Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Rolland, der Dorfpfarrer, hatte einen watschligen Gang, sein Schmerbäuchlein wackelte bei jedem Schritt. Er war von untersetzter Gestalt, hatte Säbelbeine und lange, kräftige Arme, die beim Gehen wie Pendel schlenkerten. Übrigens glich er keineswegs einem verweichlichten Sybariten. Wenn es darauf ankam, konnte er mit jedem Kromlaixer Mann um die Wette laufen, springen und ringen.
Sein feistes, wohlgenährtes Gesicht hatte fast die Farbe von Mahagoni, denn er scheute sich nicht, es der Sonne und dem Winde frei auszusetzen; ein Paar kleine, äußerst gutmütige Augen blitzten daraus hervor. Marcelles Oheim, der Spaßmacher des Ortes, hatte dem allgemein beliebten Pfarrer den Spottnamen »Rotkehlchen« gegeben – nicht mit Unrecht, denn Vater Rolland teilte zwei Eigenschaften mit diesem niedlichen Tierchen: unerschöpfliche Geduld und eine tüchtige Portion gutmütiger Streitlust. Er führte ein musterhaft regelmäßiges Leben, stand mit den Hühnern auf und legte sich in der Regel auch mit ihnen nieder. Er bewohnte eine ärmliche Hütte, erfüllte seinen heiligen Beruf gewissenhaft und war zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht, bei Sturm und Wetter, bereit, seinen Gemeindemitgliedern die Tröstungen der Religion zu spenden. Er besaß nur eine Schwäche – eine gewisse Vorliebe für einen guten Tropfen, der ihm stets die Zunge löste und seine gute Laune erhöhte. Er plauderte sehr gern und sagte selbst: »Wenn die Erde plötzlich entvölkert würde und ich mit dem Gottseibeiuns allein darauf hauste, würde ich nicht Anstand nehmen, mit diesem Feind der Menschheit anzustoßen und mit ihm ein Plauschchen zu halten.« Ja, der gute Curé vermochte keinem Menschen böse zu sein, nicht einmal dem Gottseibeiuns oder – Bonaparte.
Er bekleidete seinen Posten in Kromlaix erst seit wenigen Jahren, und zwar als Nachfolger jenes Geistlichen, dem Rohan einst so viel zu schaffen gemacht. Als Eingeborener des Bezirkes kannte er jeden Menhir, jedes Häuschen im Dorfe, jede Klippe weit und breit; er sprach auch mit Vorliebe den in der Gegend üblichen Dialekt. Deshalb glaube man aber ja nicht, daß er kein belesener Mann gewesen sei. Er war ein guter Lateiner, citierte auch einige Dutzend Zeilen aus dem Homer im Original, war aber nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Gelehrte oder gar Märtyrer macht. Er war ein guter Hirt, der für seine Herde getreulich sorgte – weiter nichts.
Sein gutmütiges Gesicht strahlte vor Freude, als er, aus dem Kirchhofsthor tretend, Meister Arfoll erkannte. Er streckte ihm herzlich seine beiden fetten Hände entgegen und nickte Rohan zu.
»Willkommen, herzlich willkommen, Meister Arfoll! Sie machen sich jetzt sehr rar bei uns! Seit Monaten haben wir kein Schlückchen mehr miteinander getrunken und keinen ausgiebigen Plausch gehabt. Wo haben Sie so lange gesteckt? Was haben Sie getrieben? Noch einmal willkommen!«
Der Wanderlehrer erwiderte die herzliche Begrüßung ebenso freundlich. Schweigend schritten die beiden eine Weile nebeneinander her, während Rohan hinterher trottete. Plötzlich schob der Priester seinen Arm vertraulich in den seines Begleiters und bat um Neuigkeiten.
»Neuigkeiten wollen Sie hören, Vater Rolland?« sagte dieser düster. »Leider giebt es nur die alten traurigen Geschichten. Rotes Blut tränkt die Schlachtfelder; schwarzer Krepp, wohin man blickt. Ich glaube nicht, daß es noch lange so fortgehen kann – die Geduld der Welt ist erschöpft!«
»Hm, hm! Die Welt scheint wirklich auf dem Kopf zu stehen, lieber Bruder,« bestätigte der Curé, mit seinem kleinen Finger bedächtig den Pfeifenkopf stopfend.
Die Stürme der Revolution und des Bürgerkrieges waren über das behäbige Pfäfflein dahingebraust, ohne ihm ein Haar zu krümmen; er hatte so viel Schrecken und Tod gesehen, daß der Krieg für ihn nichts Furchtbares mehr hatte. Im Innersten seines Herzens liebte er die »Weißen« mehr als die »Blauen,« aber nicht um eine Welt hätte er jemandem zugeredet, für die Weißen zu sterben. Und doch war er überzeugt, daß die großen und kleinen Kriege nur der Ausfluß eines nicht zu unterdrückenden Elementes der menschlichen Natur seien; auch war er nicht Politiker genug, um ein bestimmtes Individuum für das Blutvergießen verantwortlich zu machen. Nach seiner Ansicht mußten die Dinge gehen, wie sie eben gingen, und es war ebenso nutzlos wie gefährlich, sich dagegen aufzulehnen.
»Ich will Ihnen etwas erzählen,« begann Arfoll in seiner melancholischen Weise nach einer kurzen Pause. »Als ich mich in einem gewissen Dorfe des Ostens aufhielt, betrat ich das Haus eines Weibes, das ihre beiden Söhne im letzten Feldzuge verloren und vor einer Woche ihren Gatten begraben hatte. Sie saß auf einer Bank, starrte ins Feuer und ihr Blick glich dem einer Wahnsinnigen. Ich klopfte ihr auf die Schulter, aber sie rührte sich nicht. Ich sprach sie an, aber sie hörte mich nicht. Nur langsam konnte ich sie aus ihrer Lethargie erwecken. Sie stand mechanisch auf, setzte mir Speise und Trank vor und ließ sich dann wieder vor dem Feuer nieder. Obgleich nicht alt, hatte sie weißes Haar. Nachdem ich meinen Hunger und Durst gestillt, sagte ich ihr, daß ich ein Wanderschullehrer sei und Schüler suche. ›Was können Sie lehren?‹ fragte sie plötzlich. Ich entgegnete sanft, daß ich ihre Kinder schreiben und lesen lehren könne. ›Gehen Sie und suchen Sie meine Kinder,‹ schrie sie, ein entsetzliches Lachen ausstoßend, ›und wenn Sie sie in ihren Schneegräbern gefunden haben, kehren Sie zurück und lehren Sie mich, der Hand fluchen, die sie getötet und dort in fremder, kalter Erde verscharrt hat! Lehren Sie mich den Kaiser verfluchen! Lehren Sie mich einen Fluch, der ihn niederschmettern könnte! Lehren Sie mich, ihn töten und in die Hölle befördern! O meine armen Jungen! André! Jacques! Meine armen Kinder!‹ Sie stieß ein Wehgeschrei aus, fiel auf die Kniee und zerbiß das eigene Haar. Meine Qual war groß, und da ich nicht helfen konnte, schlich ich mich davon!«
»Das ist furchtbar! Das ist wirklich ein furchtbarer Fall,« gab der Priester bewegt zu.
»Jawohl, aber es ist nur einer von vielen tausenden. Die Flüche steigen zum Himmel empor. Werden sie nicht erhört werden?«
»Vorsichtig, Meister Arfoll!« mahnte der Priester, ängstlich um sich blickend. »Man könnte Sie hören.«
»Was liegt mir daran! Der Kaiser mag ein großer Taktiker, ein großer Soldat sein, aber ein großer Mann ist er nicht, denn er hat kein Herz! Glauben Sie mir, Vater Rolland, dies ist der Anfang vom Ende!«
Der kleine Curé antwortete nicht, eine solche Sprache, wie sie Arfoll führte, war in diesen gefährlichen Zeiten bedenklich. Man mußte vorsichtig sein, deshalb meinte er beschwichtigend: »Der Kaiser kann uns ja doch den Frieden geben!«
»Freilich könnte und müßte er das!« rief der Lehrer heftig. »Aber er will nicht!«
»Die ganze Welt lehnt sich gegen Frankreich auf …«
»Und die ganze Menschheit gegen unseren Kaiser.«
»Bedenken Sie doch, daß er für Frankreich kämpft. Die Engländer, Russen und Deutschen würden uns ja lebendig aufessen, wenn wir ihn nicht hätten.« Arfolls erstaunten und verdrießlichen Blick bemerkend, fügte er bescheiden hinzu: »Seien Sie mir nicht böse, ich verstehe nicht viel von Politik!«
»Sie haben doch Augen, zu sehen, mein Vater! Es ist leicht, in Kromlaix am Meere zu sitzen, fernab von dem Getriebe der Welt. Wenn Sie herumkämen wie ich, würde auch Ihnen ob all des Jammers das Herz schwer werden. Wie viele Menschen müssen sich opfern, um die furchtbare Eitelkeit eines einzigen zu befriedigen! Von ihm ist kein Friede zu erwarten! Sein Handwerk ist der Krieg! Er behauptet zwar, England erlaube ihm nicht, Frieden zu machen, er kämpfe um dieses Friedens willen, aber er lügt, er lügt!«
»Ich bitte Sie, Meister Arfoll, in Ihrem Interesse, nicht so starke Ausdrücke zu gebrauchen.«
Dieser beachtete die Mahnung nicht, sondern fuhr mit erhobener Stimme fort: »Als er letzthin durch die Straßen von Paris ritt, flehte das Volk ihn um den Frieden an, Frieden um jeden Preis. Man hätte ebenso gut jenen großen Stein anflehen können. Er blieb schweigsam wie Marmor und hörte das Flehen des Volkes nicht. Das Volk ist erschöpft und verlangt Ruhe, mein Vater!«
»Das ist wahr!« mischte sich plötzlich Rohan in das Gespräch, dem er bisher aufmerksam gelauscht hatte.
»Meister Arfoll hat dich in vielen Dingen denken gelehrt, wie er denkt; Meister Arfoll ist ein guter Mensch, ob er nun recht hat oder nicht. Hüte dich jedoch, mein Sohn, hier in Kromlaix deinen Gedanken freien Ausdruck zu geben! Was Meister Arfoll kühn behaupten darf, könnte dich die Freiheit, vielleicht das Leben kosten,« warnte der gutmütige Pfarrer.
Er brauchte Rohan nicht erst zu erklären, daß die Mehrheit der Leute im Dorfe Arfoll für nicht ganz richtig im Oberstübchen hielten, er daher unbehelligt Dinge sagen durfte, die man von jemand anderem nicht ruhig hinnehmen würde. Sogar eingefleischte Bonapartisten hörten seine Diatriben ruhig an.
»Ich will daran denken, Vater Rolland,« sagte Rohan, mit den mächtigen Schultern zuckend. Dieser junge Riese kannte keine Furcht.
»Und das erschöpfte, ausgesaugte Volk bedarf auch der Ruhe,« fuhr der Schullehrer unbeirrt fort. »Der Reichtum und Stolz unseres Frankreich wird im Kanonenrauch davongeblasen. Die Geldopfer würden nichts machen, wenn uns nur kräftige Arme blieben, um sie zu ersetzen. Aber wo sind diese kräftigen Arme? Die Konskription hat sie mit ihrem blutigen Messer abgeschnitten und uns nur den nutzlosen Stumpf zurückgelassen.«
»Sie übertreiben, Meister Arfoll,« unterbrach ihn der Priester lächelnd. »Da sehen Sie sich einmal unseren Rohan hier an! Seine Arme sind wohl kräftig genug, und solcher giebt es noch die Menge in Frankreichs Gauen.«
Der Schullehrer betrachtete Rohan mit wehmütigem Blick und sagte dann mit noch zitternderer Stimme als bisher: »Das Ungeheuer ›Konskription‹ schreit nach noch mehr Menschenfleisch. Ganze Strecken unseres sonst blühenden Landes liegen brach, denn die Männer, die ackern und säen sollten, liegen tot unter den Ähren fremder Länder oder auf tiefem Meeresgrund oder in den Schneesteppen Rußlands. Ich sage Ihnen, Frankreich nährt eine Schlange an seinem Busen, die seine Kinder eines nach dem anderen gebissen hat und noch beißt. O, wie taub müßt ihr Leute hier in Kromlaix sein, wenn ihr das Wehgeschrei der neuen Rachel um ihre Kinder nicht hört …«
»Pst!« mahnte der Pfarrer plötzlich.
Arfoll hielt in seinem Gleichnis inne.
»Wer ist diese neue Rachel, wenn man fragen darf?« ließ sich eine klare, scharfe Stimme vernehmen.
Korporal Derval, Marcelles Onkel, saß vor seiner Hausthür in der Hauptstraße des Dorfes und sonnte sich. Eine riesige Hornbrille thronte auf seiner Kupfernase, denn er las gerade seine Zeitung. Er trug halb Bauern-, halb Soldatenkleidung. Eine lose Korporalsbluse, dazu kurze, bis zum Knie reichende Beinkleider, auf dem gesunden Bein einen grellroten hohen Strumpf und abgetragenen Pantoffel; statt des anderen Beines hatte er einen kurzen Stelzfuß.
»Guten Morgen, Onkel Ewen!« rief der Pfarrer freundlich. Auch Rohan begrüßte seinen Oheim herzlich und wollte ihn in ein Gespräch verknüpfen, um seine Aufmerksamkeit von dem Schullehrer abzulenken. Aber der Held so vieler ruhmreicher Schlachten war nicht so leicht aus dem Felde zu schlagen. Er begrüßte Arfoll, schüttelte ihm kräftig die Hand und wiederholte seine Frage: »Was ist's mit der neuen Rachel?«
»Ich sprach natürlich bildlich,« entgegnete Arfoll, der seine Überzeugung niemals verleugnete, »und meinte damit das Frankreich unserer Tage. Eine neue Konskription soll ausgeschrieben sein, und mir deucht, das beste Blut unseres Landes sei bereits ausgesogen. Ich habe es mit Rachel verglichen, die um ihre Kinder trauert. Das ist alles!«
»Wirklich? Das ist alles!« rief der Veteran, aufspringend, mit Donnerstimme. Er stellte sich in Positur, die Beine auseinandergespreizt, die rechte Hand auf den Rücken gelegt, Daumen und Zeigefinger der Linken versenkten sich in die Westentasche, um von dort ein Prischen zu holen, das er heftig mit seinen schwellenden, roten Nasenflügeln aufsog. Trotz seines Stelzfußes mußte jedem sofort eine komische Ähnlichkeit mit Napoleon in Haltung und Pose auffallen, auf die der tapfere Korporal nicht wenig stolz war und die er bei allen feierlichen Veranlassungen annahm.
Der Alte gehörte trotz mancher guten Eigenschaften zu den unbeliebtesten und bestgefürchteten Personen von Kromlaix. Das Dörfchen lag weitab vom Wege des politischen Getriebes, und obgleich es einst, wie die ganze Bretagne, vom legitimistischen Fieber erfaßt worden war, hatte man jene Zeit fast vollständig vergessen und heute beteten alle ehrlichen Leute inbrünstig um den Frieden. Sie verfluchten innerlich die Konskription und – Bonaparte, der sie ausschrieb. Da es aber doch auch viele fanatische Bonapartisten im Orte gab, war es nicht geheuer, offen zu revoltieren; man hütete seine Zunge und sehnte sich nur innerlich nach den Tagen des alten Regimes, vermied es aber, mit dem Korporal über politische Dinge zu sprechen.
»Das ist alles!« wiederholte dieser, feuerrot im Gesicht. Die dunklen Augen sprühten Zornesblitze, die Nasenflügel bebten. »Ihre Gründe für diese Behauptung, Meister Arfoll!« schnaubte er dann.
»Die müssen Sie doch mit Ihren eigenen Augen wahrnehmen, mein lieber Korporal,« entgegnete der Schullehrer ruhig. »Frauen und Greise bestellen unsere Felder, die Blüte unserer Jugend dient als Kanonenfutter, und da liegt es doch auf der Hand, daß Frankreich zu Grunde gehen muß.«
Noch während er sprach, traten vier Jünglinge, alle in der Blüte ihrer Kraft, aus dem Hause heraus. Rohan nickte ihnen lächelnd zu. Der Korporal stand wie versteinert da, denn was der Schulmeister gesagt, erschien ihm wie eine Verlästerung seines Idols. Ein Fluch entrang sich seinen zitternden Lippen. Der Pfarrer hielt es für notwendig, sich ins Mittel zu legen. Er berührte den Arm des alten Soldaten und flüsterte ihm zu: »Beruhigen Sie sich doch, Korporal! Es ist ja doch nur Meister Arfoll.«
Diese Mahnung wirkte wie Öl auf stürmische Wellen. Der Alte atmete tief auf, nahm ein Prischen, die Zornesfalten auf seiner Stirn glätteten sich, er streifte seinen Gegner mit einem überlegenen Blick, wie Napoleon einen der königlichen Liliputaner jener Zeit gestreift haben würde, und nahm, um seine Überlegenheit so recht zu beweisen, eine streng militärische Haltung an. Er kommandierte, als ob er an der Spitze einer Rekrutenschar stünde: »Habt acht!«
Die vier Burschen, die bisher in nachlässiger Stellung an der Mauer gelehnt hatten, reckten sich und stellten sich sofort in Positur.
»Habt acht! Hoël!«
»Hier!« antwortete der Jüngling dieses Namens.
»Gildas!«
»Hier!«
»Alain!«
»Hier!«
»Jannick!«
»Hier!«
Alle standen in Reih' und Glied und salutierten, wie Soldaten ihrem Vorgesetzten.
»Paßt auf, ihr Jungens, es geht euch an, und bleibt in Habt-acht-Stellung, während ich Meister Arfoll antworte,« kommandierte der Korporal. Dann wandte er sich an seinen Gegner. Sein Zorn war gewichen und seine Stimme klang ruhig und weich: »Ich will Sie nicht tadeln, Meister Arfoll! Sie haben in Ihrem Leben schon so viel Kummer gehabt, daß auch das stärkste Hirn davon angegriffen werden könnte; auch sind Sie ein Studierter. Sie wandern ferner von Dorf zu Dorf, von Gehöft zu Gehöft und kommen im ganzen Lande herum. Auf diese Weise lernen Sie viel, aber Sie haben doch noch etwas zu lernen. Ich kenne die Geschichte Frankreichs so gut wie Sie und ich sage Ihnen: Frankreich ist nicht gefallen, Frankreich läßt sich mit der Rachel, von der Sie sprachen, nicht vergleichen. Frankreich ist groß und erhaben wie die Mutter der Makkabäer!«
Das Gleichnis war ein glücklich gewähltes und gefiel dem Pfarrer, der befriedigt nickte. Auch die vier Brüder nickten sich stolz zu, obgleich sie die Anspielung nicht recht verstanden. Selbst Rohan lächelte.
Der Korporal erwartete eine Antwort, aber sie blieb aus. Der Wanderlehrer, noch um einen Schatten bleicher als sonst, richtete seine traurigen Augen voll Mitleid auf seinen Gegner, sprach jedoch kein Wort. Was hätte er ihm auch antworten sollen? …
Ewen warf sich noch mehr in die Brust, damit die Medaille der Ehrenlegion besser zur Geltung komme, und kommandierte, diesmal mit siegesgewissem Lächeln: »Habt acht! Hoël, Gildas, Alain und Jannick! Dies sind meine Jungens; sie waren die Söhne meines armen Bruders, jetzt sind sie die meinigen. Mein Bruder hat sie meiner Obhut anvertraut, und ich war ihnen ein Vater, ihnen und auch ihrer Schwester Marcelle. Ich nenne sie meine Söhne, sie sind alles, was ich in dieser Welt besitze, ich liebe sie. Sie waren ganz klein, als ich mich ihrer annahm, und ich habe sie großgezogen – ich! Wer nun gab mir das Brot, das ich mit ihnen teilte? Der Kaiser, der große Kaiser! Gott beschütze ihn und verleihe ihm den Sieg über seine Feinde!«
Bei den letzten Worten zitterte seine Stimme vor Erregung, er nahm ehrfurchtsvoll die Soldatenmütze ab, und die Sonne küßte seinen schneeweißen Scheitel. Ein solcher Glaube war ebenso rührend wie ansteckend. Selbst ein Chouan hätte sich versucht gefühlt, in den Donnerruf der vier Jünglinge einzustimmen: » Vive l'Empereur!«
Der Veteran setzte seine Mütze wieder auf und gebot den Burschen Ruhe.
»Der ›kleine Korporal‹ vergißt keines seiner Kinder, nein – keines, keines! Er hat dieser Waisen gedacht, hat sie ernährt und ihnen ermöglicht, zu werden, was sie geworden sind! Ich habe sie gelehrt, allabendlich für ihn zu beten; ihre Gebete haben sich mit jenen von Millionen anderer vermengt und sie haben ihm zum Siege über die ganze Erde verholfen.«
Meister Arfoll, obgleich sanft wie ein Lamm, war doch ein Mensch. Jetzt bot sich ihm Gelegenheit, den Zornesausbruch des Veteranen zu parieren, und er ließ sich sie nicht entgehen. Während dieser einen Augenblick innehielt, um Atem zu schöpfen, bemerkte er, auf die vier Jungens zeigend: »Und wie ist's mit ihren drei Brüdern, Korporal Derval?«
Der Streich saß, das Blut wich aus den Wangen des alten Soldaten. Weit entfernt von der Heimat, in fremder Erde moderten drei Söhne dieses Hauses – zwei von ihnen unter dem furchtbaren Schnee Rußlands. Er blickte scheu nach der Thür, denn hinter derselben saß die Witwe seines Bruders, die noch immer untröstliche Mutter der Gefallenen, aber er sagte mit fester Stimme: »Ihre Seelen sind bei Gott! Sie sind auf dem Felde der Ehre gestorben, wie es sich für tapfere Soldaten ziemt. Ist es nicht besser, so zu sterben, als im Bette eines Feiglings? Sie haben ihre Pflicht erfüllt, Meister Arfoll – mögen auch wir die unserige erfüllen!«
»Amen!« rief der kleine Curé.
»Sehen Sie, wenn der ›kleine Korporal‹ mir heute seine Schnupftabaksdose reichen und sagen wollte: ›Korporal Ewen Derval, ich brauche auch Ihre anderen Bursche,‹ ich weiß, sie würden dazu lächeln, meine braven Jungens – Hoël, Gildas, Alain und Jannick – und ich, der alte Grenadier von Cismone, Arcola und Austerlitz, ich, mit meinem Rheumatismus und meinem Stelzfuß, würde mich an die Spitze meiner Makkabäer stellen und mitmarschieren – rat-a-tat, rat-a-tat!«
Diesmal schien der Enthusiasmus durch die Wendung, die das Gespräch genommen, etwas gedämpft worden zu sein. Hoël, Gildas und Alain brachen nicht in Hochrufe auf den »großen Kaiser« aus, und Jannick, der Humorist der Familie, zog sogar hinter dem Rücken seines patriotischen Oheims eine Grimasse. Dafür aber rief Marcelle begeistert: »Und ich, Onkel, würde mit dir marschieren!«
Mit blitzenden Augen und brennenden Wangen auf der Thürschwelle stehend, sah sie wirklich wie eine Makkabäerin aus.
»Du hättest auch ein Mann sein sollen,« rief der Alte begeistert und nahm ein Prischen, um seine Rührung zu verbergen. »Natürlich marschierst du auch mit – als Marketenderin der Makkabäer. Aber, mein Gott, was bin ich doch für ein Chouan! Ich lasse Ehrwürden auf der Straße stehen – wollen Sie nicht eintreten, Vater Rolland?«
Er humpelte zur Thür, riß diese auf und machte eine einladende Handbewegung, die eines Regenten würdig gewesen wäre. Der Priester nickte dem Wanderlehrer freundlich zu und verschwand dann im Hause.
Arfoll stand mit Rohan noch mitten auf der Straße. Einen Augenblick stutzte er, dann reichte er ihm die Hand und sagte rasch: »Ich werde dich heute Abend bei deiner Mutter treffen – jetzt muß ich forteilen!« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging er mit großen Schritten dem Meeresstrande zu, Rohan in der Gesellschaft seiner reckenhaften Vettern zurücklassend.