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Es gibt nichts in der Welt, was etwas so sanft zum Ausdruck bringen könnte wie die menschliche Stimme; und die sanfteste von allen menschlichen Stimmen war die, die John Jones, alias der Kid, im Schlaf vernahm. Sie mischte sich in seine Traumideen; sie klang wie das ferne Rauschen der Meereswogen; sie brachte ihn ganz allmählich zum Bewußtsein. Schließlich öffnete er die Augen und entsann sich, daß die Stimme hartnäckig geraunt hatte: »Señor Vereal – Señor Vereal.«
Es war natürlich der Kammerdiener, Emile Fleuriot, gewesen, der ihn geweckt hatte. Der Kid richtete sich etwas in die Höhe und stützte sich auf einen Ellenbogen. Sogleich wurde ihm ein dickes, weiches Kissen sorgsam hinter die Schultern gedrückt, so daß er sich bequem dagegenlehnen konnte. Dann schlüpfte er mit den Armen in eine bereitgehaltene Morgenjacke, die aus feinster chinesischer Seide bestand – ein grünes, mit goldenen Streifen durchzogenes Gewebe.
Nun hielt ihm der alte Emile Fleuriot mit seinen knochigen Fingern das Tablett hin, auf dem eine Tasse Schokolade dampfte. Aber das Getränk war beileibe nicht zu heiß. Nein, nein! Das stand nicht zu befürchten. Es war weder zu heiß noch zu kalt, sondern hatte genau die Wärme, die den Körper frühmorgens angenehm zu beleben pflegt.
Der Kid hob die Tasse langsam von dem Tablett auf, nahm einen kräftigen Schluck und schloß dann die Augen, während ihm eine wohlige Wärme durch den Körper rieselte. Er war natürlich völlig munter und verspürte einen Appetit wie ein Wolf, der sich nach einem dreitägigen Schlaf ausgehungert von seinem Lager erhebt, um auf Raub auszugehen. Aber er durfte sich seinen Hunger keineswegs anmerken lassen, denn Fleuriot hatte während dreier Generationen im Hause der Vereals gedient und mußte schließlich mit deren Lebensbedürfnissen genau Bescheid wissen.
Der Kid hatte ihn bereits eine ganze Woche lang unauffällig, aber scharf beobachtet und auf diese Weise herausgefunden, wie ein Vereal zu leben pflegte. Die Vereals schliefen zum Beispiel gern lange. Deshalb durfte er seinen nächtlichen Schlaf nicht auf seine gewohnten sechs Stunden beschränken, sondern mußte zum wenigsten eine längere Ruhezeit vortäuschen. So ging er allabendlich um zehn Uhr zu Bett und schlief bis Mitternacht.
Schlag zwölf Uhr stand er auf, schlich sich geräuschlos wie eine Katze zum Hause hinaus und lustwandelte unter dem Sternenhimmel. Um drei Uhr lag er wieder in seinem Bett; morgens wurde er um sieben geweckt. Das hatte sich zu einem feststehenden Programm entwickelt. Hätte er sich geweigert, sich um zehn in sein Schlafgemach zurückzuziehen, so würde Emile chokiert gewesen sein, und so etwas mußte er unter allen Umständen vermeiden. Denn ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß der alte Diener bereits einen gewissen Verdacht hegte. An diesem Morgen schlug er kaum merklich die Augenlider auf und prüfte das Profil des alten Mannes mit dem größten Interesse. Es war ein abgezehrtes, mit unzähligen Runzeln bedecktes Gesicht. Obgleich die Augen so tief in den Höhlen lagen, daß man meistens kaum etwas von ihnen gewahrte, hatten sie den Kid doch stets fasziniert. Ebenso ausdrucksvoll wirkte auch die breite, hohe Stirn Emile Fleuriots. Dem Kid wollte es fast scheinen, als habe er nicht einen Diener vor sich, sondern einen Gelehrten, der die Abgeklärtheit und Weisheit des Alters in sich verkörpere.
Der Kid würde nie auf den Gedanken gekommen sein, solch einen ehrwürdigen, alten Mann zu täuschen, wenn er nicht gewissermaßen dazu gezwungen worden wäre. Denn sobald es bekannt wurde, daß wieder ein Vereal in San Triste residiere, kamen die alten Diener, die noch am Leben waren, herbeigeeilt.
Emile hatte zum Beispiel seine hübsche, kleine Farm im Rhonetal verlassen – alles, was ihm lieb und teuer war: seine Kinder und Kindeskinder, seine Pferde, Hunde und Herden. Betrübten Herzens, aber ohne zu zögern, hatte er sich von alledem getrennt, um zu dem Sohne seines toten Herrn zurückzukehren.
Nachdem Emile in den französischen Zeitungen von der plötzlichen Restauration der Vereals in Mexiko gelesen hatte, traf er unverweilt seine Maßnahmen, und innerhalb weniger Wochen landete der gute alte Mann in Vera Cruz. Er hatte seine alten Funktionen wieder mit einer Selbstverständlichkeit aufgenommen, als wäre er nie abwesend gewesen. So kam das alte Regime in der Casa Vereal wieder zu Ehren.
Der altersschwache, weißhaarige Majordomo, Vasco Corteño, war einer der ersten gewesen, die zurückkehrten. Er hatte beim Anblick des jungen Herrn geweint und Cabrillo und dessen Ahnen verflucht, weil dieser an den alten Verhältnissen zu rütteln gewagt hatte.
Mit der Ankunft Corteños schwand jede Art von Neuerung. Er brachte alles wieder in das alte Geleise. Die Posten der alten Diener, die inzwischen gestorben waren, wurden neu besetzt. Dazu wurde nicht einmal die Genehmigung des jungen Vereals für nötig befunden, denn was Corteño für ihn und sein Haus dekretierte, galt als einwandfrei.
Der Kid war ein König in San Triste, aber er repräsentierte doch nur das Haupt einer konstitutionellen Monarchie, deren Minister ihn streng kontrollierten und ihm nur gewisse Freiheiten gestatteten. Selbst bezüglich seiner Mahlzeiten durfte er nicht einen Wunsch äußern, weil man ihm zu verstehen gab, daß ein Vereal über solche Nichtigkeiten erhaben sei. Und er konnte seinen schwarzen Hengst nicht nach Belieben reiten, weil man ihn darauf hinwies, daß ein Vereal ein und dasselbe Pferd nicht öfter als einmal in der Woche besteigen dürfe.
Von Cabrillo hatte man bisher nichts gehört. Der erwartete Rechtsstreit blieb aus! Niemand machte dem Kid den durch Gewalt erzwungenen Besitz streitig. So neigten Jones, Halsey, Denny und Marmont schließlich der Ansicht zu, daß Cabrillo wohl doch von der Identität des rechtmäßigen Erben überzeugt sein müsse.
Joseph Simon war inzwischen durch ein chiffriertes Telegramm über den Erfolg seiner Expedition informiert worden. Er hatte sofort Anweisung gegeben, nichts zu überstürzen und nicht eher nach dem Schatz zu suchen, bis der Kid völlig fest im Sattel sitze. Er ließ eine Begründung seiner Anordnung folgen, aus der hervorging, daß er vermutete, es könnte bei der Geschichte unter Umständen noch mehr herauskommen, als er ursprünglich angenommen habe. Er wollte nämlich nicht nur den Schatz aus der Casa Vereal fortschaffen lassen, sondern auch noch versuchen, den Kid von Amts wegen als Eigentümer der Besitzungen anerkennen zu lassen. Nachdem er sie nochmals ermahnt hatte, keinerlei selbständige Entschlüsse zu treffen, verkündete er seine Absicht, selbst nach San Triste zu kommen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Dabei brachte er zum Ausdruck, daß der Haß gegen ihn in dem Zwischenraum von zwölf Jahren wohl etwas in Vergessenheit geraten sein dürfte.
»Dann ist alles verloren!« rief Marmont aus, als er von der Absicht Simons hörte. »Der Narr kann den Hals nicht voll kriegen!«
Sie hielten sich indessen strikt an die Befehle ihres Auftraggebers. Damit das häufige Zusammensein der vier Komplicen nicht gar so auffällig wirkte, ließ man verlauten, daß der Vereal an den drei »Gringos« einen Narren gefressen habe, weil sie ihn bei seinem Wiedererscheinen in San Triste so tatkräftig unterstützt hätten.
Marmont, Halsey und Denny kamen immer häufiger und häufiger zu der Casa Vereal. Man hielt es jedoch für ratsam, daß sie nicht dauernd hier wohnen blieben. Ihre Anwesenheit in dem Distrikt wurde mit der Angabe begründet, daß sie in der Nachbarschaft nach Oel suchten.
So war die Lage, als der Kid an diesem Morgen das ernste Gesicht seines Kammerdieners verstohlen betrachtete und gar zu gern gewußt hätte, ob Emile Fleuriot Zweifel an der Identität seines neuen Herrn hegte.
Während er sich anschickte, den Rest seiner Schokolade auszutrinken, sagte er zu Fleuriot: »Stell das Tablett hin, Emile. Du brauchst nicht jeden Morgen damit herumzustehen. Der Tisch versieht dieselben Dienste.«
Fleuriot errötete etwas. »Es ist wohl wahr, daß ich nicht mehr jung bin, Señor«, sagte er, »aber ich danke Gott, daß ich noch nicht zu schwach bin, das Tablett zu halten.«
Das sah Fleuriot ganz und gar ähnlich. Er handelte nach einer Etikette, die ihm seit einem halben Jahrhundert in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Nichtbeachtung dieser Etikette faßte er als persönliche Beleidigung auf. Nun vernahm der Kid leise Schritte und das Rauschen von Wasser in dem Badezimmer. Moderne Einrichtungen, wie fließendes warmes und kaltes Wasser, gab es in der Casa Vereal nicht. Das Wasser wurde jeden Morgen über einem Feuer erwärmt und in Eimern nach dem Badebassin des Hausherrn getragen.
Nachdem er seine Tasse geleert hatte, setzte er sich aufrecht. Sofort stellte Fleuriot das Tablett auf den Tisch, ließ sich auf ein Knie nieder und streifte dem Kid die Hausschuhe über die Füße.
Der Kid nahm seinen Schlafrock um und schritt langsam auf das Badezimmer zu, wobei er das Knistern des schweren, seidenen Teppichs unter seinen Füßen spürte. Der Baderaum war groß genug, um in einem weniger fürstlichen Hause als Speisesaal zu dienen.
Der Kid entledigte sich seines Morgenrocks und seiner Nachtgewänder, reckte und streckte seinen biegsamen Körper und stieg dann in das angewärmte, hellblau schimmernde Wasser.
Nachdem er sich später trocken gerieben hatte, trat er in das Ankleidezimmer, wo Fleuriot bereits mit den für diesen Tag bestimmten Kleidungsstücken seiner harrte. Er selbst hatte auf die Kleidungsfrage keinen Einfluß. Was Fleuriot für ihn auswählte, mußte er anziehen. An diesem Morgen bestand seine Aufmachung aus einem blauleinenen Anzug, einem weichen Hemd, einem blauen, rötlich geäderten Schlips, schwarzseidenen Strümpfen und breithackigen Halbschuhen.
Nun durfte er sich in das Frühstückszimmer begeben. Seine anderen Mahlzeiten konnte er nie einnehmen, ohne daß sich ein Dutzend der Honoratioren von San Triste und hin und wieder auch noch eine prominente Persönlichkeit, die der Stadt einen Besuch abstattete, um seine Tafel versammelten. Die Einladungen gingen in den seltensten Fällen von ihm aus.
Die Gäste wurden von dem Majordomo, Vasco Corteño, eingeladen, der den Betreffenden eine Karte zustellen ließ, die dem Empfänger kundtat, daß sich José Vereal das Vergnügen bereiten möchte, ihn beim Lunch oder Diner zu bewirten.
Auf der einen Seite des Frühstückszimmers befand sich eine Reihe von Fenstern, hinter denen ein kleiner Rosengarten lag, dessen niedrige Umfriedung von Kletterweinranken bedeckt war. Auf dem Tisch stand ein Gedeck für zwei Personen, obgleich nur eine zugegen war. Das doppelte Gedeck hatte sich bereits vor mehr als einem Jahrhundert im Hause der Vereals eingebürgert.
Mit dem Einnehmen des Frühstücks begannen die Tagesobliegenheiten. Ein junger, aufgeweckter Sekretär stand an der Seite des Tisches – es wäre gänzlich zwecklos gewesen, ihn zum Platznehmen aufzufordern – und erläuterte seinem Herrn die Tagesberichte, die in der letzten, von Mexiko City eingetroffenen Zeitung standen.
Denn ein Vereal durfte sich nicht der Mühe unterziehen, am frühen Morgen eine Zeitung zu lesen – weit besser, die Nachrichten wurden erst von einem fähigen Kopf zur Kenntnis genommen und ihm dann in kurzen, aber klaren Umrissen auseinandergesetzt.
Der Kid lauschte den Ausführungen seines Sekretärs mit nachdenklicher und ernster Miene, um dem Eifer des Mannes Rechnung zu tragen. Nach Tisch erschien der Majordomo. Er blieb in der Tür stehen, verneigte sich tief und verkündete, daß einige Bittsteller den Herrn des Hauses zu sprechen wünschten. Vasco Corteño hielt eine Liste in der Hand, die er nun zu Rate zog.
Da wäre der Schlächter, Puerillo, der ruiniert sei, weil er eine große Anzahl ausstehender Geldbeträge nicht eintreiben könne. Einige hundert Pesos würden dem Mann wieder auf die Beine helfen, so daß er sein umfangreiches Ladengeschäft fortführen könnte. Der Kid genehmigte die Auszahlung des erforderlichen Geldes. Corteño berichtete weiter, daß Moreño, ein kleiner Farmer, der sich dem Hungertode preisgegeben sähe, um Hilfe bis zur nächsten Ernte bitte. Der Majordomo riet seinem Herrn jedoch ab, dieses Gesuch zu bewilligen.
»Dieser Mann ist ein Schwindler, Señor«, sagte er. »Wenn man ihm heute hilft, wird man ihm morgen wieder helfen müssen!«
»Hat er eine Familie?« fragte der Kid.
»Eine Frau und sieben Kinder.«
»Laß für die Frau und die Kinder sorgen; aber sieh zu, daß Moreño keinen Pfennig bekommt.«
»Señor, das ist nicht weise gehandelt!«
»Es ist mein Wille, Vasco.«
»Es ist nicht weise gehandelt, Señor!«
»Führe meine Anweisungen aus«, sagte der Kid schroff. Vasco Corteño wurde vor Aerger rot, sah sich jedoch gezwungen, eine seiner Ueberzeugung widersprechende Anmerkung auf seiner Liste zu machen.
Nachdem noch weitere Geldbeträge bewilligt worden waren, sagte der Majordomo schließlich: »Es ist noch jemand da, Señor.« »Und wer?«
»Er hat sich heimlich vor Einbruch der Morgendämmerung herbeigeschlichen, um nicht in der Stadt gesehen zu werden. Er erwartet Sie in der Bibliothek. Es ist Cabrillo, Señor!«