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Die Tochter Alvarados erwachte plötzlich. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Es kam in letzter Zeit ziemlich häufig vor, daß sie keinen Schlaf finden konnte. Als sie in dieser Nacht ihre Augen aufschlug, war sie augenblicklich bei klarem Bewußtsein, und sie entsann sich sofort des Geräusches, das sie aus dem Schlaf geschreckt hatte.
Draußen hatte sich das Stampfen vieler Pferdehufe vernehmen lassen, und als es verstummte, war sie erwacht. Sie war während der vergangenen Nächte noch durch weit geringere Geräusche aus ihrem Schlummer aufgescheucht worden – seit dem Abend, wo ihr Vater diese kaltherzigen, erbarmungslosen Worte gesprochen hatte: »Sie soll den Mann heiraten, dem sie an verlobt ist; sie soll entweder Cabrillo heiraten oder als alte Jungfer sterben. Gott möge mir beistehen, dieses Gelöbnis zu halten!«
Alicia war es gewesen, als hätte sie ein grausames Geschick zur ewigen Verdammnis verurteilt; und seit der Zeit war ihre Ruhe dahin. Sie regte sich über die geringste Kleinigkeit auf. Das Ticken der Uhr ließ sie zusammenfahren. Es kam ihr beinahe wie eine menschliche Stimme vor, die sie an jene unheilvollen Worte Frederico de Alvarados gemahnte. Selbst ihrer Mutter ging sie nach Möglichkeit aus dem Wege. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, erkannte sie sich selbst kaum wieder, so bleich und verängstigt sah ihr Gesicht aus.
Als sie nun, vor Erregung am ganzen Körper zitternd, in ihrem Bett lag, hörte sie die Kirchturmuhr Mitternacht schlagen – zuerst vier hellklingende, langsam verhallende Glockentöne; dann, langsam aufeinanderfolgend, die einzelnen dumpfen Stundenschläge. Sie konnte sich entsinnen, daß die Uhr früher viel schneller geschlagen hatte, aber jetzt schien zwischen dem einen Glockenschlag und dem folgenden eine ganze Ewigkeit zu liegen.
Sie glitt aus dem Bett, breitete ihren seidenen Schlafrock um die Schultern und schritt auf das Fenster zu. Die Wand war so dick, daß sie nicht auf die Straße hinabblicken konnte. Sie kletterte also auf das Fensterbrett und sah nun das Bild vor Augen, das im Schlaf ihren Sinn gekreuzt hatte. Es war ein Anblick, der sie schaudern machte.
Eine lange Reihe von Pferden stand auf der Straße. Die Tiere schüttelten ungeduldig die Köpfe; die Reiter saßen unbeweglich in den Sätteln und blickten gespannt drein, als warteten sie auf ein Signal.
Jetzt schlug jemand mit der Hand gegen das geschlossene Tor, das zum Patio führte. Sie hörte, wie der Wächter verschlafen und etwas furchtsam fragte: »Wer ist da?«
Dann ließ sich eine heisere, tiefe Stimme vernehmen: »Wo ist Frederico de Alvarado?«
»Im Bett, wo alle friedfertigen Bürger um Mitternacht hingehören!«
»Unverschämter Halunke!« schrie der nächtliche Störenfried. »Mach sofort die Tür auf, oder ich schlage das Schloß ein.«
Diesmal handelte es sich also nicht um ein Hirngespinst, das sie aus dem Schlaf geschreckt hatte, sondern es war wirklich Gefahr im Verzuge. Sie wurde ruhiger. Ihre Hände zitterten nicht mehr. Sie ging in das Ankleidezimmer, das neben ihrem Schlafzimmer lag, und zog sich schnell an.
Fast freute sie sich über die gefahrverheißende Ankunft so vieler Reiter, denn nun machte sie sich nicht mehr um sich selbst Sorgen, sondern um ihre Eltern, die sie trotz allem zärtlich liebte – die berechnende, praktische Mutter und selbst den hartherzigen Vater.
Schließlich ging sie in das Schlafzimmer zurück und öffnete die Tür nach dem Korridor. Ein leises Rumoren ließ sich im Haus vernehmen. Es ging anderen vielleicht ebenso wie ihr: Sie kleideten sich an, um zu lauschen.
Dann hörte sie plötzlich die ernste Stimme ihres Vaters: »Hier herein, meine Freunde! Ich will hören, was Sie vorzubringen haben!«
Sie trat auf den Korridor hinaus und glitt die dunkle Treppe hinunter. Auf den untersten Stufen blieb sie zusammengeduckt stehen und spähte durch die angelehnte Tür des Bibliothekzimmers. In dem Raum befanden sich ein Dutzend bewaffneter Männer und ihr Vater, der vollständig angezogen war. Er hatte zweifellos noch nicht im Bett gelegen, denn er war ein Mann, der bis spät in die Nacht hinein bei seinen Büchern zu sitzen pflegte.
Im Schein der Lampe konnte sie die rauhen, unrasierten Gesichter der Fremdlinge sehen. Die Hälfte von ihnen hatte so wenig Schicklichkeitsgefühl, daß sie nicht einmal die Hüte abnahm. Eine schlanke, jugendliche Gestalt befand sich unter ihnen, bei deren Anblick ihr Herz stürmisch zu klopfen begann. Eine Zeitlang war sie sich über ihn nicht im klaren; aber dann erkannte sie, daß es nicht der Mann aus der Casa Vereal war.
Es war jemand, der ihm sehr ähnlich sah. Und doch bestand ein Unterschied zwischen den beiden, der sich trotz des täuschend ähnlichen Gesichts und desselben behenden Körperbaues deutlich bemerkbar machte. Der Mann, dessen Gesicht ihrem Geiste vorschwebte, hatte ein markanteres Profil, eine edlere Stirn, und seine Arme und Schultern deuteten auf größere Körperkräfte.
Ein alter Mann trat aus der Gruppe hervor. Sie betrachtete ihn interessiert. Selbst sein hohes Alter hatte seine feinen Gesichtszüge nicht zu entstellen vermocht. Er war entweder krank oder sehr, sehr müde, denn der junge Mann geleitete ihn behutsam zu einem Stuhl.
»Dies ist der Mann, der Ihnen den Beweis erbringen wird, Señor«, sagte der Jüngling.
»Es scheint ein ehrwürdiger Herr zu sein«, entgegnete ihr Vater ruhig. »Es wundert mich nur, ihn in solch einer Gesellschaft zu sehen.«
Er betrachtete die bärtigen Banditen mit kalten Blicken. Die gaben ein unwilliges Brummen von sich, rührten sich aber nicht vom Fleck.
»Meinen Namen«, sagte der Greis, »hat der Señor bereits vor vielen Jahren gehört. Ich heiße Louis Gaspard.«
»Louis Gaspard«, murmelte ihr Vater. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich erinnere mich nicht an den Namen.«
»Denken Sie einmal nach, Señor. Sie haben mich in vergangenen Zeiten oft in der Casa Vereal gesehen.«
»Ah?« sagte Alvarado, und nun neigte er sich auf seinen Stuhl vor und begann das Gesicht des alten Mannes aufmerksam zu betrachten. »Es beginnt mir zu dämmern. Jawohl, Señor, ich habe Sie früher gesehen, und ich finde sogar, daß Sie sich in den langen Jahren nicht einmal allzusehr verändert haben. Wie war doch der Name?«
»Louis Gaspard.«
»Beim Himmel!« rief Alvarado. »Sie waren der Lehrer des jungen José, mit dem Sie in derselben Nacht aus San Triste verschwanden. Stimmt das?«
»Es stimmt, Señor.«
»Dann werden wir also endlich die Wahrheit erfahren. Kam er mit dem Leben davon? Wurde er bei dem Sturm auf das Haus getötet?«
Der alte Mann senkte den Kopf; Alicia konnte sehen, wie er vor Erregung zitterte. Dann berichtete er eine höchst seltsame Geschichte, der sie keinen Glauben geschenkt haben würde, wenn sie nicht an dem Gesichtsausdruck ihres Vaters erkannt hätte, daß er von der Wahrheit des Gehörten vollkommen überzeugt war. Wenn er keine Zweifel hegte, mußten schon gewichtige Gründe vorliegen, denn er war alles andere als ein leichtgläubiger Mann. Schließlich sprang er von seinem Stuhl auf und rief: »Und dieser Mann, Gaspard?«
Er deutete auf den jungen Mann, der dem anderen, den sie kannte, so ähnlich sah.
»Er ist es«, antwortete Louis Gaspard. »Es ist José Vereal!«
Sie sah nicht mehr, was ihr Vater tat, denn ein Schwindelanfall überkam sie, so daß sie hinfiel und hilflos und zitternd auf den Treppenstufen liegenblieb. Als sie wieder zu sich kam, war es ihr, als wenn ihr stürmisch klopfendes Herz ihr zuraunte: »Dein Vereal ist ein Lügner, ein Verräter, ein Schürzenjäger. Er hat dich in so vielen Dingen getäuscht – zweifellos auch in deiner Liebe.«
Sie konnte sich nicht erheben. Es war ihr so schwach und elend zumute, daß sie liegenblieb und mit trüben, leeren Blicken die Leute in der Bibliothek beobachtete. Sie bewegten sich in einem wirren Knäuel durcheinander. Sie sah, wie ein stämmiger Bursche, dessen barscher Ton an die Stimme gemahnte, die an dem Tor Einlaß begehrt hatte, eine Hand auf die Schulter Frederico de Alvarados legte und mit ihm sprach.
»Zunächst müssen wir nach der Casa Vereal eilen«, erklärte ihr Vater mit Nachdruck. »Dort werden wir den Betrüger mit einer Kugel abtun. Dann müssen wir den Goldtransport einzuholen suchen.«
»Das ist alles schön und gut, was Sie sagen«, sprach der stämmige Bursche neben ihm, »aber es ist noch etwas anderes zu bedenken, Señor! Wir können in der Casa Vereal leicht in ein Hornissennest geraten. Dieser Betrüger ist ein tapferer und unerschrockener Bursche. Er hat sich zwar in jeder Beziehung als ein Heuchler erwiesen, aber nicht was seinen Mut anbelangt. Laßt uns eine starke Streitmacht zusammenstellen. Es gibt viele beherzte Männer, die Ihrem Rufe augenblicklich Folge leisten werden, Señor Alvarado. Du, Cabrillo, kannst uns ebenfalls wertvolle Dienste leisten!«
Cabrillo! Dieser Name traf sie wie ein Dolchstich. Drüben gewahrte sie sein brutales Gesicht, seine breiten, wuchtigen Schultern. Dieser furchtbare Anblick verlieh ihr genügend Kräfte, sich zu erheben. Doch es widerstrebte ihr, in ihr Zimmer zurückzukehren. Es würde nicht lange dauern, bis diese gefährliche Männerschar unter Anführung ihres Vaters nach der Casa Vereal hinauf stürmte, um das Leben des namenlosen Mannes zu vernichten, der gesagt hatte, daß er sie liebe.
Ein wehmutsvolles Gefühl des Mitleids krampfte ihr Herz zusammen. Es war nicht Liebe, suchte sie sich weiszumachen, denn solch ein Verräter verdiente nur gehaßt zu werden. Doch sie mußte immer wieder an das Gesicht denken, das sie auf der Plaza Municipal so dicht vor Augen gesehen hatte, und – an die abstoßende Physiognomie Cabrillos.
Sie ging die Treppe hinunter und eilte nach dem Stallgebäude. In einer Seitenbox fand sie ihre rotbraune Stute, Julietta. Alicia sattelte sie schnell, führte sie durch eine Seitentür auf die Straße, und bald klapperten die eisenbeschlagenen Hufe Juliettas nach der Casa Vereal davon.