, sich vor irgend jemandem zu demütigen oder sich mit körperlichen Arbeiten zu befassen.
Alvarado war ganz nach Pariser Mode gekleidet, und er hätte sich in seinem Aufzug in der besten Gesellschaft sehen lassen können. Aber Cabrillo hätte selbst in der feinsten Kleidung keinen kultivierten Eindruck gemacht. Obgleich er einen modernen Anzug trug, zeigte sich sein gewöhnlicher Geschmack dennoch in einer Beziehung: seine Hosen wurden durch eine in den krassesten Farben schillernde seidene Schärpe festgehalten, die mehrmals um seine Taille geschlungen war.
Er saß mit gespreizten Beinen in lässiger Haltung auf seinem Stuhl. Frederico de Alvarado fand ihn so widerwärtig, daß er es nicht über sich bringen konnte, seinen Gastgeber anzusehen. Wenn er aber wirklich einmal seine Augen aufschlug, so heftete er seinen Blick nicht etwa auf das Gesicht seines Gegenüber, sondern auf irgendeinen beliebigen Gegenstand oder auf den weißleinenen Kragen, der dem stiernackigen Cabrillo das größte Unbehagen bereitete.
Sie hatten sich bisher über gleichgültige Dinge unterhalten, aber Cabrillo war ein Mann, der es liebte, ohne viel Umschweife auf sein Ziel loszusteuern. Wie er nun sein Weinglas leerte, machte er ein mürrisches Gesicht und rief dann mit lauter Stimme nach einem hinter dem grünen Buschwerk in Bereitschaft stehenden Diener.
»Bring mir Tequila«, trug ihm Cabrillo auf. »Dieser Wein schmeckt wie Wasser. Man füllt sich damit den Bauch an, ohne einen Genuß zu haben. Tequila, schnell!«
In seiner Gier nach dem Branntwein wurde er so unruhig, daß er von seinem Stuhl aufsprang und hin- und herlief, bis die neue Flasche herbeigebracht wurde. Er riß sie dem Diener aus der Hand, füllte sein Glas mit dem farblosen Getränk und leerte es in einem Zuge.
»Mein Freund«, sagte er dann herzlich, »nun kann ich endlich sprechen. Wenn uns Gott keinen Branntwein geschenkt hätte, wäre ich kaum besser dran als ein stummer Mann. Um es kurz zu sagen – ich habe Sie hierher gebeten, weil ich den Wunsch hege, Sie zu meinem besten Freunde zu machen, Alvarado! Ich habe Ihren Brief bezüglich des Geldes gelesen. Wenn Sie die Zinsen in diesem Monat nicht bezahlen können, so ist das auch kein Beinbruch. Darüber machen Sie sich nur keine Gedanken. Wir könnten sogar leicht zu einem Arrangement kommen, auf Grund dessen Sie mir keinen einzigen Peso schulden würden!«
»Wie könnte das möglich sein?« fragte Alvarado.
»Das ist sehr einfach. Sehen Sie mich an, Señor! Dann werden Sie sich fragen: gibt es irgend etwas, was diesem Manne abgeht? Er ist vierzig Jahre alt, kräftig und gesund; er kontrolliert ein großes Vermögen; er besitzt einen besseren Haushalt als irgend jemand in Mexiko, wie ich fast sagen möchte; keinen Wunsch braucht er sich zu versagen: das werden Sie denken. Aber ganz so verhält es sich dennoch nicht! Etwas fehlt mir zur Vervollständigung meines Glücks. Was wäre es für ein Unglück, wenn ich ohne Kinder stürbe und das ganze Vermögen meinem idiotischen Vetter zufiele? Nun, was sagen Sie dazu, Señor?«
»Eine Heirat ist an und für sich ganz gut und schön,« sprach Alvarado bedächtig, »aber manchmal will es mir scheinen, als ob viele Männer nur aus reiner Gewohnheit heiraten.«
»Sehr richtig, sehr richtig«, sprach Cabrillo herzlich. »Ich verachte – ich hasse solche Burschen. Ein Mann soll solange warten, bis er das Mädchen seiner Wahl gefunden hat. Dann soll er nicht zögern und diese Frau heiraten!«
Eine kleine Pause trat ein, während der Alvarado auf seinem Stuhl verlegen hin und her rückte.
»Vielleicht ist das das Richtige,« sagte er. »Ah, was ist das?«
Das Klappern flüchtiger Pferdehufe drang an ihr Ohr. Dann sahen sie auf der nach dem Fluß führenden Straße sechs Männer aus der Stadt hinaussprengen und in voller Karriere davonreiten.
»Ha!« schrie Cabrillo, indem er seine Hände zusammenschlug und im Augenblick das Gesprächsthema vergaß. »Spätestens morgen werden wir von ihnen zu hören bekommen. Sie werden nach einem erfolgreichen Streifzug zurückkehren, diese Teufel! Sehen Sie nur, wie sie reiten! Sie sitzen wie angegossen im Sattel. So können sie den ganzen Tag reiten. Dieses Tempo würden andere Männer auf die Dauer nicht aushalten, aber sie sind nicht Männer, sondern Teufel – wundervolle Teufel! Mein Freund, gibt es außerhalb Mexikos noch anderswo so viele solcher Männer?«
»Vielleicht nirgends«, stimmte Alvarado bereitwillig zu, da es ihn angenehm berührte, daß das Gespräch eine andere Wendung genommen hatte. »Es ist sogar höchstwahrscheinlich, daß es auf der ganzen Welt keine solchen Männer gibt, die ihnen gleichkommen. Vorige Woche haben sie eine Anzahl Räuber aus der Bande Grenachos unschädlich gemacht, wie Sie wohl wissen. Wie viele waren es doch?«
»Sieben Tote und drei Gefangene«, entgegnete Cabrillo, indem er die Worte mit offensichtlicher Befriedigung bedachtsam über die Lippen brachte. »Sieben Tote und drei Gefangene«, wiederholte er, um dann aufseufzend fortzufahren: »Doch von den dreien will keiner mit der Sprache herausrücken. Selbst wenn Grenacho hundert Meilen entfernt ist, fürchten sie ihn immer noch mehr als hundert Gegner in ihrer unmittelbaren Nähe! Ah, dieser verdammte Kerl! Aber ich werde ihn schon noch zu fassen bekommen und ihn zermalmen – so – unter meinen Füßen – den Hund!«
In einer plötzlichen Wutanwandlung warf er sein Glas zu Boden und zertrat es zu tausend Scherben.
»Warum hassen Sie ihn mehr als die andern?« fragte Alvarado ruhig, wobei er in Anbetracht dieses kindischen Gebarens seine Lippen verächtlich verzog.
»Ihnen kann ich mich anvertrauen, hoffe ich. Sie haben also nicht gehört, was Grenacho sagte, als man ihn fragte, warum er seinen Eid gebrochen habe und wieder in dem Distrikt von San Triste sein Unwesen treibe?«
»Ich habe nichts davon gehört.«
»Er gab zur Antwort: ›Mein Eid band mich an einen Mann und an eine Familie, die jetzt nicht mehr existieren. Die anderen sind Narren und Weiber, die in Männerkleidung in San Triste umherlaufen. Solchen Leuten fühle ich mich zu nichts verpflichtet. Ihr habt zugelassen, daß sich ein Schwein in einem herrschaftlichen Hause einnistete. Dafür müßt ihr büßen.‹«
Cabrillo schäumte vor ohnmächtiger Wut. »So nannte er mich – ein Schwein in einem herrschaftlichen Hause. Aber ich werde ihn schon noch zu fassen bekommen!«
Er atmete in tiefen Zügen, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte. Dann sagte er: »Aber ich will auf den Ursprung des Gesprächs zurückkommen. Das interessiert mich weit mehr als dieser Hund, dieser Grenacho. Es handelt sich um Ihre Tochter! Ja, ja, Senor. Sie erschrecken, aber meine Wahl ist nun einmal auf sie gefallen, auf die schöne Alicia!«
»Sie ist kaum dem Kindesalter entwachsen«, wandte Alvarado mit heiserer Stimme ein.
»Bah! Sie ist achtzehn. In dem Alter sollten alle Mädchen bereits verheiratet sein. In der Ehe werden sie zur Vernunft gebracht. Sonst wachsen sie ihren Vätern über den Kopf. Sie müssen mit Peitsche und mit Sporen zurechtgestutzt werden. Sie brauchen einen Gatten, der sie im Zaume hält.«
Alvarado war blaß geworden. »Señor«, sagte er, wobei er sich wieder verbeugte, »Sie sind zu gütig gegen mich. Ich bin tief gerührt. Diese Angelegenheit erfordert jedoch reifliche Ueberlegung. Ich kann Ihnen nicht sofort eine Antwort geben.«
»Nicht?« fragte Cabrillo gekränkt. »Kommen Ihnen Heiratskandidaten wie Cabrillo jeden Tag ins Haus?«
Alvarado zwang sich, eine hitzige Erwiderung zu unterdrücken, was ihm nur mit großer Mühe gelang.
»Ich gebe zu, daß Sie mir und meiner Tochter eine große Ehre erweisen«, sagte er. »Aber ihre Mutter muß natürlich auch erst befragt werden. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ich betrachte die Angelegenheit vom geschäftlichen Standpunkt«, antwortete Cabrillo, indem er mit der Hand so heftig auf den Tisch schlug, daß die Gläser klirrten. »Passen Sie auf, was ich Ihnen sage: Laut unserem Abkommen schulden Sie mir Geld, und ich muß es in irgendeiner Form zurückerhalten. Ich bin in dieser Beziehung sehr liberal. Sie können mir die Summe in bar zahlen oder mich mit Ihrer Tochter abfinden. Sie sehen, ich bin freimütig. In geschäftlichen Dingen haben Sie eine sehr unglückliche Hand bewiesen. Aber Gott hat ihnen einen Schatz gegeben. Trennen Sie sich von ihm, und Sie brauchen sich um finanzielle Angelegenheiten keine Sorgen mehr zu machen. Ich, Cabrillo, verbürge mich mit meinem Wort dafür!«
Alvarado erhob sich. »Ich will sogleich mit meiner Frau sprechen«, sagte er mit unterdrückter Stimme. »Señor, ich bitte Sie, sich kurze Zeit zu gedulden. Und besten Dank, für die liebenswürdige Bewirtung!«
Mit diesen Worten nahm er von Cabrillo Abschied. Als er in den Wagen gestiegen war, sagte er zu dem Kutscher: »Die Peitsche, Juan, die Peitsche! Ich muß im Nu zu Hause sein!«
So ging es in rasender Hast zum Tor hinaus, und bald war das Gefährt an Ort und Stelle angelangt. Alvarado stürzte in sein Haus und traf seine Frau im Garten an.
»Liebe Frau«, sagte er, indem er sie zur Seite zog, »wir sind ruiniert; das Schlimmste ist über uns hereingebrochen. Das Schwein auf dem Hügel in der Casa Vereal verlangt entweder volle Zahlung oder unsere Tochter!«
Die Señora blieb steif wie eine Statue stehen und preßte ihre dünnen Lippen zusammen. Sie schien angestrengt nachzudenken, und dann leuchteten ihre Augen.
»Schließlich ist es zuweilen doch ratsam, wenn man eine Demütigung in den Kauf nimmt«, sagte sie. »Man muß alles gründlich in Erwägung ziehen. Wenn Cabrillo ein Schwein ist, wie du sagst, so – ist sein Haus doch wenigstens nicht ein Schweinestall!«