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Als John Jones den Stadtrand erreichte, schickte er sich an, mit der größten Vorsicht weiterzugehen; aber er stellte sogleich fest, daß dies kaum vonnöten war, da sich die Bevölkerung von San Triste in großer Erregung befand. In dem allgemeinen Wirrwarr würde es lächerlich einfach sein, sich unbemerkt unter die Menge zu mischen.
Nach dem Lärm zu schließen, hätte man annehmen können, daß die ganze Stadt auf den Beinen war. Von der nächsten Straße drang ein ununterbrochenes Stimmgewirr zu ihm herüber, aus dem er schließlich den Schrei einer Frau heraushörte:
»El Vereal!«
Das war also der Grund des Volksauflaufs: der Vereal! Die beiden Banditen hatten somit sein Kommen bereits angekündigt!
Er biß sich ärgerlich auf die Lippen, da er mit solch einer Möglichkeit nicht sobald gerechnet hatte. Er hatte sich dieses magischen Namens nur bedient, um sich die beiden Räuber vom Halse zu schaffen. Wie hätte er auch auf den Gedanken kommen können, daß sich zwei Banditen, nach denen die Behörden wohl wegen eines Dutzends verschiedener Verbrechen fahndeten, in eine Stadt wie San Triste hineinwagen würden, um das seltsame Ergebnis ihres Raubversuches zu berichten?
Das Unglück war aber nun einmal geschehen, und diesem Umstande mußte er Rechnung tragen. Er hatte gehofft, einige Tage in der Stadt verweilen zu können, um sich mit den Leuten bekannt zu machen, seine drei Bundesgenossen ausfindig zu machen und eine günstige Gelegenheit zum Dreinschlagen wahrzunehmen. Aber nun blieb ihm nur eins übrig: er mußte sofort versuchen, den Namen und den Einfluß der Vereals ebenso unbedenklich gegen die Städter auszuspielen wie vorhin gegen die Räuber. Aber es waren zehn Jahre vergangen – oder waren es gar zwölf? –, seit ein Vereal in der Stadt residiert hatte. Wer würde sich noch so genau an die alten Vereals erinnern können, um in ihm wenigstens eine gewisse Aehnlichkeit erkennen zu können? Was würden die Städter tun, wenn sie sich wirklich von ihm blenden ließen? Wie standen sie sich mit Cabrillo? Das war ein weiterer Punkt, über den Simon keine genaue Auskunft geben konnte.
Er versteckte sich in einem Gebüsch zwischen zwei Lehmhäusern. Sein Beobachtungsposten lag direkt an der Straße, so daß er sie nach beiden Seiten überblicken konnte.
Die ganze Straße wimmelte von Menschen. Er sah Frauen, die ihre Köpfe mit schwarzen Schals verhüllt hatten, barhäuptige Matronen, halbnackt umherlaufende Kinder, zerlumpte Peons in ihrer typischen Tracht. Die Aufmerksamkeit der Menge konzentrierte sich jedoch nicht auf einen bestimmten Punkt. Was man eigentlich vorhatte, konnte John Jones aus den gelegentlich an sein Ohr dringenden Worten nicht mit Bestimmtheit feststellen. Nach den bestürzten Gesichtern der Menge zu urteilen, schien ihm jedoch so viel klar zu sein, daß eine Gefahr im Verzuge sei.
Plötzlich drängten die Massen nach einer in unmittelbarer Nähe des Lauschers liegenden Stelle zu, als sie einen Mann gewahrten, der nähere Nachrichten zu überbringen schien. Ein wichtigtuender, gutgekleideter Bursche geleitete den Herold die Straße hinunter. Nun machte er halt, erhob beide Hände und scharte die Menge mit ein paar Zurufen um sich. Alle standen in einem dichtgedrängten Kreise um ihn herum und beobachteten ihn gespannt.
»Pedro kennt die ganze Geschichte«, sagte der Wichtigtuer. »Er wird sie euch erzählen. Seid still und hört, was er zu sagen hat. Das ist heute eine seltsame Nacht für San Triste. Sprich, Pedro!«
Pedro war ein in Lumpen gehüllter Mann, der den untersten Volksschichten entstammte. Harte Arbeit und Entbehrungen hatten seinem Gesicht einen mürrischen und düsteren Ausdruck verliehen. Doch südlich des Rio Grande besitzt selbst der Verkommenste der Verkommenen die Gabe eines gewandten Erzählers. Das hagere Gesicht Pedros verzog sich zu einem Lächeln, als er sich nun anschickte, seine Zuhörer durch seine beredten Worte hinzureißen.
»Ich werde euch die Geschichte Wort für Wort erzählen, genau so, wie ich sie eben gehört habe«, sprach Pedro. »Gott möge mich auf der Stelle vernichten, wenn ich nicht streng bei der Wahrheit bleibe!« Nach diesen einleitenden Worten bekreuzte er sich feierlich. »Es trug sich folgendermaßen zu«, begann er seine Erzählung. »Juan Oñate und Gomez, der Bäcker, kamen von den Hügeln im Süden und wanderten durch den Dornbusch. Auf einer Anhöhe machten sie halt, um einen Blick um sich zu werfen, wie es müde Männer wohl zu tun pflegen, wenn sie sich in Sicht ihres noch in beträchtlicher Entfernung liegenden Heims befinden und bei sich denken: ach, wären wir doch bereits am Ziel.«
Die Zuhörer nickten verständnisvoll.
»Während sie dort standen, kamen sie auf die alten Zeiten zu sprechen«, führ Pedro fort. »Sie redeten von der Zeit, wo Oñate in dem Hause der Vereals beschäftigt war.«
Hier ließ er eine Pause eintreten. Unter den Zuhörern entstand eine Bewegung, und ein Murmeln lief durch ihre Reihen: »El Vereal!«
»Du wirst dich noch entsinnen, Cabeza, wann Oñate dort arbeitete«, sagte Pedro.
Der Wichtigtuer, der ihn hergeleitet hatte, räusperte sich und nickte. »Ich entsinne mich sehr gut daran«, entgegnete er. »Ich entsinne mich besonders an einen Tag, an dem ich den jungen Don Pedro unterwies – Gott habe ihn selig –«
Die Menge wiederholte mit gedämpfter Stimme: »Gott habe ihn selig!«
»Ich unterwies den jungen Don José im Gebrauch seiner Sporen. Er gebrauchte sie auch so gut, daß seiner Stute das Blut von den Flanken triefte. Sie bäumte sich auf und warf ihn ab. Ich glaubte, daß es um ihn geschehen sei, und lief mit einem Schrei auf ihn zu. Aber er sprang lachend auf die Beine –, denn er war ein echter Vereal.«
Ein zustimmendes Murmeln bekräftigte seine Worte.
»Er sagte zu mir: ›Das war Pech. Ich werde die Stute nochmals reiten. Aber schicken Sie den Mann mit dem dicken Gesicht fort. Ich muß lachen, wenn ich ihn sehe. Und wenn ich lache, kann ich nicht reiten!‹ Nun, dieser Mann mit dem dicken Gesicht war Oñate. Jawohl, ich erinnere mich sehr gut an jenen Vorfall. Jetzt fahre fort, Pedro. Was ist mit Oñate?«
»Oñate sprach von vergangenen Tagen in der Casa Vereal«, sagte Pedro.
»Ach, das waren glückliche Tage«, seufzte Cabeza, und die Menge seufzte mit ihm.
»Oñate sagte: ›San Triste wird nicht eher wieder glückliche Tage erleben, bis nicht ein Vereal Herr in dem Hause auf dem Hügel ist.‹«
John Jones lauschte mit klopfendem Herzen auf das fast unwillig klingende Murmeln der Masse.
»Unterdessen hatten sie ihren Weg fortgesetzt«, berichtete Pedro weiter, »als sie hinter sich Pferdegetrampel vernahmen. Sie wandten sich überrascht um und erblickten ein schwarzes Pferd, auf dessen Rücken ein junger, hübscher, gutgekleideter Bursche saß. Er sah so aus, wie der junge, zum Manne herangewachsene Don José jetzt wohl aussehen mag.«
Nun kam die Menge ganz außer Rand und Band. Ein donnerndes Stimmengetöse erhob sich, so daß John Jones die Ohren dröhnten.
»Sie waren ganz ratlos. Das konnte doch nicht möglich sein. Die beiden warfen sich verstohlene Blicke zu, als glaubten sie, einen Geist vor sich zu sehen. Was waren nun die ersten Worte dieses Mannes – oder Geistes? Was glaubt ihr wohl?« Die Städter wagten kaum zu atmen.
»Seine ersten Worte waren: »Meine Freunde und Schutzbefohlenen, ich habe von eurer Notlage gehört, die der in dem Hause auf dem Hügel lebende Fremdling verschuldet hat. Aber seid unbesorgt. Ich bin gekommen, um euch zu helfen. Ich werde fortan bei euch bleiben und mir euer Wohl nach dem Vorbilde meiner Ahnen angelegen sein lassen!‹ Da fielen Oñate und Gomez auf die Knie und versuchten, ihn mit Segenswünschen zu überschütten; aber seltsamerweise konnten sie kein Wort über die Lippen bringen. Die Stimme erstickte ihnen im Halse. Tränen traten ihnen in die Augen. Wenn ich zugegen gewesen wäre, Freunde, so würde ich mit ihnen um die Wette geweint haben, so wahr mir Gott helfe! Als sie wieder sehen konnten, war der Vereal verschwunden!«
Die Zuhörer seufzten vor Enttäuschung, und einige Rufe wurden laut: »Nein, nein! Er wird nicht davongegangen sein, da er uns doch Hilfe bringen wollte!«
»Seid still!« schrie Pedro aufgebracht. »Gott ist mein Zeuge, daß ihr Narren seid, wenn ihr euch anmaßt, die Handlungen eines Vereal zu kritisieren. Er hielt es für gut, zu verschwinden. Aber ein Zeichen wurde zurückgelassen! Ich sage euch, Freunde, daß Oñate und Gomez zwei Goldstücke vor sich liegen sahen, als sie zur Erde blickten. Sie nahmen sie auf und frohlockten, da sie nun erkannten, daß alles kein Traumgebilde, sondern Wirklichkeit gewesen war. Darauf sahen sie sich die Goldstücke näher an. Und was meint ihr? – Die Daten auf den Münzen stimmten überein, und das Prägungsjahr lag zwölf Jahre zurück! Was ereignete sich in jenem Jahr? Gott sei's geklagt, Freunde, in jenem Jahr begingen wir an den Vereals Verrat, ließen Don Pedro von den Hunden hinschlachten und gaben sein Haus der Verwüstung preis.«
Doch diesen Vorwurf schienen die Zuhörer nicht gelten lassen zu wollen. Und Cabeza rief: »Behaupte nicht so etwas! Wenn wir Zeit gehabt hätten, uns um ihn zu scharen – doch er wollte ja nur das Gewicht seines Namens in die Waagschale werfen, und nichts anderes. Er ritt wie ein Verrückter geradeswegs dem Feinde entgegen. Der liebe Gott weiß, daß ich mir die Haare ausraufte, als ich ihn so dahinstürmen sah.«
John Jones hatte genug gehört. Er stahl sich davon und eilte mit langen Schritten durch die Nacht dahin. Bald lag die im Mondlicht schimmernde Lagune vor ihm.
Sofort warf er Pierre, der ihn mit lautem Gewieher willkommen hieß, den Sattel auf den Rücken. Im Nu saß er auf dem Pferde und ritt in der Richtung nach San Triste davon. Obgleich er sich durchaus nicht über seine weiteren Schritte im klaren war, folgte er einem Impuls; denn er fühlte, daß es in diesem Moment besser sei, sich von seinem Impuls leiten zu lassen als von vernünftigen Ueberlegungen.