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Die Kirche war hell erleuchtet, die ganze Küste entlang brannten Freudenfeuer, in vielen Booten flammten bunte Lampions. Das Wirtshaus war zum Erdrücken voller Leute, die jede Gelegenheit benützen, um ihre trockene Kehle anzufeuchten. Die weiße Flagge flatterte nach wie vor lustig auf dem Kirchturm. Marcelle wurde bei diesem Anblick das Herz schwer. Ein kalter Nordwind blies ihr ins Gesicht, als sie in düstere Gedanken versunken zur Kirche emporstieg. Gott schien sich von Frankreich und von ihrem Hause abgewandt zu haben und der Tag des Gerichtes schien hereingebrochen zu sein; leider wurden aber nur die Guten bestraft, während die Bösen ihr Spiel trieben. Je näher sie der Kirche kam, desto mehr Gruppen von lebhaft schwatzenden Männern und Frauen standen am Wegrande. Von Zeit zu Zeit ertönte der Ruf: » Vive le Roi!« der ihr wie ein Messerstich durchs Herz drang. Sie fühlte sich in diesem allgemeinen Jubel so einsam und verlassen! Man hatte sie, seit sie denken konnte, gelehrt, den Kaiser als eine Art höheres Wesen zu bewundern; ihr Onkel galt im Dorfe als Autorität – allerdings war er immer mehr gefürchtet als geliebt worden – und nun änderte sich all das mit einem Schlage: Napoleon war von seinem Throne gestürzt und sein Fall hatte dem Onkel das Herz gebrochen, seine Autorität vernichtet. Wenn sie doch wenigstens ein Mann wäre, dann würde sie die verhaßte Flagge dort oben herunterreißen, die ihrem Onkel beinahe das Leben geraubt hatte! Als Mädchen mußte sie all die Schmach ruhig geschehen lassen.
Sie schlich sich vorsichtig von Gruppe zu Gruppe, denn sie wollte nicht erkannt sein, bis sie den Kirchhof erreichte, den sie zu ihrem Erstaunen von einer erregten Menge belebt fand. Aus den bemalten Kirchenfenstern drang heller Lichtschein, zahlreiche Männer hielten brennende Fackeln, etwas besonderes mußte vorgehen, denn jemand sprach mit lauter Stimme zu der Menge. Marcelle drängte sich vor und sah, daß der Redner der auf einer Erhöhung stehende Schloßherr Marmont sei. Er war von zahlreichen Edelleuten und Priestern umringt, die ihm lebhaft Beifall klatschten. Etwas abseits, im Schatten, stand ein Mann mit dem Rücken zu ihr gekehrt, der verwundert zu dem Redner emporblickte: »Alle die Gott fürchten und den König lieben, mögen meine Worte beherzigen,« hörte sie Marmont mit wohlklingender Stimme sagen. »Wenn einer unter euch ist, der den Mann tadelt, der habe den Mut, offen vorzutreten. Ich sage euch, der Jüngling war vor Gott und der Welt gerechtfertigt. Er weigerte sich, für den Usurpator das Schwert zu ziehen und wurde deshalb wie ein Wild verfolgt und mißhandelt; wenn er aus Notwehr und in seiner Verzweiflung Blut vergossen hat, so ist das ganz gerechtfertigt. Wer an eurer Stelle hätte anders gehandelt? Gott, der alles sieht, weiß, was der Ärmste gelitten hat und Gott allein hat ihn gnädig beschützt und durch alle Gefahren geleitet – als Zeugnis gegen die soeben gestürzte Dynastie. Seht euch doch den armen, halbverhungerten, zu Tode gehetzten Burschen an! Er ist nicht einmal mehr der Schatten seines früheren Selbst, ein gebrochener, frühzeitig ergrauter junger Greis. Ihr sagt, er habe einen Menschen gemordet? Nun denn, ich sage euch, der Kaiser, der ihn zu dem gemacht, was er ist, hat Tausende und Hunderttausende gemordet! Ihr sagt, er sei ein Deserteur, ein Empörer, und ich sage euch, er ist ein Held, ein Märtyrer! Heißet ihn in eurer Mitte willkommen, umarmt ihn, meine Brüder!« schloß der Redner mit erhobener Stimme.
Derjenige, für den sich der Redner so warm einsetzte, rührte sich nicht; sein Gesicht trug einen gleichgültigen, gedankenlosen Ausdruck. Als aber die Menge in laute Hochrufe ausbrach, hysterische Frauen laut schluchzten und zahlreiche Männerarme sich nach ihm ausstreckten, um ihn zu umarmen, da sprang er, um die Berührung zu vermeiden, auf die Anhöhe an die Seite des Redners und jetzt sah Marcelle sein Gesicht. Gleichzeitig schrie die Menge auch: »Hoch Rohan Gwenfern!«
Rohan sah jetzt kaum weniger elend und zerfetzt aus als am Tage der Überschwemmung, an welchem Marcelle ihn zuletzt gesehen hatte. Er blickte wie im Traum auf die schreiende Menge hinab und erwiderte die Händedrücke des Schloßherrn und der sich an ihn herandrängenden Priester sehr kühl. Wahrscheinlich ahnte er, was deren Begeisterung wert sei und daß Marmont und seine Freunde nur zu froh waren, eine Gelegenheit ergreifen zu können, um das gestürzte Kaiserreich beim Volke zu diskreditieren. Er wußte auch, daß die ihn umjauchzende Menge nur der momentanen Eingebung folgte und ebenso bereit gewesen wäre, ihn in Stücke zu reißen, wenn Marmont seine Rede in diesem Sinne gehalten hätte. Er sprach kein Wort und stieg, nachdem er ein Weilchen um sich geblickt hatte, von der Anhöhe herab und bahnte sich direkt zu Marcelle einen Weg. Die Menge trat, noch immer Hochrufe ausstoßend, scheu zurück und ließ ihn passieren. Als er von Angesicht zu Angesicht vor ihr stand, sagte er ohne jede weitere Begrüßung und ohne das geringste Erstaunen über ihre Anwesenheit zu verraten: »Komm, Marcelle, laß uns gehen!«
»Das ist die Nichte des Korporals! A bas le Caporal!« riefen die Zunächststehenden, Marcelle erkennend.
»Stille!« schrie der Schloßherr. »Laßt den Burschen in Frieden ziehen!«
Zitternd und verwirrt ließ sich Marcelle von ihrem Vetter aus dem Friedhof führen. Die Anwesenheit Rohans an jenem Orte und unter solchen Umständen war ihr über alle Maßen schmerzlich. Obgleich sie sich im ersten Augenblick sehr gefreut hatte, ihn lebend und verhältnismäßig wohlauf zu sehen, war sie entsetzt, ihren Verlobten von jenen anerkannt und geehrt zu sehen, die ihr Idol haßten und ihrem Onkel das Herz gebrochen hatten. Sie hatte im Augenblick vergessen, was Rohan gelitten, daß sie ihn liebte und ihm ihr Leben schuldete; sie grollte ihm bitterlich, weil sie ihn in der Mitte der Verhaßten gesehen. Sie schritt stumm an seiner Seite dahin, bis sie die Menge hinter sich hatten und in die stille Dorfstraße einlenkten. Auch er sprach kein Wort, was ihr schließlich so peinlich ward, daß sie ihre Hand aus der seinigen zog und in hysterisches Schluchzen ausbrach. Als auch ihm das Schweigen unerträglich wurde, lachte er plötzlich so schrill und wild auf, daß ihr das Herz vor Schreck stockte. Er legte die Hand auf ihren Arm und zwang sie, stehen zu bleiben, dann sagte er mit heiserer Stimme: »Nun ist alles vorbei und ich bin nach Hause gekommen; doch wo bleibt dein Willkomm, Marcelle?«
Seine Stimme klang so seltsam und sein Blick war so starr, daß das Mädchen ihn entsetzt anblickte, seinen Arm umklammerte und flehend bat: »Ach, Rohan, lieber Rohan, glaube ja nicht, daß ich mich nicht freue! Wir hofften gar nicht mehr, dich lebend wiederzusehen; ich habe Nacht für Nacht für deine Seele, die ich bei Gott wähnte, gebetet. Wenn alle bei uns im Hause schliefen, schlich ich mich zu Tante Luise, um sie zu trösten und mit ihr von dir zu sprechen. Jetzt hat sich aber alles verändert, der Kaiser ist gefangen, Onkel Ewen vor Herzleid krank und gebrochen, wir alle sind elend und unglücklich. Ich bete alle Abend zu Gott, daß er mich sterben lasse!« schloß Marcelle, bitterlich schluchzend. Merkwürdigerweise äußerte Rohan keinerlei Zeichen der Erregung oder des Mitgefühls: »Weshalb weinst du, Marcelle? Weil der Kaiser endlich gestürzt ist? Als ich sah, daß der Heiland mir nicht helfen wollte, wandte ich mich in meiner Verzweiflung an unsere ›Liebe Frau vom Hasse‹. Eine Zeitlang schien auch sie taub, aber ich betete so lange, bis sie mich erhörte. Innerhalb eines Jahres ging mein Gebet in Erfüllung,« erklärte Rohan, wild auflachend. Seine Worte, sein schrilles, unheimliches Lachen, der unstete Blick erschreckten Marcelle; sie trat zurück und sah ihm forschend ins Gesicht.
»Allmächtiger Gott, was sagtest du da, Rohan?«
»Ich hatte nicht gehofft, daß es so schnell in Erfüllung gehen werde,« fuhr er in geheimnisvollem Tone fort, »aber daß es kommen wird, wie es gekommen ist, das wußte ich vom alten Pipriac, der mir im Traum erschienen ist. Es war eine schwierige Jagd, aber schließlich haben wir ihn doch bezwungen. Die heilige Mutter vom Hasse wird an seinem Herzen nagen und ich – ich gehe nach Hause, um auszuruhen, denn ich bin sehr müde.«
»Rohan!«
»Ja, Marcelle!«
»Was sprichst du da für schreckliche Dinge? Du bist heute so seltsam! Ich fürchte mich vor dir.«
»Bin ich seltsam?« fragte er, mit der Hand über die Stirne fahrend. »Es kann sein, daß du recht hast, Marcelle. Hie und da glaube ich selbst, daß mein Verstand getrübt ist. Ich hatte viel zu leiden und mußte lange warten, bis mein Gebet in Erfüllung ging; es wäre kein Wunder, wenn mein Verstand darunter gelitten hätte. Sei mir nicht böse, ich werde mich bald erholen.«
Etwas in seiner Stimme rührte sie wieder zu Thränen, aber sie bezwang sich tapfer, nahm ihn bei der Hand und schritt mit ihm die Hauptstraße des Dorfes entlang, bis sie vor dem Hause ihres Onkels standen. Rohan schien gar nicht zu wissen, wo er sich befand, so mechanisch folgte er ihr.
»Onkel Ewen ist sehr, sehr krank; ich fürchte, daß er bald sterben wird. Der Sturz des Kaisers hat ihm das Herz fast gebrochen – –«
»Der Sturz des Kaisers hat ihm das Herz fast gebrochen,« wiederholte er leise.
»Ich weiß, daß du den Kaiser nicht liebst, weil du glaubst, daß du seinethalben so viel leiden mußtest. Aber du irrst dich – er konnte ja nicht alles wissen und wenn er deinen Fall gekannt hätte, er hätte dir sicherlich vergeben … Rohan, ich beschwöre dich noch einmal, glaube nicht, daß ich mich über deine Rückkehr nicht freue. Du bist jetzt geborgen und frei!«
»Man sagt es wenigstens.«
»Deine Mutter wird sich freuen – es wird ein Glück für sie sein, dich ans Herz drücken zu können. Lebe wohl, Rohan, Gott mit dir! Ich kann dich nicht bitten, hereinzukommen, denn der Onkel ist krank!« Sie reichte ihm beide Hände, er nahm sie, zog das Mädchen an seine Brust und küßte es auf den Mund.
»Weißt du, Marcelle, daß du noch schöner geworden bist?«
»Rohan, betest du zuweilen?« fragte sie, sich zärtlich an ihn schmiegend.
»Hie und da,« entgegnete er lächelnd, »aber weshalb fragst du?«
»Bete für Onkel Ewen, damit der liebe Gott ihn gesunden lasse,« entgegnete sie mit bebenden Lippen und feuchten Augen. Dann schieden sie. Marcelle trat ins Häuschen, während Rohan seiner eigenen Behausung zuschritt.
Man kann sich die Freude der Mutter Gwenfern vorstellen, als sie ihren Sohn endlich offen und ohne Furcht in ihrer Hütte begrüßen konnte. Seine traurige Geschichte hatte sich im ganzen Lande herumgesprochen und ihm viele Freunde und Bewunderer verschafft. Selbst seine bittersten Feinde im Dorfe wagten kein Wort gegen ihn zu sagen. Der Bürgermeister von St. Gurlott, der ihn so erbarmungslos hatte verfolgen lassen, erklärte ihn öffentlich als einen Märtyrer, für den das Land etwas thun müsse; Pipriacs Ermordung sei aus Notwehr erfolgt, infolgedessen gerechtfertigt und nicht strafbar. Der gute Bürgermeister gehörte eben zu der Species von Menschen, die gleich dem Chamäleon je nach Bedürfnis ihre Farbe wechseln.
So konnte denn Rohan als freier Mann an seinem eigenen Herd der langersehnten Ruhe pflegen. Die Freude seiner Mutter dauerte freilich nicht lange, denn die Ärmste bemerkte schon in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr die furchtbare Veränderung, die mit ihrem Sohne vorgegangen war. Nicht nur daß er äußerlich den Eindruck eines gebrochenen Menschen machte und daß seine prächtigen blonden Locken ganz grau geworden waren, auch sein Geist hatte gelitten. Er versank stundenlang in eine Art Erstarrung und sprach in diesem Zustand ganz unzusammenhängendes Zeug. Wenn er dann erwachte, sah er wie aus dem Grabe gestiegen aus. Des Nachts wurde er von schwerem Alpdrücken geplagt und er träumte von der Belagerung der Grotte und dem Tode Pipriacs. Kein Lächeln erheiterte sein düsteres Gesicht, und er sprach nur, wenn er befragt wurde. So hatte denn die Mutter nur nach und nach erfahren, daß er sich den ganzen Winter in den ärmlichen Hütten von St. Lok herumgetrieben und bei den Strandpiraten Obdach gefunden hatte. Er lebte in fortwährender Angst, entdeckt zu werden und litt furchtbare Entbehrungen. Was ihn jedoch am meisten bedrückte, das war die Blutschuld; mit dieser vermochte er sich nicht abzufinden. Wenn er auch in den Augen der Welt gerechtfertigt war, vor seinem eigenen Gewissen war er es nicht: an seinen Händen klebte Blut und noch dazu das eines Freundes seines Vaters! Der Friede seines Herzens war für immer gestört, sein Organismus im Kern zerrüttet. Seelenqualen und physische Leiden trübten allmählich seinen Geist, die Erinnerung an die furchtbaren Schrecken und Leiden in der Grotte ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Dazu kam allmählich die Einsicht, daß zwischen ihm und Marcelle eine seelische Entfremdung eingetreten war, die sich wohl nie mehr überbrücken lassen werde. Seine Rettung hatte ihr Kummer gebracht, seine Hoffnungen sie in Verzweiflung versetzt. Was zu seiner Ehrenrettung geführt hatte, hatte ihren Onkel beinahe an den Rand des Grabes gebracht. Freilich, sie blieb ihm gegenüber immer die Gleiche; sie war sanft, treu und freundlich, aber ihre Blicke verrieten nicht mehr die stille Leidenschaft früherer Tage, sie war schüchtern und zurückhaltend. Er besaß noch immer einen Teil ihres Herzens, ihre Seele aber hatte ihm Napoleon entfremdet.
Marcelle beschäftigte sich fast ausschließlich mit ihrem kranken Onkel, der seinen Anfall nach wenigen Tagen so weit überwunden hatte, daß er das Bett verlassen konnte, allerdings nur als Schatten seines früheren Selbst, als ein an Leib und Seele gebrochener Greis. Er mußte sich vor der kleinsten Aufregung hüten und jedes Mitglied der Familie bemühte sich auch redlich, ihm jede unangenehme Nachricht, jedes Ärgernis fernzuhalten; die Zeitungen freilich konnte man ihm nicht unterschlagen. Er verfolgte im Geiste Bonapartes Abschied von Frankreich, seine Ankunft auf Elba, den Einzug des verhaßten Königs in die Hauptstadt des Reiches und all die Veränderungen, welche die Wiedereinsetzung der Bourbonen nach sich zog. Der Korporal brauchte sich nur vor seine eigene Hausthüre zu setzen, um diese wahrzunehmen. Täglich zogen kirchliche Prozessionen durchs Dorf, die Glocken hörten gar nicht mehr zu läuten auf, denn der König war ein gar frommer König und seine Familie eine gar fromme Familie. Wie man unter der Herrschaft Napoleons überall den Soldatenrock sah, so erblickte man jetzt allenthalben die schwarze Sutane. Die Priester, die mit den Emigranten das Land verlassen hatten, kamen jetzt scharenweise zurück, und es galt, ihnen fette Stellen zu verschaffen. Vom Morgen bis zum Abend sang man in sämtlichen Kirchen das »Tedeum.« In der Bretagne wurden alle verfallenen Kapellen neu erbaut, vernachlässigte Kalvarien aufgerichtet, Heiligen- und Muttergottesbilder an allen möglichen und unmöglichen Orten angebracht. Alte religiöse Gebräuche, die während der Revolution außer Übung kamen, fanden wieder Aufnahme. Es war geradezu erstaunlich, wie rasch die totgeglaubten Ideen und Ceremonien zu neuem Leben erwachten.
Im Hause des Korporals herrschte darob tiefe Trauer; die Witwe war die einzige, die innerlich frohlockte, denn sie hatte auch unter Napoleon Gott und alle Heiligen angebetet und alle kirchlichen Gebräuche eingehalten. Ihre größte Sorge bildete jetzt ihr Sohn Hoël, der seit vielen Monaten kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte und schon längst hätte zu Hause sein müssen.
Marcelle verabscheute die neue Richtung und mochte gar nicht mehr in die Kirche gehen, denn sie zürnte dem Vater Rolland, weil er sich an die Seite der Royalisten gestellt. Statt die große Messe zu besuchen, ging sie allsonntäglich in die kleine Kapelle hoch oben in den Klippen; hier konnte sie ungestört beten und ihrem gepreßten Herzen Luft machen.
Der Frühling machte einem segensreichen Sommer Platz, die weiße Lilie verbreitete ihren Glanz über ganz Frankreich und erfüllte alle Herzen mit Hoffnung und Frieden. Man wagte es wieder aufzuatmen. Die große Seewand der Bretagne schimmerte ganz weiß von glücklichen Vögeln, die üppigen Felder wurden wieder von Männern und Jünglingen bestellt, deren frische, frohe Lieder mit denen der Nachtigallen und Lerchen wetteiferten. Natur und Menschen schienen ihre Wiedergeburt zu feiern, die Welt war in einen farbenprächtigen Garten verwandelt, die Menschen vergaßen alle überstandenen Leiden in der Freude am Leben und der Gewißheit einer guten Ernte. Nur die Soldaten brummten, denn mit ihrem Handwerk war's vorbei.
Als Marcelle eines Sonntags aus der Kapelle trat, erwartete Rohan sie in der Nähe. Sie trat mit ihrem gewohnten sonnigen Lächeln auf ihn zu und reichte ihm die Wangen zum Kuß. Er sah sehr bleich und traurig aus, aber sein Benehmen war normal. Hand in Hand schritten sie den schmalen Pfad entlang, den sie vor mehr als einem Jahr als Neuverlobte gegangen waren. Unten leuchtete und schimmerte das Meer in allen Farben; es lag so still und klar da, daß man bis auf den Grund zu sehen vermeinte. Nachdem sie ein gutes Weilchen wortlos nebeneinander geschritten waren, blieb Marcelle endlich stehen und sagte: »Wir entfernen uns immer mehr vom Hause und ich habe versprochen, nicht lange fortzubleiben.«
»Wir können ja umkehren,« meinte Rohan. Das thaten sie denn auch sofort. Kein Liebeswort kam über ihre Lippen. Als sie die Kapelle schon weit hinter dem Rücken hatten, blieb Rohan plötzlich an einer Biegung des Weges stehen, blickte gedankenvoll über die ruhige Wasserfläche und sagte: »Ich denke oft darüber nach, was er wohl jetzt thun und denken mag.«
»Wer? Von wem sprichst du?« fragte Marcelle verwundert.
»Napoleon! Man hat ihn kaltgestellt, weit von jeder Hilfe und Hoffnung. Man nennt ihn König von Elba; selbstverständlich ist das nur Spott, denn ich glaube, seine Macht ist für immer gebrochen,« entgegnete Rohan bewegt; seine Augen blickten starr auf einen Punkt, seine Lippen zitterten. Marcelle beschleunigte erschreckt ihre Schritte, während er weiter sprach: »Meister Arfoll irrte sich dies eine Mal, als er sagte, der Kaiser sei von Fleisch und Blut wie jeder andere Mensch. Mir scheint es oft, als ob er ein überirdisches Wesen wäre, ein Schatten, wie der Schatten Gottes, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß ein gewöhnlicher Mensch das aushalten kann! Bedenke doch, Hunderttausende von Toten, die allnächtlich an sein Lager treten und seinen Namen rufen, denn ihr Blut klebt an seinen Händen! Kein Mensch könnte das aushalten, ohne wahnsinnig zu werden!«
Marcelle begriff den Sinn seiner Worte nicht ganz, erkannte aber, daß sie eine Anklage ihres Idols bedeuteten, was ihren Zorn wachrief. Als sie jedoch in das bleiche und abgehärmte Antlitz, in die starren, ausdruckslosen Augen ihres Verlobten blickte, wurde ihr Herz wieder von Mitleid und Schmerz weich. Um ihn abzulenken, bemerkte sie sanft: »Onkel Ewen frägt oft nach dir, er findet es unfreundlich von dir, daß du nie zu uns kommst.«
Rohan antwortete nicht, sondern brach in jenes schrille, unheimliche Lachen aus, das Marcelle so fürchtete und die Leute im Dorfe veranlaßte, zu vermuten, daß Rohan Gwenfern nicht recht bei Troste und zeitweilig sogar gefährlich sei. Wieder gingen sie wortlos nebeneinander her und Marcelle wunderte sich, daß Rohan an ihrer Seite blieb, bis sie das Haus des Korporals erreichten. Hier blieb sie stehen, um sich zu verabschieden, er aber sagte ruhig: »Ich will Onkel Ewen besuchen, da er es von mir erwartet.«
Marcelle erschrak, denn das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte den Aufgeregten bloß auf ein anderes Thema bringen wollen, als sie von Onkel Ewen sprach. Sie fürchtete eine Zusammenkunft der beiden Menschen, die so grundverschiedener Ansicht waren. Da sie sich aber nicht widersprechen konnte, beschwor sie Rohan, mit dem Onkel kein Wort über den Kaiser zu sprechen, was er bereitwillig zusagte. Im nächsten Augenblick traten sie über die Schwelle. Der Korporal saß wie gewöhnlich in seinem Lehnstuhl und las Zeitungen. Marcelle trat zuerst ein, neigte sich über den Alten und sagte lächelnd: »Onkel, ich bringe dir einen Gast!«
Der Korporal blickte auf und sah einen gebeugten, bleichen, grauhaarigen Menschen vor sich stehen, der ihm sehr bekannt vorkam. Er rieb sich die Augen und erkannte jetzt erst Rohan: »Bist du es, mein Junge? Krähenseele! Du hast dich sehr verändert. Ich habe dich zuerst gar nicht erkannt!«
»Ja, Onkel Ewen, ich bin's!« entgegnete Rohan gleichmütig, dann schüttelten sie sich bewegt die Hände.
»Ich sage dir, Marcelle, er ist ein tapferer Junge und hat ein Löwenherz – aber im Kopf scheint er nicht ganz richtig zu sein. Wir hätten das schon sehen müssen, als er sich weigerte, die Waffen zu ergreifen. Auch Meister Arfoll ist nicht ganz richtig im Kopfe und hat Rohan damit angesteckt – so was ist wie ein wildes Fieber. Ich vergebe ihm alles, denn er ist wirklich nicht ganz zurechnungsfähig,« erklärte Derval, nachdem Rohan sich entfernt hatte.
Daß er selbst an einer fixen Idee litt, das würde der Alte nicht geglaubt haben, selbst wenn man es ihm gesagt hätte.