Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Rohan Gwenfern war wie vom Erdboden verschwunden. Man fahndete allerorten nach ihm. Viele Meilen in der Runde war in jedem Dorfe sein Name ausgeschrieben; man versprach jedem, der ihn lebend oder tot der Behörde ausliefern würde, ein hohes Blutgeld – vergebens. Seit dem denkwürdigen Abend nach der Konskription war er nicht mehr gesehen worden. Vater Rolland behauptete mit aller Bestimmtheit, daß Rohan einen Selbstmord begangen haben müsse. Nur ein einziges Wesen in Kromlaix wußte, daß dem nicht so sei, aber Marcelle Derval hütete sich, einer Sterbensseele ihre Begegnung mit Rohan beim Blutpfuhl Christi zu verraten. Sie hatte ihre triftigen Gründe dafür.
Onkel Ewen verpaßte keine Gelegenheit, seinem Zorn und seiner Verachtung kräftigen Ausdruck zu verleihen. Er erklärte alle anderen Konskribierten von Kromlaix für pflichtgetreue, brave Bursche, nur Rohan Gwenfern sei ein Elender und ein Feigling. Marcelle widersprach jetzt nicht mehr, denn hatte Rohan ihr nicht eingestanden, daß er sich aus Furcht verstecke? Hatte sie denn nicht mit eigenen Augen gesehen, daß sein Antlitz von Angst verzerrt war, als sie ihn aufforderte, ihr ins Dorf zu folgen? …
Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie an diese letzte Unterredung mit Rohan dachte; die Furcht mußte ihm den Verstand vollständig geraubt haben, anders war sein seltsames Benehmen nicht zu erklären. Ihre Liebe hatte sich an seiner herrlichen Männlichkeit, an seiner außergewöhnlichen Kraft und Schönheit, an seiner geistigen Überlegenheit entzündet; seine Geschicklichkeit, sein Mut und seine Herzensgüte hatten sie bestrickt; sie hatte in all diesen seinen Tugenden geschwelgt und war, wie jedes schwache Weib, auf seine physische und moralische Kraft, die ihn hoch über seine übrigen Kameraden erhob, stolz gewesen und es kam ihr unbegreiflich vor, daß sogar der schüchterne Hoël und der dumme Gildas ihn an Mut übertroffen haben sollten. War es denkbar, daß seine äußere löwenhafte Erscheinung so wenig im Einklang mit seinen inneren Eigenschaften stehen sollte? War alles, was sie bisher von ihm wußte, nur Schein und Trug? Der letzte Krüppel im Lande würde sich mutiger benommen haben, wenn der Kaiser ihn gerufen hätte! Ach, es wäre tausendmal besser gewesen, wenn er auf der Suche nach Vogeleiern von der steilsten Klippe hinabgestürzt wäre – dann hätte sie ihn als den kühnsten und tapfersten Jüngling der Gegend aufrichtig betrauern dürfen!
So oft diese und ähnliche Gedanken durch ihr erhitztes Gehirn jagten und sie zwangen, Rohan zu verdammen, regten sich gleichzeitig tief in ihrem Innersten Gewissensbisse, denn bis zu jener verhängnisvollen Begegnung am Kreuze hatte sie noch nie so deutlich empfunden, wie fern ihre Seele und ihre Gedankenwelt derjenigen Rohans stand. Ganze Welten schienen sie zu trennen. Und von jener Stunde an bis zum heutigen Tage regte sich oft eine Stimme in ihrem Herzen, die ihr bald leise, bald gebieterisch sagte: »Du verstehst ihn nicht, wie ihn alle deinesgleichen nicht verstehen! Er steht meilenhoch über euch!« Etwas in seinen Blicken und Worten hatte sie damals verwirrt und sie seine geistige und moralische Überlegenheit dunkel empfinden lassen. Diese Empfindung wollte sich nicht mehr unterdrücken lassen; sie wuchs und ließ die Liebe nicht einschlafen, ja, sie bekleidete Rohan wieder mit jener physischen Kraft, die das Weib aus dem Volke bei dem Manne ihrer Wahl sucht und anbetet.
Sie stellte sich ihn lieber als schlecht und verrückt vor, als Erzfeind ihrer Anschauungen und der großen kaiserlichen Sache, denn als gewöhnlichen Feigling und Angstmeier. Aber ob Feigling oder Chouan oder beides – er blieb verschollen, und wenn er lebte, woran die meisten zweifelten, so wußte kein Mensch: wo und wie. Die rote Schnapsnase Pipriacs vermochte weder im Dorfe, noch außerhalb desselben seine Spur zu entdecken. Hunderte von Spionen lauerten darauf, das Blutgeld zu verdienen – vergebens. Schließlich verbreitete sich die Privatansicht des guten Curé allgemein und man nahm an, daß Rohan Gwenfern sich entweder von einer hohen Klippe gestürzt habe oder im Meer ertrunken sei. Als bereits viele Wochen verstrichen waren, begann sogar Marcelle das Schlimmste zu befürchten und ihre stillen Vorwürfe verwandelten sich in tiefe Trauer; aber sie konnte sich derselben nicht hingeben, denn sie hatte ihre Mutter zu trösten, die Hausarbeit zu verrichten, zum Brunnen zu gehen – kurz, jede Stunde des Tages war mit Arbeit ausgefüllt. Hätte sie sich ganz ihrem Kummer hingeben können, sie wäre sicherlich zu Grunde gegangen; so aber fand sie Trost und Ablenkung in ihrer Arbeit. Ihre Wangen wurden wohl von Tag zu Tag bleicher, ihre Augen immer matter, aber ihr Gang blieb fest und sie behielt den Kopf hoch. Nie kam eine Klage über ihre Lippen, sie trug ihren Kummer für sich. Nur wenn sie sich hie und da abends zu Mutter Gwenfern schleichen oder ihren Kopf in den Schoß Genovevas drücken konnte, fand ihre bedrückte Seele durch Thränen Erleichterung.
Zu den Sorgen um ihre Brüder und Rohan gesellte sich noch eine neue. Mikel Grallon, den sie nie recht leiden gemocht und den sie schon lange im Verdacht hatte, ein Auge auf sie geworfen zu haben, trat jetzt als offener Bewerber um ihre Gunst hervor. Nicht, daß er sie selbst mit seiner Werbung belästigte – das hätte gegen die Kromlaixer Etikette verstoßen. Diese erforderte, daß der Jüngling, der sich um eine Maid bemüht, zuerst ihren Eltern und Verwandten Höflichkeiten erweise, sich mit ihnen ins Einvernehmen setze, sich über die Vermögensverhältnisse und die Mitgift der Braut informiere und seine eigene Lage bekanntgebe.
Mikel Grallon war ein wohlhabender Mann und gehörte einer wohlhabenden Familie an. Er besaß sein eigenes Boot und war ein äußerst geschickter Fischer; auch gegen seine Person ließ sich absolut nichts einwenden, denn er galt als ein nüchterner, sparsamer und tüchtiger Bursch, war also eine begehrenswerte Partie.
Ein besonders angenehmer Patron war Mikel Grallon dennoch nicht; die schmalen, dünnen Lippen, die kleinen, listigen Augen mit den darüber zusammengewachsenen buschigen Brauen deuteten durchaus nicht auf einen vornehmen Charakter hin; der auf den kurzen, breiten Schultern sitzende Kopf war zu klein, um symmetrisch zu sein. Seine Gesichtszüge glichen eher geschlossenen Blättern als offenen Blüten und trugen nicht den gutmütigen Ausdruck, den der Wind Männern, die viel auf offener See sind, aufzuprägen pflegt. Man bemühte sich vergebens, darin zu lesen, sie bildeten nicht den Spiegel seiner Seele. Auf seinen Lippen schwebte stets ein verbissenes, geheimnisvolles Lächeln. Bezeichnend für seinen Charakter war die zähe Standhaftigkeit, mit der er ein Ziel verfolgte. Was er sich vornahm, das setzte er früher oder später durch, wenn er sich auch nicht immer sehr lauterer Mittel bediente.
Marcelle schien nicht sonderlich erbaut, als sie seine »Werbung« wahrnahm. Obgleich diese anfangs nur aus zwei- bis dreimal wöchentlich abgestatteten Abendbesuchen bestand, während welcher er kaum ein Wort mit ihr wechselte, fühlte sie sich beunruhigt. Jedesmal, wenn er in die Küche trat, suchte sie nach einer Ausrede, um sich aus dem Hause entfernen zu können. Gelang ihr das nicht, dann wurde sie stets von einer fieberischen Unruhe erfaßt, denn Mikel Grallon wandte den ganzen Abend kein Auge von ihr und verfolgte jede ihrer Bewegungen mit bewundernden Blicken.
Jannick, der Grünschnabel, hatte die Sache bald weg und machte Grallon zur Zielscheibe seines Spottes. Er war nicht einmal durch das Geschenk eines neuen Bandes für seinen Dudelsack zum Schweigen zu bewegen. Es machte ihm unendliches Vergnügen, Marcelle zu necken. Zu seiner Überraschung mußte er aber wahrnehmen, daß sie seine spöttischen Bemerkungen und Anzüglichkeiten nicht wie früher mit schlagfertiger Entrüstung heimzahlte, sondern sie entweder still duldete oder überhaupt nicht beachtete. Eine schwere Last lag auf ihrem Herzen, eine entsetzliche Angst und Verzweiflung. Die Außenwelt schien für sie jedes Interesse verloren zu haben. Sie lauschte nach einer Stimme aus dem Meere oder dem Grabe; selbst in ihrem Schlaf lauschte sie – aber die Stimme ließ sich nicht vernehmen.