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20

Ganz San Triste erging sich abends auf der Plaza Municipal. Der Kid entsann sich dessen, als er an diesem Abend unruhig in dem Garten auf und ab schritt und der von der Stadt heraufwehende Wind den feinen, schrillen Ton einer Flöte an sein Ohr dringen ließ. Es waren nur einige Laute gewesen, die sogleich wieder verstummten. Aber in fünf Minuten saß er im Sattel und ritt in voller Karriere nach San Triste hinunter. Nachdem er den Rand der Plaza Municipal erreicht hatte, stieg er von seinem Pferde und schloß sich den Spaziergängern an.

Die Menschen wanderten beim Schein der Oellampen in zwei getrennten Gruppen einher. Die auf der inneren Promenade des Platzes lustwandelnde, weitaus größere Menge rekrutierte sich aus den niederen Bevölkerungsschichten; auf der äußeren Promenade bewegten sich die vornehmen und vornehmsten Stände von San Triste.

Selbst auf der Promenade wurde die Etikette streng beachtet. Die Innenseite der äußeren Gruppe bestand aus Frauen und Mädchen, die unter dem Schutz der schwarzen Spitzenmantillen die Abendluft genossen; die Außenseite bildeten alte und junge Kavaliere. Nie ging ein Mann mit einer Frau zusammen, Liebesleute warfen sich höchstens hin und wieder einen Blick zu, wenn sie aneinander vorüberschritten, denn die Damen bewegten sich nach rechts, die Männer nach links im Kreise herum.

Auf der inneren Promenade ahmten die niederen Klassen das Beispiel ihrer Herren und Meister genau nach. Nur vereinzelt kam es vor, daß ein kühner Bursche die Reihen seiner Kameraden verließ und sich ungeachtet der Sticheleien seiner Freunde seiner Herzensdame anschloß.

Seit zweihundert Jahren waren Frauen, Männer, Knaben, Mädchen nach der Hitze des Tages so auf der Placa Municipal einhergewandert und hatten die mit Kalksteinplatten belegte Promenade tief ausgetreten.

Der Kid hatte bereits einmal an der Abendpromenade teilgenommen und bei dieser Gelegenheit feststellen können, daß dies der einzige Ort in San Triste war, wo er vor den Folgen seiner Popularität sicher sein konnte. Denn hier achtete man nicht auf Rang und Würden, sondern nur auf den einzelnen, der sich aus dem Rahmen der Allgemeinheit durch irgendwelche markante Allüren hervorhob. Da der Kid sehr ernst und nachdenklich gestimmt war, brauchte er sich nur fest in seinen Mantel zu hüllen und vor sich niederzubücken, um gänzlich unbeachtet zu bleiben. Die Männer in seiner unmittelbaren Nähe zollten ihm nur insofern einen gewissen Respekt, als sie auf beiden Seiten einen kleinen Abstand von ihm wahrten. Das finstere Gesicht des Vereal gab ihnen auch keinerlei Veranlassung zu irgendwelchen Annäherungsversuchen.

Das Stimmengewirr der Menge war nicht laut, denn die Musik des hinter Baumgestrüpp versteckten Orchesters ließ sich überall deutlich vernehmen. Man konnte den schrillen Ton der Flöte, des Lieblingsinstruments aller Mexikaner, heraushören; zuweilen drang auch die tiefe, brummende Stimme der Baßgeige, der Laut der Gitarre, das einschmeichelnde Singen der Geige deutlich an das Ohr des Publikums; zuweilen vereinigten sich all diese Töne zu einem rauschenden Akkord.

Bei den Klängen der Musik scherzten und schwatzten Männer und Frauen im Flüsterton. Die Damen sahen sittsam vor sich hin; die Männer musterten die Damen mit heimlichen Blicken. Nichts verstieß gegen Anstand und Sitte.

Obgleich John Jones seinen trüben Gedanken nachhing, behielt er die Reihen der vorüberziehenden Damen doch unauffällig im Auge. Er gewahrte manch eine anmutige Gestalt und manch ein liebliches Gesicht, aber lange Zeit spähte er vergebens nach Alicia aus, bis er sie plötzlich in dem trüben Lichtschein einer Oellampe erkannte. Sein Herz klopfte stürmisch, als er sah, daß auch sie ernst und versonnen dreinblickte, daß auch sie die Gesichter der vorüberschreitenden Männer mit heimlichen Blicken prüfte.

Hatte sie ihn gesehen? »Sie wird zu mir herüberblicken!« murmelte er vor sich hin. Und im Vorbeigehen wandte sie in der Tat ihren Kopf nach ihm. Ihre Blicke begegneten sich, ihre Schritte stockten einen Augenblick, dann gingen sie weiter.

Als sich John Jones nun inmitten der Spaziergänger etwas zur Seite drängte, gewahrte er, wie die Señora Alvarado ihre Tochter stützte. Zwei Diener kamen herbeigeeilt. Er sah, wie die Señora schnell einige Anweisungen gab und einer der beiden Diener davoneilte. Aber John Johnes frohlockte in seinem Herzen. Er konnte sich diese plötzliche Schwächeanwandlung Alicias wohl erklären. Denn auch ihm war schwindlig zumute, und sein Herz klopfte stürmisch. Im Augenblick befand er sich bei den beiden und verneigte sich vor der Señora Alvarado.

»Alicia war ohnmächtig geworden«, erklärte sie hastig. »Ich habe nach einem Wagen geschickt. Aber wenn Sie uns zu jener Bank helfen wollten, Señor Vereal –«

Er nahm den Arm Alicias in den seinen und spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte.

»Ich bin wieder ganz wohl«, flüsterte sie. »Ich brauche keine Hilfe.«

Sie stützte sich jedoch schwer auf seinen Arm, als er sie zu einem jener Steinsitze geleitete, die die äußere Promenade flankierten. Die Mutter beugte sich besorgt über das Mädchen.

»So etwas ist ihr noch nie passiert!« versicherte sie. »So aufgeregt habe ich sie noch nie gesehen, Señor Vereal, woran kann das nur liegen?«

»Es ist eine schwüle Nacht«? entgegnete John Jones. »Es hat sich lange Zeit kaum ein Lüftchen geregt. Vielleicht liegt es daran!«

»Vielleicht. Meine liebe Alicia, ist dir besser?«

»Oh, viel besser!«

»Du bekommst wieder Farbe. Welch glücklicher Zufall, daß wir Sie getroffen haben, Señor Vereal!«

Alicia senkte den Kopf. Ihr Gesicht rötete sich, und John Jones gewahrte das aufgeregte Beben ihrer Brust. Jemand kam eilends herbeigelaufen. Die Señora verkündete, daß Alicia nur ein wenig unpäßlich sei.

Da ließ sich ein schwaches Flüstern neben John Jones vernehmen: »Sie brauchen sich nicht mehr länger aufzuhalten. Ich bin wieder ganz wohl, Señor Vereal!«

»Ich werde hier bleiben, Señorita.«

»Aber die schöne Musik –«

»Ich kann sie immer noch hören.«

»Und die Gesichter der –«

»Sie interessieren mich nicht!«

Er sprach die Worte mit inbrünstiger Stimme, und es bereitete ihm eine tiefe Befriedigung, als er sie hastig atmen hörte.

Dann sagte sie: »Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie bitte, zu gehen. Ich werde Ihnen später alles erklären.«

»Ah, Señorita, ich fühle mich so merkwürdig schwach und elend. Dürfte ich nicht noch einen Moment verweilen, um mich zu erholen?«

Sie sah zweifelnd und ängstlich zu ihm auf. Er war so in ihren Anblick vertieft, daß er für nichts anderes Augen und Ohren hatte. Es kam ihm vor, als hörte er die Mutter, die mit dem Fremden dicht in der Nähe stand, in weiter Ferne lachen. Ein wildes Verlangen erfüllte sein stürmisch klopfendes Herz, und er konnte nicht mehr länger mit seinen Worten zurückhalten.

»Alicia!« flüsterte er, indem er etwas näher an sie heranrückte.

Sie zögerte wie jemand, der sich nicht recht schlüssig ist, ob er fliehen soll oder nicht, obgleich er die herannahende Gefahr wohl erkannt hat.

»Alicia«, sprach er wieder, diesmal mit besonders einschmeichelnder Stimme, »Gott hat über mein Herz verfügt.«

Das ferne Schrillen der Flöte drang plötzlich so grell zu ihnen hinüber, daß sie beide zusammenschreckten.

»Nein, Señor! Nein – José!«

Es war nicht sein richtiger Name, aber als John Jones ihn aus ihrem Munde vernahm, schien er all seine Vergehen zu sanktionieren, und in einer plötzlichen Anwandlung von Sinnesverwirrung hätte er beinahe geglaubt, daß er wirklich der Vereal sei.

Der Wagen fuhr in diesem Moment vor, und der Diener sprang ab.

»Gott hat über mein Herz verfügt«, flüsterte John Johnes wiederum. »Mein Herz hat Ihnen seit der Zeit gehört, wo ich Sie zum erstenmal sah. Wollen Sie mir sagen, ob ich mir Hoffnungen machen darf?«

Sie konnte keine Antwort mehr geben, denn ihre Mutter und ein Diener traten heran und halfen ihr in den Wagen. Der Kutscher griff die Zügel; das Gefährt begann davonzurollen. Da wandte sie ihren Kopf mit solch einem glückseligen, vertrauensvollen Lächeln nach John Johnes, daß er nicht mehr im Zweifel sein konnte, wie ihre Antwort ausfallen würde, wenn er wieder einmal Gelegenheit haben sollte, mit ihr zu sprechen.

Aber das Mißgeschick Alicias war an diesem seltsamen Abend noch nicht zum Abschluß gekommen, denn alsbald mußte sie ihrer Mutter Rede und Antwort stehen. Die Señora sprach mit gedämpfter Stimme, damit die beiden auf dem Kutscherbock sitzenden Diener nichts hören sollten: »Meine liebe Tochter, du scheinst deinen Anfall schnell überwunden zu haben!«

»Es liegt wohl an dem auffrischenden Winde, Mutter«, sagte Alicia.

»Es liegt an dem Geflüster Señor Vereals«, versetzte die Señora.

Mit einem verlegenen Murmeln sank Alicia in ihren Sitz zurück.

»Was hat er gesagt, Liebling?«

»Er hat – nichts gesagt. Er gab nur der Hoffnung Ausdruck, daß sich mein Befinden bald bessern möchte.«

»Seine Hoffnung ist schnell in Erfüllung gegangen«, meinte die Mutter trocken. »Mach keine Ausflüchte, Alicia. Sei offen zu mir!«

»Mutter, Mutter«, flüsterte das Mädchen, »ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß es so viel Glück in der Welt geben könnte!«

Die Señora fuhr mit einem Ruck empor. Nach ihrem ernsten Gesicht zu schließen, hätte man annehmen können, daß eher Aerger als Freude die Triebfeder ihrer Erregung war.

»Beim Himmel«, murmelte sie, »er hat sich dir erklärt!«

»Er liebt mich, Mutter.«

»Nachdem er dich erst zweimal gesehen hat? Er spielt mit dir, Alicia! Niemand kann so schnell eine Liebesangelegenheit entscheiden.«

»O doch! Er ist treu wie Gold.«

»Kind, Kind, was weißt du von den Männern?«

»Ich weiß nur etwas von José!«

»Nennst du ihn schon bei diesem Namen? Das ist ja eine schöne Geschichte, zumal wenn man bedenkt, daß dich dein Vater mit Manuel Cabrillo verlobt hat!«

Alicia zuckte gleichgültig die Achseln.

»Machst du dir nichts daraus?«

»Ich werde Cabrillo nicht heiraten, denn ich könnte ihn niemals lieben. Jetzt, da José gesprochen hat, gehöre ich ihm.«

»Es ist nur gut, daß dein Vater dich nicht hört. Er würde außer sich geraten!«

»Ist es etwa auch sein Wunsch, daß ich Cabrillo heiraten soll?«

»Das – Schwein?« rief die Mutter aus. Ein Schaudern ergriff sie. »Gott behüte! Aber bist du auch deiner Sache gewiß, törichtes Mädchen? Wie kannst du überzeugt sein, daß er nicht sein Spiel mit dir treibt – dieser stürmische Vereal, von dem niemand etwas weiß?«

»Ich weiß nur soviel«, sagte Alicia ruhig, »daß ich niemals heiraten werde, wenn er mich nicht haben will. Wenn er mich nicht heiraten will, würde ich glücklicher sein, wenn ich stürbe!«

Darauf erwiderte Señora Alvarado kein Wort, bis sie ihre Tochter in das Haus geleitete. Aber als sie die Tür erreichten, flüsterte sie: »Sei guten Muts, Alicia, und laß mich die Angelegenheit ins reine bringen. Du wirst nicht sterben, mein liebes Kind. Ueberlaß es mir, deinen Vater umzustimmen. Selbst der Stolz eines Mannes ist wandelbar.«


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