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Am nächsten Tage sprach ganz Kromlaix von der wunderbaren Erscheinung in der Kathedrale des heiligen Gildas. Niemand bezweifelte auch nur einen Augenblick die Glaubwürdigkeit der Augenzeugen und jedermann war gerne bereit, an übernatürliche Dinge zu glauben, die die abergläubischeste Phantasie befriedigen mußten. Die Erscheinung des Heiligen hatten Leute schon zu verschiedentlichen Malen gesehen, aber selbst die ältesten Dorfbewohner vermochten sich nicht zu erinnern, je davon gehört zu haben, daß er in Gesellschaft des »Gehörnten« gesehen worden wäre. Erfolg ermutigt bekanntlich selbst die schüchternsten Geschichtenerzähler – was Wunder, wenn die Augenzeugen ihrer abergläubischen Einbildungskraft freien Lauf ließen: »Der Teufel hatte zwei riesige Augen – so groß und so leuchtend wie eine Bootslampe,« erzählte ein greiser Fischer, »und er blickte zu dem Heiligen empor. Jeder Sterbliche wäre unter diesen Flammenblicken zerschmolzen, der Heilige aber hob die Fackel hoch empor und zwang den Teufel das christliche Glaubensbekenntnis abzulegen.«
»Woher weißt du das, Vater Evran? Hast du es gehört?« fragte einer aus der Menge.
»Frag' doch Penmarch, frag' Gwesklen, frag' den alten Christian! Ich für meine Person bin überzeugt, daß ›Meister Robert‹ die Litanei hersagte. Eines ist sicher – hier stand der gesegnete Heilige und dort kniete der ›Schwarze‹ und jedermann weiß, daß das die Buße ist, die der Heilige ihm auferlegt, so oft er ihn auf geweihtem Boden erwischt.«
»Hielt er wirklich eine brennende Fackel in der Hand?« fragte Mikel Grallon mit ungläubiger Miene.
»Ja, sie leuchtete hell wie ein Komet und blendete uns alle mit ihrem Schein.«
»Hast du den Heiligen auch deutlich gesehen?«
»Mikel Grallon, glaubst du denn, daß ich blind bin? Da stand er, du hättest gemeint, daß es ein Engel vom Himmel sei. Gwesklen behauptet sogar, daß er Flügel gehabt habe. Ich für meine Person habe sie nicht gesehen, aber ich will dir sagen, was ich klar und deutlich gesehen habe – den Pferdefuß, er war schrecklich anzusehen – – –«
Eine lange Pause entstand, die von Grallon unterbrochen wurde: »Wie, wenn es doch ein Mensch gewesen wäre?«
»Ein Mensch?!« rief der Fischer, den Sprecher verblüfft anstarrend. »Ein Mensch, hoch oben auf dem Altar der Kathedrale und das mitten in der Nacht? Ein Mensch, so hoch wie eine Tanne, wie heller Mondenschein leuchtend und mit Flügeln versehen?! Ein Mensch, der den Gottseibeiuns das Glaubensbekenntnis lehrt! Mikel Grallon, du bist wohl verrückt!«
Alle Anwesenden tadelten die Ungläubigkeit Grallons, einige erklärten ihn sogar für einen Gotteslästerer. Weniger abergläubisch als die meisten anderen Dorfbewohner und stets geneigt, den Dingen, die die anderen aufs Wort glaubten, auf den Grund zu gehen, wurde er von den meisten für unverschämt und aufdringlich gehalten. Trotz alledem galt er als gläubiger Mensch und er wollte diesen Ruf nicht verlieren.
»Ich will damit nichts gesagt haben. Wunder geschehen ja manchmal und die Kathedrale ist ein furchtbarer Ort. Aber ist es nicht merkwürdig, daß der Heilige eine Fackel geschwungen hat?«
»Was findest du merkwürdiges daran? War es denn nicht stockfinstere Nacht, kein Mond, kein Stern am Himmel und unten die gurgelnde Hochflut? Wie hätte denn der Heilige ohne Licht seinen Weg gefunden? Merkwürdig – wirklich! Ich hätte es merkwürdig gefunden, wenn der Gesegnete wie ein gewöhnlicher Sterblicher mit dem Gottseibeiuns verhandelt hätte!«
Diese ausgiebige Antwort brachte Grallon endlich zum Schweigen, dem es plötzlich einfiel, daß er einen groben Schnitzer begangen habe. Die gleiche Ansicht teilten im stillen alle Anwesenden. Als er sich nach kurzem Gruße dem Dorfe zuwandte, bemerkte die alte Teerjacke: »Mikel Grallon war früher ein ganz vernünftiger Mensch, aber seitdem er verliebt ist, spricht und handelt er wie ein Thor!«
Mikel Grallon war aber in Wirklichkeit kein Thor, sondern nur argwöhnisch. Er glaubte an nichts, was er nicht mit eigenen Augen sah – die Kirchendogmen ausgenommen. Er hätte, wäre er selbst Zeuge der Vision in der Kathedrale gewesen, wahrscheinlich das Entsetzen seiner Kameraden geteilt und ebensosehr übertrieben wie diese; da er aber die Geschichte bei hellem Tageslicht hörte, stiegen ihm allerlei berechtigte Zweifel über die Glaubwürdigkeit derselben auf und er kam schließlich zu einer ganz überraschenden Schlußfolgerung, die er aber wohlweislich geheim hielt. Seine ganze freie Zeit war mit der Werbung um Marcelle Derval in Anspruch genommen und er hatte nicht übertrieben, als er ihr sagte, daß die Familienhäupter ihn begünstigten. Durch unzählige kleine Aufmerksamkeiten und nicht zum mindesten durch die Geduld, mit der er den Tiraden des alten Haudegens von einem Korporal lauschte, hatte er dessen Herz erobert. Die weit nüchternere Frau Derval erblickte in Mikel einen beachtenswerten Freier von guter Familie, der leicht imstande war, eine Frau zu erhalten und sich die Achtung eines ehrsamen Mädchens zu erringen. In Alain und Jannick fand er tüchtige Bundesgenossen, wenigstens solange er sie mit kleinen Geschenken bestach. Er konnte sich also mit Recht für den erklärten Günstling der Familie Derval halten.
Wäre Marcelle ein Mädchen gewöhnlichen Schlages gewesen, nachgiebiger und weniger starrköpfig, dann hätte sich Grallon, der Landessitte entsprechend, für so gut als verlobt erklären können; aber die Hauptbeteiligte wollte von der Werbung durchaus nichts hören und ihre Angehörigen wußten, daß sie, wenn sie ihr Ziel erreichen wollten, keine strengen Maßregeln ergreifen durften. Der Sitte gemäß hätte Marcelle ohne jede Widerrede den ihr von ihren Angehörigen erwählten Gatten nehmen müssen; aber sie war eben nicht aus gewöhnlichem Holze geschnitzt und wollte ihren Gatten selbst wählen.
Seitdem sie die Überzeugung gewonnen, daß Rohan nicht mehr unter den Lebenden weile, war ihre heftige Liebe für ihn von neuem erwacht. Sie schwelgte allnächtlich unter bitteren Thränen in alten, süßen Erinnerungen und vergaß seine Empörung gegen den Kaiser, ja, den Kaiser selbst, und lebte nur ihrem Schmerz. »Ich habe ihn gemordet! Ich allein, denn hätte ich nicht die verhängnisvolle Nummer für ihn gezogen, er würde wahrscheinlich noch leben und glücklich sein!« klagte sie sich immer wieder selbst an. »Das wenigste, was ich jetzt für ihn thun kann, ist, mich als seine Witwe zu betrachten!« Und in diesem Sinne sprach sie auch zu ihrer Mutter: »Sag' dem ganzen Dorfe, daß ich meinen Vetter Rohan geliebt habe und daß ich ihn bis zu meinem Tode immer lieben werde!«
Mit der Zeit kam dieser Ausspruch auch dem verliebten Mikel zu Ohren. Er zog sich zum allgemeinen Erstaunen zartfühlend in den Hintergrund zurück und hörte auf, Marcelle mit seinen Aufmerksamkeiten zu verfolgen. Dieses Benehmen war für einen als so standhaft und hartnäckig bekannten Menschen so merkwürdig, daß selbst der Korporal ihm eines Tages sagte: »Krähenseele! Hast du denn gar keine Courage? Sie sieht dich viel zu wenig – Mädchenherzen müssen im Sturm erobert werden! Aber du scheinst von dem Geist einer Fliege beseelt zu sein, mein Sohn!«
»Es nützt nichts, Onkel Ewen, sie denkt zu viel an den Toten,« entgegnete Mikel seufzend.
Korporal Derval blickte finster drein und blieb die Antwort schuldig. Er wußte ganz gut, auf wen Mikel anspielte und da er in der letzten Zeit voll Mitleid und Zärtlichkeit an seinen unglücklichen Neffen dachte und auch von Gewissensbissen gequält wurde, zu hart gegen ihn verfahren zu sein, vermied er es lieber, von dem Gegenstand zu sprechen. Unter anderen Umständen wäre er über Marcelles Widerstand fuchsteufelswild geworden und er hätte ihr schon den Herrn gezeigt; so aber sagte er sich, daß die losgelassenen Bluthunde der Konskription den armen Rohan zu Tode gehetzt haben, der in Wirklichkeit ein prächtiger Junge gewesen sei und Marcelles Liebe verdient habe – es sei am besten, zu schweigen.
Es kann nicht verschwiegen werden, daß der Korporal seit dem Absturz Rohans eine große Unruhe an den Tag legte. Er, der dem Kanonendonner standgehalten hatte, ohne mit einer Wimper zu zucken, zitterte, wenn die großen, traurigen Augen Marcelles sich vorwurfsvoll auf ihn richteten. Er fühlte sich schuldig und war froh, wenn ihm jemand Gesellschaft leistete; er hätte auch mit Mikel Grallon vorlieb genommen; aber dieser blieb bald nach dem denkwürdigen Ereignis in der Kathedrale ganz aus. Wer den Burschen genau beobachtet hätte, würde gesagt haben, daß er das Opfer eines folternden Kummers sei. Er begann ein stilles, geheimnisvolles Wesen zur Schau zu tragen, sprach wenig, suchte die tiefste Einsamkeit auf und verbrachte seine Tage in planlosem Herumstreifen auf den Klippen, seine Nächte zur See. Von seinen Streifzügen auf den Klippen brachte er weder Seegras, noch Meerfenchel, vom Meere keine Fische mit heim. Von Natur ein arbeitsamer, thätiger Mensch, wurde er plötzlich träge.
An einem regnerischen Tage fand er sich bei der heiligen Triffinesleiter plötzlich einer alten, auf einen Stock gestützten Frau gegenüber, die ein Körbchen auf dem Arme trug. Sie keuchte vom Aufstieg. Als sie seiner ansichtig wurde, wich jeder Blutstropfen aus ihrem vergrämten Antlitz und ihre Lippen färbten sich ganz blau.
»Ei, Mutter Gwenfern! Ihr seid das letzte Weib, welches ich in diesem Hundewetter hier zu finden gedacht hätte! Darf ich Euch den Korb abnehmen? Ihr scheint erschöpft zu sein.«
Als er den Arm ausstreckte, um ihr die Bürde abzunehmen, wich sie zitternd vor ihm zurück.
»Um des Himmels willen, Mütterchen, Eure Zähne klappern ja wie im Fieber! Wie konntet Ihr in diesem strömenden Regen daran denken, auszugehen? Macht, daß Ihr so bald als möglich in die trockene Stube kommt! Euer Mantel ist ja ganz durchnäßt, Ihr werdet Euch den Tod holen!«
Während er mit erheucheltem Mitleid sprach, durchbohrte er mit scharfen, spähenden Blicken die zitternde Alte, die sich vergeblich bemühte, ihre Fassung zu gewinnen; endlich fand sie ihre Sprache wieder: »Ich bin ausgegangen, um Schnecken zu suchen, die nur bei feuchtem Wetter auf den Strand kriechen. Ich wollte mir ein Süppchen kochen; aber du hast ganz recht, Mikel, der Weg ist lang, ich hätte nicht so weit gehen sollen.«
»Alte Beine sollten sich nicht mehr so übermüden! In Eurem Alter müßtet Ihr hübsch ruhen. Die Nachbarn finden es alle merkwürdig – – –«
»Was finden sie merkwürdig?« unterbrach sie ihn scharf.
»Bis vor kurzem seid Ihr stets nur vor dem warmen Herd gesessen, oder Ihr habt Euch im Hause beschäftigt; selbst an Feiertagen überschrittet Ihr nur selten Euere Schwelle, so daß wir dachten, Ihr seid leidend und Euch immer bedauerten. Seitdem Ihr aber Euren Sohn verloren habt – er ruhe in Frieden, Amen! – scheint Ihr keine Ruhe mehr zu haben, Ihr seid immer unterwegs.«
»Das ist wahr, seither bin ich rastlos!« gab die Alte zu. »Ja, seit sie meinen einzigen Sohn ermordet haben, finde ich nirgends mehr Ruhe!«
»Aber in solchem Wetter auszugehen!«
»Wer an einem gebrochenen Herzen leidet, dem kann weder Wind noch Regen mehr etwas anhaben. Guten Tag, Mikel Grallon!«
Grallon wartete, bis die Frau in der Richtung des Dorfes verschwunden war. Ein eigentümlich schlauer und verbissener Zug lagerte um seinen Mund, als er dann ruhig die Treppe hinabstieg, rasch den Strand entlang eilte und ganz dicht an das verwunschene Thor des Heiligen Gildas herantrat. Die Flut stand noch zu hoch, um ein Eintreten zu gestatten. Er wagte sich bis an die äußerste Wasserkante und versank in tiefes Sinnen; plötzlich kreuzte ein Gedanke sein Hirn und er bückte sich, um den mit grobem Kies bedeckten Meeresstrand aufmerksam zu untersuchen.
Gar bald entdeckte er menschliche Fußspuren an Stellen, wo die zurücktretende Flut den Singel feucht und dunkel gelassen hatte. Kein Zweifel, es waren die deutlichen Spuren von derben Holzschuhen und siehe da – jetzt entdeckte er auch solche eines kräftigen nackten Männerfußes. Mit der Sorgfalt eines Naturforschers maß er dieselben nach allen Richtungen; selbst der unsterbliche Robinson Crusoe konnte die Fußspuren auf der einsamen Insel nicht mit lebhafterem Interesse studiert haben, als es jetzt Mikel that. Ein befriedigtes Lächeln schwebte um seinen Mund, als er sich endlich erhob; aber es war ein böses, grausames Lächeln, das Lächeln eines Großinquisitors, der ein Opfer peinigen will.
Von dieser Stunde an wurde sein Benehmen noch sonderbarer. Er vernachlässigte die Mahlzeiten und verlor den Schlaf. Mutter Gwenferns bescheidene Hütte übte eine solche Anziehungskraft auf ihn aus, daß man ihn zu allen Tages- und Nachtzeiten in der Nähe derselben finden konnte. So kam es, daß die alte Frau, so oft sie ihre Schwelle übertreten wollte, Mikel begegnete, der ihr unter tausend Ausreden seine Begleitung aufdrängte, so daß sie sich, um seiner Gesellschaft zu entgehen, oft gezwungen fühlte, ins Haus zurückzukehren. Wenn er einmal der Ruhe pflegte, wachten zwei andere Augen für ihn. Er benahm sich wie jemand, der eine verborgene Mine vorbereitet und er verstand es, sein Geheimnis vor jedermann zu hüten. So oft er Marcelle begegnete, verwandelte sich seine geheimnisvolle listige Miene in eine mitleidige.
Kurz nach seiner ersten Begegnung mit Mutter Gwenfern an der Triffinesleiter hatte Mikel Grallon ein anderes Abenteuer, das ihm zu denken gab und ereignisreiche Folgen nach sich zog. Als er eines Abends nicht weit von jener Stelle, an welcher der Kampf zwischen Rohan und den Gendarmen stattgefunden hatte, herumlungerte, huschte eine Gestalt dicht an ihm vorbei bis an den äußersten Rand der Klippen. Es war schon ziemlich spät und der Mond noch nicht aufgegangen; im Zwielicht des Sommerabends konnte er ganz deutlich das ihm zugewandte Gesicht sehen. Die Gestalt bewegte sich nach Gespensterart rücklings. Einen Augenblick stockte Mikel der Atem, denn er war abergläubisch; er faßte sich jedoch rasch und sprang dem vermeintlichen Gespenst nach, um es zu fassen. Zu spät, der Abgrund schien es verschlungen zu haben. Auch jetzt huschte ein grausames Lächeln über Mikels Gesicht. Von nun an hatte er schon gar keine Ruhe mehr und er verbrachte fast seine ganze Zeit zwischen den Klippen. Selbst auf die Kunde von dem Anlangen der Makrelen veränderte er seine seltsame Lebensweise nicht und statt, wie gewöhnlich, den Oberbefehl über sein Boot zu übernehmen, setzte er einen anderen an seine Stelle und nahm mit einem Anteil an dem Fang vorlieb. Er sah aus wie jemand, der stets auf der Lauer liegt, wie ein Schmuggler, der darauf gefaßt ist, überrascht zu werden oder – selbst zu überraschen.
Das letztere sollte denn auch bald der Fall sein. Als nämlich seine Bemühungen endlich von Erfolg gekrönt waren, begab sich Mikel ruhig in die Küche des Korporals, wo die Familie gerade beim Mittagessen saß und sagte nach der üblichen Begrüßung mit gedämpfter Stimme: »Ich bringe Nachrichten! Rohan Gwenfern lebt und verbirgt sich in der Kathedrale des Heiligen Gildas!«
Wenn plötzlich zu seinen Füßen eine Bombe geplatzt wäre, würde der Korporal nicht entsetzter gewesen sein. Keuchend sank er in seinen Stuhl zurück und starrte Mikel wild an. Mutter Derval, in der letzten Zeit an unangenehme Überraschungen gewöhnt, ließ nur stöhnend die Arme sinken, während Marcelle, wie stets, ihre Geistesgegenwart bewahrte, zur Thüre sprang, diese nicht nur schloß, sondern auch noch den Schlüssel umdrehte und dann totenbleich zum Tisch zurückkehrte. Ihre großen, klugen Augen auf Mikel richtend, murmelte sie: »Sprich leise! Um der Barmherzigkeit willen, sprich leise.«
»Er lebt und ich habe ihn durch Zufall entdeckt,« fuhr Grallon heiser fort. »Es ist wahr, daß ich schon lange den Verdacht hegte, aber jetzt weiß ich's mit Bestimmtheit.«
»Heilige Mutter Gottes, schütze uns! Rohan lebt!« jammerte die Witwe fassungslos.
Der Korporal hatte sich mittlerweile von seiner Erstarrung soweit erholt, daß er keuchen konnte: »Mikel Grallon, bist du betrunken oder kommst du nüchtern, um uns mit einer Lüge aus der Fassung zu bringen? Krähenseele, nimm dich in acht! Wehe dir, wenn du erst meinen Zorn kennen lernst, Bursche!«
»Sprich leiser!« flehte Marcelle. »Bedenke doch, Onkel, wenn irgend ein Nachbar es hörte!«
»Ich schwöre bei den Gebeinen des Heiligen Gildas, daß Rohan lebt! Ich kenne sein Versteck und ich habe ihn mit meinen leibhaftigen Augen gesehen,« versicherte Grallon mit geheimer Schadenfreude.
»Vielleicht seinen Geist,« stöhnte die Witwe. »Er ist eines gewaltsamen Todes gestorben und seine arme Seele findet keine Ruhe.«
»Ich gehöre nicht zu jenen, die Gespenster zu sehen pflegen und kenne den Unterschied zwischen einem Geist der Luft und einem Menschen von Fleisch und Blut. Was ich Euch sage, Mutter Derval, ist so wahr wie das Evangelium. Rohan verbirgt sich in der Kathedrale des Heiligen Gildas.«
»In der großen Kathedrale?« fragte der Korporal, noch immer ungläubig.
»Ja, dort oder in der nächsten Nähe, dessen bin ich sicher. Ich bin dreimal seiner Spur gefolgt und dreimal ist er in der Kathedrale verschwunden. Ich war immer allein, so daß ich ihm nicht zu nahe kommen wollte, denn er ist ja ein Verzweifelter. Einmal hätte ich ihn beinahe gefaßt, aber er kletterte wie eine Ziege über die steilsten Abhänge, so daß ich ihm nicht folgen konnte.«
Onkel Ewen war von dieser Hiobspost ganz fassungslos; die Nachricht von dem Absturz seines Neffen war im Vergleich zu dieser, daß er noch lebe, angenehm; denn wenn er wirklich lebte, mußte man ihn ja noch immer als Deserteur verfolgen, als Hochverräter verachten und, wenn man ihn faßte, erschießen. Ewen war einfach von Entsetzen gelähmt. Wie oft hatte er sich in der letzten Zeit im stillen schwere Gewissensbisse über seine übermäßige Härte und Strenge gegen Rohan gemacht und zärtlich des Toten gedacht! Wie oft war er sich, wenn niemand es sehen konnte, mit dem Ärmel über die feuchten Augen gefahren, denn der arme garz war ihm ebenso ans Herz gewachsen wie seine Buben, und jetzt sollte er vergebens getrauert und bereut haben! Und das Familiengespenst sollte von neuem seinen Spuk beginnen – das war doch rein zum Verstand verlieren! Diese Schmach!
Marcelle allein wuchs mit den Verhältnissen. Sie gehörte zu jenen seltenen Frauen, die mehr fühlen als denken und deren Gefühl die Gestalt raschen Handelns annimmt. Ihre Augen waren so fest und fragend auf Grallon gerichtet, daß er zu zittern und sich ganz unbehaglich zu fühlen begann. Sie schien damit beschäftigt, die Seele dieses Menschen zu erforschen, und als sie dieses nicht gerade schwierige Problem gelöst zu haben glaubte, fragte sie entschlossen: »Mikel Grallon, sag' die Wahrheit, hast du dies auch anderen Leuten erzählt?«
Er verneinte in sichtlicher Verwirrung.
»Wenn du es nicht gethan hast, liegt sein Leben in deiner Hand. Wenn er durch deine Schuld entdeckt wird, komme sein Blut über dein Haupt und der Herr im Himmel strafe dich!«
»Andere können ihn ja ebensogut gesehen haben wie ich. Ja, ich hörte Pipriac erst dieser Tage sagen, daß er einen Verdacht habe. Du darfst nicht mir die Schuld beimessen, wenn man ihn findet, denn andere Leute haben auch Augen wie ich. Seit jener Vision in der Kathedrale sind sie auf der Lauer, denn es ist jetzt klar erwiesen, daß es nicht der Heilige gewesen, sondern ein gewöhnlicher Sterblicher – Rohan Gwenfern.«
All das sagte er mit zu Boden gesenkten Blicken und so schuldbewußter Miene, daß Marcelle sich kein zu günstiges Urteil über die Rolle, die er spielte, bildete. Sie sah ihn wieder so forschend an, daß er sich im stillen die bittersten Vorwürfe machte, persönlich die Nachricht überbracht zu haben. Er hatte aber einen furchtbaren Zornausbruch des alten Derval erwartet und sich vorgenommen, die Rolle des tröstenden und mitfühlenden Familienfreundes zu spielen. Statt dessen betrachteten ihn alle voll Mißtrauen und Entsetzen und machten ihn für die Folgen verantwortlich, weil er sich durch sein unsicheres Benehmen verraten hatte.
»Das ist geradezu unglaublich!« rief Derval. »Sich zwischen den Klippen zu verstecken! Der Kerl muß ja dort verhungern!«
»Das sollte man meinen; aber ich habe Mutter Gwenfern öfter mit einem Körbchen auf dem Arm die Richtung einschlagen gesehen. Und dann ist Rohan nicht wie ein anderer Mensch; er ist gewöhnt, tagelang unter den Wasservögeln und Robben zu leben. Die nächste Frage ist, was hat nun zu geschehen?« schloß Mikel mit lauerndem Blick.
Der Korporal schwieg, Marcelle jedoch zog aus ihrem Mieder ein schwarzes Ebenholzkreuz heraus, hielt es Mikel hin und fragte mit fest auf ihn gerichteten Blicken: »Kannst du bei diesem geheiligten Kreuz schwören, daß du das Geheimnis niemandem verraten hast?«
»Ich habe die Entdeckung heute Morgen gemacht, wem hätte ich es verraten können?« erklärte er verletzt. »Wenn du es wirklich wünschest, Marcelle, bin ich bereit zu schwören.«
Die Vorsehung kam ihm zu Hilfe, so daß er davor bewahrt blieb, einen Meineid zu leisten, denn ehe Marcelle zu antworten vermochte, wurde von außen auf die Klinke gedrückt und als diese nicht nachgab, ertönten laute Schläge an der Thüre.
»Zum Teufel, öffnet sofort!«
Sogar der Korporal erbleichte, während Mutter Derval vor ihrem Spinnrad niedersank und Marcelle die Hand auf ihr wild pochendes Herz drückte. »Heilige Jungfrau, wer kann das sein?!« lispelte sie, schreckensbleich.
»Wahrscheinlich einer Eurer Nachbarn,« beruhigte Mikel, dem das Herz aber nicht weniger in die Schuhe gesunken war als den anderen Anwesenden.
»Öffnet! Ich komme im Namen des Kaisers!«
Marcelle drehte den Schlüssel um, die Thür flog auf und Pipriac stürmte mit all seinen Gendarmen ins Gemach. Seine Schnapsnase leuchtete förmlich vor Aufregung, seine Augen sprühten, seine kurzen Beinchen zitterten.
»Alle Teufel!« brüllte er zornig. »Weshalb ist denn bei helllichtem Tag die Thüre versperrt? Was geht hier vor, möchte ich wissen? Wo ist der Korporal?«
»Hier!« rief der Alte, sich in Positur stellend, mit bebender Stimme.
»Ich bringe dir seltsame Nachrichten, die dich aus der Haut fahren lassen werden, Kamerad! Ich darf mich nicht lange aufhalten, aber da ich gerade vorbeikam. wollte ich sie dir selber melden, ehe du sie aus anderem Munde vernimmst.« Dabei streifte er Mikel mit einem verächtlichen Blick, den Marcelle auffing. »Guten Tag, Mutter Derval! Habe ich Euch erschreckt? Du hier, Mikel Grallon? Du mußt uns begleiten, ich habe Wichtiges mit dir zu besprechen, mein braves Bürschchen!«
»Was giebt's, Kamerad?« brachte der Korporal heiser hervor. Die Stimme schien ihm versagen zu wollen.
»Was es giebt? Nun denn, die Toten erstehen auf! Hahaha! Was sagst du dazu? Die Wunder hören nicht auf und du, mein Alter, wirst nicht wissen, ob du dich freuen oder grämen sollst. Dein Neffe, der Deserteur, ist nicht verunglückt! Corbleu, er hat eine Katzennatur – er lebt und wir sind ihm auf der Spur.«
Während der ganzen Zeit hatte Marcelle kein Auge von Grallon gewandt, der unter ihrem Inquisitorenblick immer verlegener und unsicherer wurde. Jetzt trat sie ganz dicht an den Sergeant heran und fragte voller Spannung: »Woher wissen Sie, daß er lebt? Haben Sie ihn mit eigenen Augen gesehen?«
»Nein, aber andere wollen ihn gesehen haben und haben uns die Meldung gemacht. Verflucht, Mädel, du durchbohrst mich ja mit deinen Blicken! Und wie blaß du bist, armes Ding!«
»Man hat Ihnen also Meldung gemacht?« fuhr sie unbeirrt fort.
»Ja doch! Ist das so merkwürdig? Ehrliche Schurken giebt es genug –« wieder streifte sein Blick Mikel; »ein solcher hat den armen Teufel in seinem Versteck aufgestöbert und es uns gemeldet. Wer es war, wirst du von mir nicht erfahren, aber wenn es der Böse selbst gewesen wäre, so bekäme er seine Belohnung. Grollet dem alten Pipriac nicht, daß er seine Pflicht erfüllt, die ihm schwer genug wird; aber jetzt darf ich nicht länger weilen. Das Bajonett aufgepflanzt, ihr Bursche und vorwärts – marsch! Auch du, Grallon, mußt uns begleiten. Wo sind Alain und Jannick?«
»Auf dem Fischfang,« stotterte Mutter Derval.
Die Gendarmen marschierten hinaus. Auch Grallon wollte die Schwelle überschreiten, aber Marcelle hielt ihn zurück. Er blieb stehen, wagte aber nicht, seinen schuldbewußten Blick vom Boden zu erheben. Der Korporal war in den Stuhl zurückgesunken und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, wie in einer Erstarrung.
»Mikel Grallon, ich habe dich durchschaut!« sagte Marcelle, mit flammenden Blicken. »Du kannst mich nicht mehr hintergehen. Du bist der ehrliche Schurke – ein Elender, nicht wert, daß dich die Sonne bescheint. Tag und Nacht bist du auf der Lauer gelegen und hast ihn wie ein Wild zu Tode gehetzt. Wenn man ihn findet, wirst du das Blutgeld einheimsen. Ja, du hast ihn verraten und du hattest noch das Gesicht, herzukommen und Onkel mit einer Lüge zu hintergehen, damit deine Schlechtigkeit nicht an den Tag komme. Pfui über dich! Möge Gott dich strafen, wie du es verdienst!«
»Das ist falsch!« rief Mikel auffahrend.
»Du bist falsch! Du warst falsch gegen meinen Onkel, falsch gegen meinen armen Vetter, falsch gegen mich! Ich habe dich stets gehaßt, aber jetzt verachte ich dich auch! Wisse, wenn ich ein Mann wäre, Mikel Grallon, du würdest diese Schwelle nicht mehr lebend überschreiten! Leider bin ich nur ein schwaches Weib und kann nichts anderes sagen als: wage es nie wieder, mir unter die Augen zu treten, elender Verräter!«
Marcelles Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe; unter ihren verachtungsvollen Blicken entfernte er sich wie ein geschlagener Hund. Nur in seinen listigen Augen loderte ein unheimliches Feuer. Der Zorn und die Empörung hatten Marcelle aufrecht erhalten; kaum hatte sich aber die Thüre hinter Mikel geschlossen, als sie mit einem wilden Schrei, zum zweitenmal in ihrem Leben, bewußtlos zu Boden sank.