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32

Das wilde Triumphgeschrei der Bande Grenachos verkündete den Verfolgten, daß das Schicksal Marmonts besiegelt war. Sie trieben die strauchelnden Maultiere gerade durch die Lücke der zweiten Bergkette und konnten bereits ihr Ziel vor sich liegen sehen. Am Fuße des langen, bis zum Meer herabfallenden Bergabhanges breitete sich die kleine Hafenstadt Ulloa aus.

»Hafen« war eigentlich zuviel gesagt. Alles, was darauf hindeutete, war eine einzige Landungsbrücke, auf der ein paar Schuppen standen, die wohl als Lagerhäuser dienten. Neben dieser baufälligen Brücke, die ziemlich weit ins blaue Meer hinausragte, lag ein langgestrecktes, schnittiges Schiff, aus dessen Schornstein dichter Rauch quoll. Macpherson hatte also Wort gehalten: er hielt sein Schiff zur Abfahrt bereit.

Es war ein höchst willkommener Anblick für die gehetzten Flüchtlinge. Sogar die Maultiere schienen zu wissen, daß das Ende des Marsches nahe bevorstand. In seiner erwartungsvollen Freude versprach Joseph Simon den ermüdeten Treibern eine Extrabelohnung, wenn sie die erschöpften Tiere rechtzeitig nach Ulloa hineinbrächten.

Aber es bedurfte keiner Geldverheißung mehr, um sie zu größerer Eile anzustacheln. Sie hatten das entfernte Geschrei der Bande Grenachos vernommen, und jedermann hielt sich für verloren, wenn die Karawane Ulloa nicht rechtzeitig erreichen sollte.

Doch das schützende Ziel lag noch weit von den Verfolgten entfernt. Selbst wenn sie Ulloa schon erreicht hatten, befanden sie sich immer noch nicht in Sicherheit. Von den Städtern hatten sie keine Hilfe zu erwarten. Die würden ihr Leben nicht für eine Handvoll Gringos aufs Spiel setzen, ganz abgesehen davon, daß die wenigen Männer doch nichts gegen Grenachos Mörderschar hätten ausrichten können, falls sie wirklich den Mut zu einem Kampfe aufgebracht hätten.

Es bewegten sich Männer auf der Brücke. Zweifellos waren es die Leute Macphersons. Die würden ihnen wenigstens bei der Verladung der kostbaren Fracht behilflich sein, wenn auch nicht zu erwarten stand, daß sie für fremde Menschen ihre Haut zu Markte tragen würden.

Alicia war sehr ernst geworden. Sie ließ ihren gedankenvollen Blick, auf John Given ruhen, als vermutete sie, ihn nicht mehr lange zu sehen.

Der Kid traf sofort seine Maßnahmen. »Alicia«, sagte er, »es dürfte bald zu einer Schießerei kommen. Du mußt vorausreiten und den Kapitän von unserem Kommen benachrichtigen. Bitte ihn in Gottes Namen, uns Hilfe zu senden. Wenn er sich nichts aus dem Leben hartbedrängter Menschen machen sollte, dann biete ihm so viel Geld an, daß selbst seine kühnsten Erwartungen übertroffen werden. Sollte er aber selbst noch nichts zu unserer Rettung unternehmen wollen, so laß wenigstens die Schiffsmannschaft in einer der Hütten Aufstellung nehmen. Von dort können wir den Ansturm solange abwehren, bis der Transport an Bord geschafft ist. Schnell, Alicia!«

»Das ist nur ein Vorwand, um mich aus dem Bereich der Gefahr zu bringen. John, laß mich bei dir bleiben! Ich fürchte mich nicht.«

»Oh, mein tapferes Mädchen«, sagte John Given. »Wenn mich Gott den heutigen Tag überleben läßt, so werde ich nur für dich leben. Aber ich sende dich um unsertwillen fort. Ich kann solch eine Botschaft nicht einem Peon anvertrauen.«

Kurz entschlossen gab Alicia ihrem Pferd die Sporen und ritt davon. Ihre Furcht und die Angst um ihren Geliebten spornten sie zu höchster Eile an. Simon und die Peons waren mit dem Maultierzuge schon eine Strecke voraus, als die drei halt machten.

»Dasselbe Manöver muß wiederholt werden«, sagte der Kid. »Der Verlierende muß in dem zweiten Paß Aufstellung nehmen.«

Sie machten nicht erst viele Worte, sondern Jeder zog schweigend eine Münze aus der Tasche und legte sie auf den Daumen. Die Silberstücke wirbelten in der Luft herum und fielen in den Sand. – Ein Kopf für den Kid; ein Kopf für Denny, eine Rückseite für Halsey.

»Das geht nicht«, sagte der Kid hastig. »Ich habe nicht daran gedacht, Halsey. Ein Mann mit einem Arm –«

»Ist ebensogut wie jemand mit zwei, junger Mann«, fiel ihm der Engländer ins Wort. »Man braucht nur Lärm zu schlagen, um diese Teufel aufzuhalten. Ich will euch ein Geheimnis verraten – ein Engländer mit einem Arm kann ebensoviel Lärm machen wie ein Franzose mit zwei Armen. Reiten Sie zu, junger Mann. Reite zu, Denny.«

Er drückte ihnen die Hand. Dann übergab er dem Kid eine dünne Brieftasche. »Sie werden eine Photographie und eine Adresse darin finden. Schicken Sie das Bild an besagte Adresse. Erzählen Sie ein hübsches Märchen – daß ich ein ehrlicher Mann war – natürlich –, der im Begriff stand, bei einem Minenunternehmen sein Schäfchen ins trockene zu bringen. Sie werden mich wohl verstehen – etwas, um sie aufzuheitern. Daß Sie mich seit langen Jahren gekannt hätten. Wenn Sie mal über den großen Teich kommen sollten, könnten Sie den Ort vielleicht auch persönlich aufsuchen. Es ist ein lieblicher, kleiner Flecken im alten Devon.«

Er trieb sein Pferd den Berg hinab, während ihm der Kid und Denny betrübt nachblickten. Ein furchtloser Mann hatte sich bereits aufgeopfert und mit seinem Tode alle seine Sünden gesühnt. Nun ritt ein anderer dem Tode entgegen.

»Zu welchem Zweck geschieht das alles?« rief Silas Denny plötzlich wütend. »Um Simons Gold zu retten! Möge er zur Hölle damit fahren! Kid, wir wollen ihn zurückrufen.«

»Glauben Sie, daß er kommen wird?« fragte der Kid.

Silas Denny seufzte. »Sehen Sie nur«, sagte er, hinter Halsey herdeutend. »Er war schon immer ein komischer Kauz, der Engländer.«

Sie sahen, wie er im Davonreiten eine kleine Staubbürste aus der Satteltasche hervorholte, sich damit sorgfältig über die Kleider strich und die Bürste wieder fortsteckte. Dann nahm er seinen Hut ab und strich sein Haar mit der Hand zurück. Zweifellos vollführte er diese Bewegungen rein automatisch, während er mit seinen Gedanken in der fernen Heimat weilte. Irgendwelche Hoffnungen auf ein glückliches Entkommen brauchte er sich nicht zu machen. Der zweite Paß ließ sich weit schwerer verteidigen als der erste, da er so breit war, daß zwanzig Männer hätten nebeneinander hindurchreiten können. Langsam strebte Halsey seinem Ziel entgegen, denn es blieb ihm noch genügend Zeit, es vor seinen Feinden zu erreichen.

»Ein verdammt komischer Kauz«, wiederholte Si Denny. »Ich mochte ihn aber trotzdem ganz gern leiden.«

Schweigend sprengten die beiden hinter der Karawane her. Schwitzend und keuchend bewegten sich die armen Packtiere auf Ulloa zu. Jeder Schritt bereitete ihnen neue Qualen. Sie hatten noch eine halbe Meile zurückzulegen, als der letzte Maulesel plötzlich zu Boden sank und liegenblieb. Als man herankam, war er bereits tot. So wurde denn das Gold von dem Packsattel genommen und in die Satteltaschen der Reiter verteilt. Bittend, fluchend, drohend ritt Joseph Simon neben dem Zuge hin und her, um die Treiber zu größerer Eile anzufeuern. Seine Stimme klang heiser, und seine Augen funkelten wild.

Selbst das Vermögen eines Krösus würde nicht ausgereicht haben, um all seine Versprechungen zu erfüllen. Die Treiber hörten indes nicht auf seine Worte. Sie waren so verängstigt, daß sie an nichts anderes dachten, als auf die ermüdeten Maultiere einzuschlagen. Sie fühlten sich höchstens versucht, die Karawane im Stich zu lassen und davonzulaufen.

Nur die beiden am Ende des Zuges marschierenden, bewaffneten Peons waren zu einem Widerstand entschlossen. Sie waren sich ihrer wichtigen Aufgabe als Nachhut wohl bewußt. Schon überprüften sie ihre Gewehre und bereiteten sich auf den Kampf vor.

So ging es Schritt um Schritt weiter. Das Ziel schien noch meilenweit entfernt zu sein, als von dem Paß das Knattern von Gewehrschüssen herüberdrang. Sie waren auf den armen Halsey gestoßen. Konnte er die Verfolger auch nur eine Sekunde aufhalten? Oder würden sie über seinen Leichnam ungehindert hinwegstürmen?

Die Maultiertreiber schnitten entsetzte Grimassen, schwankten und schickten sich an davonzulaufen; aber das Gewehrfeuer kam immer noch nicht zum Schweigen. Im Gegenteil: das Schießen in der Paßmitte wurde lebhafter. Halsey leistete tapferen Widerstand.

Nun hatte die Karawane die Stadtgrenze erreicht. Als die Packtiere in die einzige, lange, sich windende Straße einbogen, wo sie besser vorankamen, stießen die Treiber ein wildes Triumphgeschrei aus. Die Hoffnung auf einen endgültigen Erfolg belebte sie wieder. Selbst die Tiere machten erneute Anstrengungen, da sie wohl wußten, daß nach einem so furchtbaren Marsch eine Stadt Ruhe bedeutete. Immer noch knatterte das Gewehrfeuer auf dem weit hinter ihnen liegenden Paß. – Dann verstummte es plötzlich, und ein fernes Geheul drang an das Ohr der Flüchtlinge.

Halsey war tot!

Wie er gestorben war, sollten sie niemals erfahren. Seine ans Wunderbare grenzende Tat lebte indes für immer in ihrem Geiste fort: Er hatte dreißig kampferprobte Männer einige kostbare Minuten aufgehalten und so der ermüdeten Karawane Gelegenheit gegeben, einen Vorsprung zu gewinnen. Erst als sie sich in unmittelbarer Nähe des Zieles befanden, war er ihrem Ansturm erlegen.

»Well«, sagte Si Denny, »eins steht fest: es ist mehr als eine Kugel nötig gewesen, um Halsey zu töten. Gott habe ihn selig. Er war ein furchtloser Mann!«

Halsey lag in der Tat tot im Schatten eines Felsens. Zwei Kugeln waren ihm durch den Kopf gedrungen. Mit lang ausgestreckten Armen und zum Himmel gewandtem Gesicht lag er in dem Sand;

Seine letzten Worte waren gewesen: »Was für prachtvolle Soldaten diese Halunken abgeben könnten, wenn sie sich nur an Disziplin gewöhnen wollten!«

Das Ende des Zuges hatte bereits die Hälfte der Straße hinter sich, als ein wilder Schrei der beiden bewaffneten Peons verkündete, daß der Feind in Sicht kam. Alle wandten sich um und sahen die Reiter Grenachos den Paß herunterkommen. Die einzelnen Gestalten waren deutlich zu unterscheiden, und Denny zählte fünfundzwanzig Verfolger. Der Tod Halseys war ihnen also teuer zu stehen gekommen.

Nun hieben die Treiber wiederum wütend auf die Packtiere ein. Der ganze Troß setzte sich in Trab. Joseph Simon bat jedermann, der aus den Häusern zum Vorschein kam, inständig um Hilfe und versprach ihm eine fabelhafte Belohnung. Aber niemand rührte sich. Die Städter hatten schon lange erfahren, daß Grenacho der Karawane auf den Fersen sei. Und wenn Grenacho sich ein Beuteobjekt auserwählt hatte, war es nur ratsam, daß andere Leute die Finger davon ließen. Endlich kamen sie zu der Landungsbrücke und erblickten die Besatzung der Rachel.


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