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»Rohan! Rohan! hörst du mich nicht? Es ist Zeit zum Gehen. Komm, komm! Es ängstigt mich, zu dir hinabzuschauen. Willst du noch nicht heraufkommen, Rohan?«
Die Stimme der Ruferin verliert sich in dem Meeresbrausen, das unten die blaue Leere erfüllt, sie verhallt in dem ohrverwirrenden Flügelrauschen und in dem geschäftigen Gepiepse der zahllosen neugeborenen Schnäbel. Während sich das schwindelig gewordene Mädchen zurückzieht, der Boden unter ihren Füßen zu schwinden droht und die Klippen sich wie ein Riesenrad zu drehen scheinen, ertönt von unten herauf ein menschlicher Ruf, klar, aber doch entfernt wie eine Stimme des Oceans, dessen Wellen sich an den tausend Fuß tiefen blutroten Granitfelsen brechen.
Die Sonne geht eben weit drüben über den Gewässern unter; sie sinkt mit ihren letzten goldigen Strahlen inmitten der geheimnisvollen Hesperiden der stillen Luft und ihr blendendes Licht kommt quer über die glasige Fläche, bis es das schrammige, sturmzerwühlte Antlitz dieser Bretagner Klippen streift, jede Spalte und Nische derselben beleuchtend und belebend, das natürliche Rot ihrer Gipfel in Glut tauchend, das grobe Gras und die gelben Sternblumen in Smaragdfäden und flimmernde Sterne verwandelnd und ihre stärksten Strahlen auf den nackten Steinfelsen herabsengend, der sich wie ein Riesenhorn vom Rande des Abgrundes erhebt und um welchen ein starkes Seil geschlungen und festgeknotet ist. Neben diesem Felshorn steht, vom hellsten Sonnenschein beleuchtet, ein junges Mädchen und ruft zu einem unsichtbaren Jemand in die Tiefe hinab. Das Sonnenlicht strahlt ihr voll ins Gesicht und blendet sie, während die sanfte Seebrise ihre zwinkernden Augenlider küßt.
Man würde sie, wollte man nach ihrer sonngebräunten Haut urteilen, für die Tochter irgend eines Zigeunerstammes halten. Aber solch dunkle Hautfarbe ist auch den keltischen Frauen der Bretagner Küste eigen; überdies sind ihre großen Augen nicht zigeuner-schwarz, sondern leuchtend-grau – von jener geheimnisvollen Farbe, die, wenn die Augen von Freude und Liebe beseelt sind, sanft wie der Himmel sein kann, jedoch dunkel wie der Tod, wenn Eifersucht und Zorn sie erfüllt. Wer lange in Augen wie diese blickt, dem enthüllen sie ungeahnte Tiefen der Leidenschaft, der Selbstbeherrschung und des Stolzes. Das Mädchen ist hochgewachsen und schlank, hat kleine Füße und Hände, so daß man es, wenn die Wangen weniger rosig, die Hände noch kleiner und der Gang weniger elastisch wäre, für eine Aristokratin halten könnte.
Vor genau achtzehn Jahren lief ihr Vater mit der größten Fischladung, die in jener Saison in dem kleinen Fischerdorfe gemacht worden war, in den Hafen ein, um zu finden, daß die Heilige Jungfrau sein Gebet endlich erhört und ihm nach vier kräftigen Söhnen ein Mägdelein beschert habe. Aus ihrem Antlitz leuchtet auch heute noch kindliche Unschuld, der Mund ist entzückend, ein leichter Trotz kräuselt die vollen, kirschroten Lippen ein wenig. Sie ist noch Kind und doch schon Weib – die Sonne beleuchtet an der ganzen Küste der Bretagne kein schöneres.
Gleich der bewußten Königin Bertha hielt sie einen Spinnrocken in der Hand, allein selbst das kostbarste königliche Gewand hätte sie nicht besser kleiden können als die zwar strenge, aber malerische Nationaltracht der Bretagner Bäuerinnen – die schlichte weiße Haube, der blaue Kittel mit der roten Borte, das niedliche, mit Blüten und Zweigen durchwebte Schürzchen, das nette, mit einem Rosenkranz und einer Medaille Unserer Lieben Frau geschmückte Leibchen und schließlich die eigentümlichen Holzschuhe (» sabots«).
»Rohan, Rohan!« ertönte ihre helle, vogelgleiche Stimme nochmals, verlor sich aber wieder in der blauen Leere unten.
Das Mädchen legte ihren Spinnrocken neben ein Paar »Sabots« und einen breiten Filzhut, die bereits auf dem nächsten Steinblock lagerten, drückte ihr Gesicht flach an den Rand des Abgrundes, umklammerte mit einer Hand das an das Felshorn festgeknotete Seil und starrte in die Tiefe. Von der Mitte des Abgrundes herauf blickte ein lächelndes Antlitz zu ihr empor. Eine Minute lang sieht sie die an dem Seil zwischen Himmel und Erde schwebende Gestalt des Jünglings, die von einer fliegenden Wolke von Seevögeln umschwirrt wird, klar vor sich; sie sieht auch den weißen Strand tief unten, den milchweißen Rand des schimmernden, bewegungslosen Meeres, den glutroten Sonnenball, die wie in Blut getauchten Riffe. Dann dreht sich alles mit ihr im Kreise herum, sie schließt die Augen mit einem leisen Schrei. Ein von unten erschallendes helles Lachen beruhigt sie indes so sehr, daß sie sich ein Herz faßt und sich noch einmal vorbeugt.
Welche Tiefe! Von neuem erfaßt sie ein Schwindelanfall, aber plötzlich wird ihr Hirn klar und ihr Kopf ruhig. Sie erblickt jetzt alles deutlich: die rötlichen Riffe der Granitfelsen, zwischen denen sich die spielenden Wellen hindurchschlängeln und die zierlichen Wasserpflanzen bespülen; die einsame »Nadel von Gurlan,« diesen ungeheuren Stein- und Kalkmonolith, der sich aus dem Meere erhebt und von unzähligen Seevögeln umschwirrt wird; die Felsen, auf denen große schwarzrückige Möwen sitzen, die aus der Ferne wie weiße Motten aussehen und in die untergehende Sonne starren; Robben, die in den dunkeln grünen Buchtungen tief unten lustig herumschwimmen; das einsame rotbesegelte Fischerboot, das mit der Ebbe weit draußen im Meere dahinschwebt – all das sieht sie flüchtig wie in einem Zauberspiegel, aber es verschwindet ihr rasch und ihr Auge bleibt wie gebannt auf einem andern Bilde haften – einer schlanken, geschmeidigen Gestalt, die zwischen Himmel und Meer schwebt und mit Händen und Füßen an dem glatten Felsen entlang klettert, um in den Nischen und Spalten nach Seevögeleiern zu suchen.
Kleine, wie Schaumflocken aussehende Seeschwalben umflattern den kühnen Eierdieb. Wie aus Kanonen geschossen, sausen die possierlichen kleinen Seepapageien aus ihrem Bau, den sie sich nach Kaninchenart in die Erde bohren, ehe sie ihre Eier legen, und segeln einige hundert Ellen weit, kehren dann um, schwirren bei den Ohren des Eindringlings im Kreise herum und schlüpfen wieder in ihren Bau zurück. Ein großer schwarzer Kormoran umkreist sein Haupt ebenfalls, aber ohne einen Laut von sich zu geben. Die Klippen rings um ihn her sind von unzähligen Seevögeln bevölkert, Millionen von kleinen Augen starren angstvoll in die seinen, die Luft ist von einem sinnbetäubenden Gezwitscher und Geflatter erfüllt, das einen weniger geübten Klippenjäger auf der Stelle um den Verstand bringen würde. Von Zeit zu Zeit macht eine ihrer Eier beraubte, wild gewordene Vogelmutter den Versuch, ihm ins Gesicht zu flattern, aber eine Bewegung mit seinem Voglerstab schreckt sie zurück. Auch mancher zornige Seepapagei klammert sich an seine Finger, ein Büschel ausgerupfter Federn veranlaßt ihn jedoch schleunigst, kreischend in seinen Bau zurückzuschlüpfen.
Die Füße des Voglers sind nackt. Diesen Umstand benützen die Vögel, um mit ihren Schnäbeln nach Gefallen daran zu picken; er antwortet ihnen mit frischem Lachen. Als ob es für ihn hier unten keinerlei Gefahr gäbe, oder als ob die Gefahr die Freude an dem Sport verzehnfachen würde, klettert er zwischen den Vorsprüngen umher. Es ist geradezu aufregend, ihn sich in dieser gähnenden Leere bewegen zu sehen, die brennende Sonne zu seinen Häupten, das flimmernde Meer zu seinen Füßen. Er ist barhaupt, dichtes, goldig schimmerndes Haar wallt ihm bis zur Schulter hinab, seine Augen haben, selbst wenn sie wie jetzt vor Freude blitzen, den seltsamen, schwärmerischen Blick des Königs der Tiere. Rohan hat die Gestalt eines Herkules, denn ist er nicht ein Gwenfern? Seit Menschengedenken stehen alle Gwenferns sechs Fuß hoch in ihren »Sabots.« Sein Löwenkopf sitzt auf mächtigen Schultern. Das dunkelblaue Hemd, dessen offener Kragen den kräftigen Hals frei läßt, die kurzen, an den Knieen mit scharlachroten Bändern abgebundenen Beinkleider, die bunte, um die Hüften geschlungene Schärpe – alles trägt nur dazu bei, seine jugendlich-männliche Schönheit zu heben. Getreu seinem Berufe, hat er ein erdgraues Netz, das bereits mit Vogeleiern gefüllt ist, von seinem Gürtel herabhängen.
»Rohan, Rohan!« ruft ihm das Mädchen abermals zu.
Er winkt ihr mit seinem Voglerstab hinauf, lächelt und macht sich an den Aufstieg.
»Ich komme, Marcelle!«
Mit atemloser Spannung beobachtet das Mädchen die affenartige Geschmeidigkeit, mit der er sich an dem unter seiner kräftigen Gestalt zitternden Seil emporarbeitet. Mit Händen und Füßen klettert er langsam aber sicher empor. Furcht oder Schwindel kennt er nicht, seine ruhigen blauen Augen blicken mit gleicher Kaltblütigkeit nach oben und nach unten, denn er kennt ja jeden Schritt dieses gefahrvollen Weges! In wenigen Augenblicken hat er den vorstehenden Gipfel des Felsens erreicht, umschlingt das Horn mit Händen und Knieen und schwingt sich auf den grünen Rasen – dicht an die Seite des Mädchens. Er ist für die ihn umgebende Naturschönheit blind und sieht nur das liebliche, dunkle Mädchenantlitz und die leuchtenden Augen, die sich liebevoll in die seinen versenken.
»Warum bist du nur so waghalsig, Rohan?« lispelt sie in ihrem weichen bretonischen Dialekt. »Wie, wenn das Seil risse, der Knoten nachgäbe oder dich ein Schwindel erfaßte? Gildas und Hoël sagen beide, daß du thöricht bist, denn die St. Gurlans-Spitze sei für einen Menschen nicht zu erklimmen!«