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Hätte der Korporal damals, als er vor dem kleinen Dorfwirtshaus mit seiner Schar anhielt, um seinen Neffen Rohan zu erwarten, seewärts gespäht, er würde weit draußen im offenen Meer einen winzigen Punkt entdeckt haben. Dieser Punkt war ein flinkes Fischerboot mit rotem Segel und sein Insasse – Rohan.
Vor Morgengrauen hatte er sich zur Bucht geschlichen, sein Boot klargemacht, mit Segel und Ruder versehen, um, von der scharfen Morgenbrise getrieben, bald auf offener See zu schaukeln. Erst hier atmete er erleichtert auf und erst hier, auf allen Seiten von schäumenden Wellen umgeben, fühlte er sich verhältnismäßig sicher. Seit seiner letzten Unterredung mit Arfoll kam er sich wie ein gehetztes Wild vor. Er, der die goldene Freiheit über alles liebte und den Krieg verabscheute – er sollte, wenn das Schicksal ihm einen Possen spielte, seine alte Mutter verlassen, deren Stütze und Stolz er war, und das Blut von Mitmenschen vergießen, weil ein eitler Tyrann es so wollte – nie und nimmermehr!
Je mehr er über seine Lage nachdachte, desto fester wurde sein Entschluß, standhaft und seinem Schwur treu zu bleiben. Er hatte viele schlaflose Nächte verbracht, gegrübelt und gegrübelt, bis dieser Tag der Konskription heranbrach, der sein Schicksal entscheiden sollte. Mit wild flatterndem Haar, blutunterlaufenen Augen und entschlossenem Gesichtsausdruck saß er in seinem Boote und beobachtete das Erwachen des Dorfes. Wie oft hatte er dieses interessante Schauspiel schon genossen, aber noch nie in solch krankhaft aufgeregter Stimmung. Er, der sonst so waghalsige Kletterer, der die tiefsten Abgründe durchforschte, mit den Robben um die Wette schwamm, dem heftigsten Sturm trotzte, es an Kraft und Mut mit allen Kameraden aufnahm, zitterte vor Angst, wenn er an das mögliche Ergebnis des heutigen Tages dachte. Er blickte furchtsam um sich, als ob er irgend einen unheimlichen Verfolger aus den Wellen auftauchen sähe; dann wieder lachte er laut auf. Sein Auge hatte einen ängstlichen, lauernden, gespannten Ausdruck, wie ihn ein gehetztes Wild zu haben pflegt, wenn es im Walde Stimmengewirr und Füßegetrampel vernimmt. Und doch lag nichts Gewaltsames, Wildes in seinem Blick, aber etwas für ihn weit Schlimmeres – die Kraft eines unbesiegbaren Willens. Was dieser Tag auch bringen mochte, er war, wenn's schief gehen sollte, fest entschlossen, Widerstand bis zum letzten Blutstropfen zu leisten. Er fühlte, gegen welche Macht er anzukämpfen haben würde; er wußte, daß seine ganze Heimat, seine Mitbürger, seine Verwandten, vielleicht sogar seine geliebte Marcelle gegen ihn sein würden, aber sein Entschluß blieb: lieber sterben, als dem verabscheuten Ungeheuer dienen.
Wodurch kam Rohan Gwenfern, der Neffe des Exkorporals, zu diesen, in seinem Kreise so vollständig unbegreiflichen Lebensanschauungen? Erstens war er von frühester Jugend auf an Einsamkeit gewöhnt und diese hatte ihn nicht griesgrämig und menschenscheu gemacht, sondern seine angeborene Menschenliebe und Herzensgüte nur verstärkt; zweitens war ihm die ungebundene Freiheit zur zweiten Natur geworden. Er konnte nicht anders, als hilfreich und gut gegen alle schwächeren Geschöpfe sein. Er haßte das Blutvergießen in jeder Form und ersehnte täglich den Frieden: Frieden dem guten Gott im Himmel, Frieden den Menschen, Frieden dem Gevögel der Felsen und seinen Lieblingen, den possierlichen Seehunden, die ihn mit menschenähnlichen Augen anblickten. Seine riesige Körperkraft und sein Wagemut hatten noch nie zu bösen Zwecken Verwendung gefunden; selbst wenn er in jugendlichem Spiel mit den Vettern und Kameraden seine Kräfte maß, hütete er sich, brutal und grausam zu sein. Er war in der ganzen Gegend nicht nur als der hübscheste, sondern auch als der stärkste und mutigste Bursch bekannt. Und doch konnte er nicht leugnen, daß schon der bloße Gedanke an die Konskription ihn vor Schreck und Angst lähmte. Woher dieser Zwiespalt der Natur?
Die Saat, die Meister Arfoll in das Gemüt seines gelehrigen Schülers gesäet, war aufgegangen. Vorurteile, Leidenschaften und Neigungen wie Rohan Gwenfern sie fühlte, pflegen sonst nicht in der Brust gewöhnlicher Bauern zu wohnen. Hätte er Arfoll nicht kennen gelernt, er wäre, trotz seiner angeborenen Fähigkeiten, nie imstande gewesen, die Feinheiten der Liebe und des Hasses unterscheiden zu können, sein Seelenleben wäre ein viel gröberes geblieben. Kurz nach dem Tode seines ersten Gönners, des gewesenen guten Pfarrers, lernte er den Wanderlehrer kennen, der Freude an ihm hatte und gar manche Stunde in seiner Gesellschaft verbrachte, ihm die Psalmen vorlesend oder Geschichten aus der Schreckenszeit erzählend. In ein und derselben Stunde hatte er Rohan mit der geheimnisvollen Geburt Christi und mit dem gräßlichen Ende Marats bekannt gemacht. Ehe sich's der Meister versah, übertraf ihn sein Schüler noch an Haß gegen die Tyrannei und das Blutvergießen Napoleons. Je älter er wurde und je selbständiger er unter der Leitung seines Lehrers denken lernte, desto klarer wurde ihm, daß in Frankreich statt der heiligen Gottheit »Freiheit« ein blutdürstiger Tyrann herrsche.
Von Jahr zu Jahr hatte er mit eigenen Augen beobachtet, wie der rote Engel der Konskription über sein Heimatsdorf hinschritt und die Häuser mit blutigen Zeichen versah. Jahraus, jahrein hatte er mit eigenen Ohren das Wehgeschrei der Witwen und Waisen Gefallener gehört. Er hatte immer klarer den großen Eroberer als eine verabscheuenswerte Macht erkannt und immer inbrünstiger für die Märtyrer des Kaisers gebetet …
Den ganzen langen Tag verbrachte Rohan in seinem Boote auf offener See, ohne auch nur daran zu denken, Speis' und Trank zu sich zu nehmen oder sich gegen die sengenden Sonnenstrahlen zu schützen. All sein Hunger und Durst lag in seinen Augen, mit denen er gen Kromlaix starrte.
Gegen Abend erhob sich eine kräftigere Brise und trieb das Boot der Küste zu. Plötzlich sprang Rohan auf und lauschte wie ein geängstigtes wildes Tier. Seine Blicke waren auf den Hügel gerichtet, wo die Kirche stand. Sein Boot war das einzige auf der unermeßlichen Wasserfläche, und auch das Dorf schien verödet und ausgestorben. Er schüttelte seine wilde Mähne, reckte die mächtigen Glieder und horchte mit angehaltenem Atem. Kein Zweifel, die Leute kehrten aus St. Gurlott zurück und kannten bereits sein Schicksal. Sein ganzer Körper erbebte. Ja, ja, das waren menschliche Stimmen, die der Abendwind zu ihm herüberwehte und jetzt erkannte er auch ganz deutlich das Gequietsche von Alains Dudelsack.
Er blieb aufrecht in seinem Boote stehen, die Augen mit der Hand beschattend, bis er die Menge über den Hügel kommen sah. Vor dem Kirchenthor blieb sie, wie am Morgen, stehen. Der Pfarrer kam heraus, sprach seinen Segen und schien sich nach den Ergebnissen des Tages zu erkundigen. Rohan sah und fühlte das alles.
Einen Moment lang dachte er daran, sofort zu landen und den Leuten entgegenzugehen. Aber er verwarf diesen Gedanken ebenso rasch wie er gekommen war. Obgleich er sich den ganzen Tag vor Neugier fast verzehrt hatte, ob sein Name in seiner Abwesenheit überhaupt gezogen worden war und, wenn ja, wer statt seiner die Nummer aus der Urne gezogen hatte, schauderte er jetzt bei dem Gedanken, das Ergebnis zu hören. Je näher und je lauter die Stimmen zu ihm herübertönten, desto größer wurde sein Entsetzen. Statt zu landen, drehte er das Boot um, nahm die Ruder zur Hand und ruderte wieder ins offene Meer hinaus.
Stockfinstere Nacht war's, die Sterne glitzerten bereits auf dem dunkeln Himmelszelt, als Rohan, zu Tode erschöpft, endlich sein Boot wieder in die Bucht zog und in Sicherheit brachte. Vorsichtig schlich er seinem Häuschen zu. Je näher er kam, desto lauter schlugen Stimmen an sein Ohr. Er blieb stehen und horchte; als sich sein Auge an die Dunkelheit gewöhnt hatte, unterschied er ganz deutlich mehrere um die Hausthür versammelte Gestalten. Er that noch einen tiefen Atemzug, ehe er entschlossen vorwärtsschritt.
»Hier ist er endlich!« rief ihm eine Stimme entgegen, an der er Mikel Grallon erkannte.
» Vive l'Empereur! Und dreimal Hoch der Nummer Eins!« brüllte der etwas angeheiterte Gildas.
Rohan trat, von den Hochrufen der Bursche begleitet, hastig in die Küche, in der sich eine Anzahl von Männern und Frauen befanden, in deren Mitte, mit dem Rücken zum Feuer gekehrt, Onkel Ewen deklamierte.
Auf einem niedrigen Schemel vor dem Feuer saß seine Mutter, den Kopf mit der Schürze verhüllt, wehklagend und jammernd. Einige Frauen bemühten sich, sie zu trösten. Im Nu hatte Rohan diese Scene begriffen, die Würfel waren gefallen. Blaß wie der Tod, trat er an die Seite seiner Mutter. Die Leute begrüßten ihn teils mit Hochrufen, teils mit Beileidsbezeugungen. Der Korporal hielt in seinem Vortrag inne, die Mutter ließ die Schürze sinken, streckte dem Sohne ihre zitternde Hand entgegen und schluchzte bitterlich: »Rohan! Rohan, mein geliebtes Kind!«
»Was ist denn los? Was hat euch alle hierher gebracht?« fragte er stirnrunzelnd.
Alle schrieen durcheinander, so daß man kein Wort verstehen konnte.
»Ruhe!« kommandierte der Korporal streng. »Ruhe, sag' ich, denn ich will sprechen. Ich werde dir erzählen, was vorgefallen ist, mein Sohn! Zum Teufel mit den Weibern, sie schnattern ja wie die Gänse! Sie sagen deiner Mutter, daß ich schlimme Nachricht bringe, aber das ist grundfalsch. Dein Name ist gezogen worden und du sollst fortan dem Kaiser dienen – das ist alles!«
»Nein, nein; er kann und darf mich nicht verlassen! Das wäre mein Tod!« schrie die verzweifelte Witwe auf.
»Unsinn! Du wirst leben und ihn gesund und mit Ruhm bedeckt zurückkehren sehen, Mutter Gwenfern!« beruhigte sie der Korporal. »Hahaha, was wirst du für prächtigen Grenadier abgeben, mein Junge! Der Kaiser liebt solche stramme Bengels! Ehe du dich verstehst, bist du Korporal! Gildas, reiche deinem Vetter und Kriegskameraden die Hand!«
Gildas, der gerade in die Küche trat, streckte Rohan die Hand entgegen; man merkte, daß er über den Durst getrunken, wie fast alle anwesenden Männer. Ohne die ihm entgegengestreckte Hand des Vetters zu beachten, keuchte Rohan: »Ist das wahr, was Onkel Ewen eben sagte? Einer von euch, der nüchtern geblieben ist, soll es mir bestätigen.«
Der Korporal wütete. Jan Goron, der beste Freund Rohans, trat auf diesen zu, legte seine abgearbeitete Hand auf dessen Schulter und sagte freundlich: »Ja, Rohan, es ist wahr! Deine Nummer ist gezogen worden. Mich und meine Mutter hat der gütige Gott beschützt.«
Mutter Gwenfern stöhnte schmerzlich auf. Männer und Weiber suchten sie und Rohan zu trösten. Dieser stand wie vor den Kopf geschlagen da, jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen. Er war keines Gedankens mächtig. Erst als die jungen Bursche sich um ihn scharten, ihn mit guten und schlechten Witzen zu trösten suchten, riß er sich aus seiner Erstarrung empor und schrie: »Das kann ja nicht sein! Ihr erlaubt euch einen Scherz mit mir! Wie kann mein Name gezogen worden sein, da ich gar nicht dort war?!«
Der Korporal, der wie die übrigen etwas verdutzt dreinblickte, faßte sich zuerst und entgegnete spöttisch: »Gemach, gemach, der Kaiser läßt sich kein Schnippchen schlagen. Schmach genug, daß du dich in einen Winkel verkrochen, statt wie ein Mann deiner Pflicht nachzukommen! Danke der Vorsehung, daß du einen so braven Oheim hast, der deine Abwesenheit entschuldigte und statt deiner zog. Alles ist in schönster Ordnung. Es lebe der Kaiser!«
» Du hast statt meiner gezogen!« rief Rohan, am ganzen Körper zitternd.
»Du bist nicht erschienen und ich wollte für dich ziehen, aber meine kleine Marcelle beschwor mich, sie ziehen zu lassen, da du sie darum gebeten. Corbleu! Wie die Herren lachten, als sie zur Urne trat und ihr Händchen ängstlich hineinversenkte. Mut! rief ihr der Herr Bürgermeister zu und sie übergab mir den Zettel« – – –
»Marcelle!« keuchte Rohan.
»Jawohl, sie ist eine tapfere Kleine und brachte dem Kaiser und auch dir Glück! Du solltest stolz darauf sein, denn du bist der König der Konskribierten. Die kleine Hand, die statt deiner den Zettel zog, hat die Nummer Eins herausgefischt.«
»Rohan Gwenfern – Nummer Eins!« brüllte Gildas, Stimme und Haltung des Sergeanten nachahmend. Alles lachte. Jannick entlockte dem Dudelsack ein komisches Gequietsche und die jungen Leute drängten zur Thüre, um sich ins Wirtshaus zu begeben, wo sie den denkwürdigen Tag würdig beschließen wollten. Sie forderten Rohan auf, sich ihnen anzuschließen, am zudringlichsten der schon angeheiterte Gildas.
Plötzlich ertönte von draußen her Stimmengewirr und Füßegetrappel, die Thüre ging auf und eine Schar junger Mädchen trat, die Nationalhymne singend, ein. An ihrer Spitze Marcelle.
Auf jeder ihrer Wangen brannte ein hektischer Fleck, ihre Augen glühten wie im Fieber. Als sie Rohan erblickte, blieb sie mitten in der Küche wie angewurzelt stehen und sah ihn forschend an. Er hatte, seit er Marcelles Namen hervorgestoßen, noch kein Wort gesprochen und nur zu Boden gestarrt. Beim Eintritt Marcelles hob er den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich eine einzige Sekunde, um sich dann wieder verlegen zu senken.
Das arme Mädchen hatte heute schon einen harten Kampf mit sich gekämpft. Nachdem die von ihr gezogene Nummer verlesen worden war, glaubte sie vor Angst und Kummer sterben zu müssen. Sie hatte die ganze Zeit inbrünstig zu Gott gebetet, er möge sie eine hohe Nummer ziehen lassen, und siehe da – sie hatte die niedrigste gezogen! Einen Augenblick wollte sie an der Barmherzigkeit und Güte Gottes verzweifeln, aber dann ward sie ruhiger, die Bewunderung für den Kaiser drängte sich an die Oberfläche, die Begeisterung ihres Oheims riß sie mit fort; sie vergaß, sich Selbstvorwürfe zu machen und beschloß, tapfer zu sein, was auch kommen sollte. Nur wenige der ihr bekannten Konskribierten ließen sich ihr Unglück merken und sie dachte gar nicht an einen Widerstand Rohans. Freilich hatte er ihr in den letzten Tagen wiederholt seine Abneigung gegen das Kriegshandwerk und die Konskription erklärt, aber das hatten fast alle anderen Bursche von Kromlaix ebenfalls gethan und doch waren sie dem Rufe zur Urne mit mehr oder minder guter Miene gefolgt.
»Sieh' mal, Rohan, was ich dir mitgebracht habe,« sagte sie endlich, eine Kokarde mit langen Schleifen in die Höhe haltend.
Alle Konskribierten trugen eine solche Kokarde an die Brust geheftet, sogar der Exkorporal hatte sich sie in seiner Begeisterung für die gute Sache anheften lassen. Laute Hochrufe für Marcelle ertönten.
»Hinweg! Rühr' mich nicht an!« schrie Rohan außer sich.
»Der Junge ist übergeschnappt!« brüllte der Korporal.
»Rohan, begreifst du denn nicht?« jammerte Marcelle, durch den wilden Blick ihres Verlobten eingeschüchtert. »Ich zog, wie du mich geheißen, statt deiner. Gott, zu dem ich in meiner Angst um Hilfe gefleht, hat meine Hand geleitet, und jetzt wirst du, wie Gildas und alle anderen jungen Leute, dem guten Kaiser dienen. Du bist doch nicht böse, Vetter, daß dem so ist? Ich habe auf deinen Wunsch für dich gezogen – es ist mir sauer genug geworden, das kannst du mir glauben und jetzt bist du der König der Konskribierten und dies ist deine Kokarde. Laß mich dir sie anstecken,« bat sie, ihrer Schürzentasche Nadel und Zwirn entnehmend. Er rührte sich nicht, nur um seine Lippe zuckte es verräterisch und seine Augen sprühten Blitze. Ehe er sich's versah, hatte Marcelle die Kokarde an seine Jacke geheftet.
Hochrufe erfüllten die Küche. »So ist's recht!« brummte der Korporal. »Und jetzt vorwärts, Jungens, wir wollen auf sein Wohl trinken!«
Wieder drängten alle zur Thüre; plötzlich erwachte Rohan aus seiner Erstarrung, reckte sich zu seiner vollen Höhe auf und schrie mit Donnerstimme: »Halt!«
Alle blieben stehen; Mutter Gwenfern schlich sich zu ihrem Sohne hin und faßte seine Hand.
»Ihr seid alle toll und ich bin auf dem Wege, es ebenfalls zu werden. Was schwatzt ihr da von der Konskription und dem guten Kaiser? Ich verstehe euch nicht. Ich weiß nur, daß ihr verrückt seid und daß mein Onkel der Verrückteste von allen ist. Ihr sagt, mein Name sei gezogen und ich müsse einrücken, um mich töten zu lassen oder um andere zu töten? Und ich sage euch, daß nur Gott im Himmel allein meinen Namen ziehen kann und ich keinen Fuß rühren werde – nie, nie! Die Hölle verschlinge euren Kaiser und seine Konskription! Ich überantworte ihn der Hölle wie ich dieses Abzeichen, das ihr mir gegeben, den Flammen überantworte!«
In wütendem Zorn riß er die Kokarde von der Brust und warf sie ins Feuer, wo sie hellauflodernd sofort zu Asche verbrannte. Ein Murren ging durch die Küche, Mutter Gwenfern schluchzte laut auf.
»Still, Mutter!« gebot Rohan und wandte sich dann wieder zu den Konskribierten und dem Korporal: »Euer Kaiser kann mich töten, aber er kann mich nicht zwingen, ein Soldat zu sein! Vor Gott bestreite ich ihm das Recht, mich unter die Waffen zu rufen, denn er ist ein Teufel. Wenn jeder Mann Frankreichs mein Herz besäße, würde er auch nicht einen Tag mehr regieren, denn er hätte keine Armeen, keine Schafe, die er zur Schlachtbank führen könnte! Geht zu eurem Kaiser und thuet seine Blutarbeit – ich bleibe zu Hause.«
Während er sprach, wandte er sein Auge nicht von Marcelle ab. Jetzt näherte sie sich ihm schluchzend: »Um des Himmels willen, sei still, Rohan! Deine Worte sind ja frevelhaft!«
Er antwortete ihr nicht und vermied ihren Blick. Gildas Derval stieß einen derben Fluch aus und rief: »Mir scheint, als ob es für meinen Vetter Rohan nur ein bezeichnendes Wort gäbe – er ist ein Feigling!«
Rohan zuckte zusammen, doch beherrschte er sich sofort und blickte seinem Beleidiger ruhig ins Auge. Mittlerweile hatte sich auch der wie vom Schlage gerührte Korporal von seinem Erstaunen und seiner Entrüstung soweit erholt, daß er wieder sprechen konnte.
»Aufgepaßt!« schrie er, rot vor Zorn. »Gildas hat recht, Rohan Gwenfern ist ein Feigling, ja, er ist noch mehr – ein Chouan und ein Gotteslästerer! Ihr anderen Jungens geht für euer Vaterland ins Feuer, Rohan jedoch ist ein lâche, ein Chouan, ein Gotteslästerer! Mutter Gwenfern, dein Sohn sei fortan verflucht! Marcelle, dein Vetter ist ein feiger Hund! Ein Hochverräter, der den heiligen Namen unseres Vaters, des Kaisers verflucht hat! Gottes Strafe treffe ihn!«
Es war eine äußerst aufregende Scene. Rohan stand hochaufgerichtet da und maß seinen Onkel und seine Gegner mit verächtlichem Blick; die Hand seiner Mutter hielt er noch immer umklammert. Die arme Frau konnte es nicht ertragen, ihren Sohn so schmähen zu hören; unter Thränen rief sie: »Pfui, Ewen Derval, es ist schlecht von Ihnen, so von meinem Sohn zu sprechen; Sie wissen ganz gut, daß er kein Feigling ist!«
»Still, still, Mutter!«
»Aufgepaßt!« nahm nun wieder der Korporal das Wort. »Wir wollen seiner Mutter zuliebe barmherzig sein – vielleicht ist der Junge nur krank oder verhext. Wir wollen ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen. Mag er morgen zu uns kommen, um den guten Kaiser um Verzeihung zu bitten und euch zu ersuchen, ihm zu erlauben, euch in den Krieg zu begleiten. Thut er es nicht, so wollen wir ihn holen. Er darf nicht ohne Grund Schande über uns bringen! Er hält sich für sehr stark, aber was ist eines Menschen Stärke gegen die unserige, gegen die des Kaisers? Ich sage dir, wir werden dich, wenn es nötig ist, wie einen Fuchs in die Enge treiben, wie einen Hund und ich, dein Onkel, werde mich an die Spitze der Treibjagd stellen. Ja, Mutter Luise, so wird es geschehen … Ich sage euch, Bursche, mit oder ohne seinen Willen wird er mit euch ziehen. Wenn er unwillig geht, möge ihn die erste Kugel beim ersten Treffen wie einen feigen Hund niederstrecken!«
Totenstille herrschte in dem Gemach. Ein geisterhaftes Lächeln zuckte um Rohans energische Lippen, wilde Entschlossenheit leuchtete aus seinen Augen. Worte waren jetzt vergeblich; aller Blicke richteten sich auf den Empörer. Marcelle trat tapfer zwischen ihn und ihren Onkel: »Du urteilst zu streng, Onkel Ewen, denn du verstehst Rohan nicht. Er ist erregt und weiß in seiner Leidenschaft nicht, was er spricht. Er ist kein Feigling, sondern ein tapferer Mann, ja, der tapferste von euch allen!«
»Hüte deine Schnauze, Mädchen!« herrschte der Korporal sie an.
»Ich kann nicht schweigen, Onkel, denn ich habe das Unglück über meinen Vetter und seine Mutter gebracht. Rohan, kannst du mir verzeihen? Ich flehte zu Gott, daß er dich befreie, aber es ist sein und aller Heiligen Wille, daß du in den Krieg ziehst. Mögest du gesund und heil heimkehren!«
Rohan blickte traurig in das thränenüberströmte Antlitz Marcelles; er war bis ins Innerste erschüttert, ergriff ihre Hand und drückte vor allen Anwesenden seine heißen Lippen in einem langen Kuß darauf.
»Es ist doch jammerschade,« ließ sich plötzlich der nicht sehr beliebte Mikel Grallon vernehmen, »daß ein so hübsches und kluges Mädchen wie Marcelle Derval ihre Liebe an einen Feigling verschwendet, wenn – –«
Weiter kam er nicht, denn Rohan streckte ihn mit einem wuchtigen Schlag zu Boden. Die Weiber schrieen entsetzt auf, die Männer fluchten, Marcelle trat erschrocken zurück, während Rohan sich durch die Menge einen Weg zur Thüre bahnte: »Haltet ihn fest! Tötet ihn!« schrieen einige Männer.
»Nehmt ihn gefangen!« brüllte der Korporal.
Aber Rohan schleuderte die auf ihn Eindringenden wie Federbälle nach rechts und links; sie fielen zu Boden und rangen nach Atem. Gildas und Hoël, die Riesenzwillingsbrüder, stürzten sich wutschnaubend auf ihn. Einen Augenblick zögerte Rohan, denn es fiel ihm ein, daß es seine Vettern und Marcelles Brüder waren, dann huschte ein überlegenes Lächeln über sein ernstes Gesicht und er führte einen in der Bretagne bekannten geschickten Trick aus. Ehe eine Sekunde verstrichen war, hatte er beide Brüder zu Falle gebracht, dann nickte er Marcelle nochmals zu und verschwand unbelästigt im Dunkel der Nacht.
Er lenkte seine Schritte direkt ins Pfarrhaus. Vater Rolland saß in seinem einfach eingerichteten Studierzimmer und las gerade eine sehr gepfefferte Geschichte der Kirche vor der Revolution, als seine Wirtschafterin einen jungen Mann anmeldete, in dem er sofort Rohan Gwenfern erkannte.
Kaum hatte sich die Thüre hinter der Wirtschafterin geschlossen, als Rohan, blaß bis an die Lippen, sich dem Pfarrer näherte und mit leiser Stimme sagte: »Vater Rolland, ich bin gekommen, um in meiner Not bei Ihnen Hilfe zu finden.«
»Nimm Platz, mein Sohn.«
Rohan schüttelte seine Mähne und blieb, verlegen die Mütze drehend, vor dem Pfarrer stehen.
»Sie dürften wohl schon wissen, daß ich gezogen worden bin. Da ich nicht persönlich anwesend war, könnte ich vielleicht dagegen protestieren, aber es bliebe sich ja gleich, denn ich weiß, daß es für mich keine Rettung giebt. Der Kaiser braucht starke Soldaten und ich bin stark. Ich will aber nicht in den Krieg ziehen und bin fest entschlossen, lieber zu sterben als einzurücken. Sie sind erstaunt, Vater Rolland? Sie scheinen mich nicht recht zu verstehen. Nun denn, ich will mich deutlich ausdrücken – ich mag kein Soldat sein, denn ich mag kein Blut vergießen, das ist mein unwandelbarer Entschluß.«
Der Pfarrer blickte überrascht auf; gar manche verzweifelte Mutter und ihr Sohn hatten ihn in ähnlichen Fällen aufgesucht, um sich seinen Rat zu erbitten. Mit thränenden Augen waren sie bei ihm eingetreten, mit thränenden Augen, aber resigniert, hatten sie ihn verlassen. Rohan, obgleich sichtlich erregt, vergoß keine Thräne, sondern stand stolz da und hielt, ohne zu zucken, den Blicken des Pfarrers stand. Aus seinen erbitterten Worten klang Selbstbewußtsein und ein unbeugsamer Wille.
»Du bist also gezogen? Das thut mir aufrichtig leid, mein Junge, aber es wird nichts helfen – du wirst nachgeben müssen,« mahnte der Pfarrer.
»Giebt es keine Ausnahme? Ich bin der einzige Sohn und Ernährer einer armen Witwe!«
»Sogar die Lahmen und Krüppel werden diesmal einberufen. Es ist hart, aber der Kaiser braucht dringend Soldaten.«
Rohan starrte den Priester zu dessen größtem Unbehagen eine Weile wortlos an. Endlich sagte er: »Der Kaiser will mich nicht verschonen, meine Landsleute wollen mir nicht helfen und so komme ich denn zu Ihnen, meinem Seelsorger. Sie sind ein heiliger Mann, der Absolution erteilt, die Seelen der Sterbenden auf den Himmel vorbereitet und Gott auf Erden vertritt. Ich appelliere an Ihren Gott gegen unsern Kaiser. Ich behaupte vor Gott und vor Ihnen, daß der Kaiser ein Teufel und Frankreich ein Fleischscharren ist. Ich will Gottes Gebot befolgen und nicht morden, kann daher dem Kaiser nicht gehorchen. Ich widerstehe der Versuchung, in die mich der Teufel führt. Ihr Gott ist ein Gott des Friedens; Christus starb lieber, als daß er die Hand gegen seine Feinde erhob. Sie behaupten, Gott lebe und Christus regiere; nun denn – mögen beide mir jetzt in meiner Not helfen.«
Vater Rolland befand sich in nicht geringer Verlegenheit. Er selbst war durchaus kein Kaiserverehrer, aber Rohans offener Widerstand schien ihm unter den gegebenen Umständen entsetzlich. Nach kurzer Überlegung antwortete er gutmütig, aber bestimmt: »Mein Sohn, du solltest Gottes Hilfe auf deinen Knieen erflehen. Dem Demütigen, dem wirklich Gläubigen gewährt Er viel – vielleicht alles. Nicht in Zorn und Trotz soll man sich an den Heiland wenden.«
»Das habe ich schon oft gehört: noch öfter habe ich demütig mein Knie vor dem Herrn gebeugt, aber heute bringe ich es nicht über mich … Sie, Vater Rolland, sind ein guter Mensch und haben ein Herz für die Armen. Sagen Sie mir, ob es in Ordnung ist, daß diese vielen Kriege stattfinden? Ist es billig, eine halbe Million Menschen ums Leben zu bringen, wie es in Rußland geschah? Halten Sie es für recht, daß der Kaiser jetzt abermals Viermalhunderttausend Menschen einberufen läßt? Und dann: sind die Menschen nicht Brüder? Dürfen Brüder einander morden und martern, sich blutvergießend gegenübertreten? Wenn all dies in Ordnung ist, wenn Brüder dies dürfen, dann ist Christus im Unrecht und für Gott kein Raum mehr auf dieser Welt!«
»Lästere nicht, Rohan!« rief der Pfarrer entsetzt. »Du verstehst nichts von diesen Dingen. In der Hauptsache bist du ja im Recht, aber es hat immer Kriege gegeben. Die Menschen sind leider streitsüchtig und dasselbe gilt von den Völkern. Wenn dich jemand schlüge, mein Sohn, würdest du nicht zurückschlagen? Damit würdest du nur dein Recht verteidigen, und auch eine Nation hat Rechte.«
»So hat Christus nicht gesprochen. Er sagte vielmehr, man müsse, wenn man auf die eine Wange geschlagen wird, die andere hinhalten – nicht wahr?«
Der Pfarrer war verwirrt und hustete verlegen; dann erwiderte er: »Das ist der Buchstabe, mein Sohn, wir müssen aber auf den Geist sehen. Wir sind jetzt unter vier Augen und ich will dir offen bekennen, daß auch ich den Kaiser nicht liebe; er hat sich schlecht gegen den Heiligen Vater benommen und ist ein eitler Tyrann; aber er ist nun einmal Frankreichs Kaiser und wir müssen ihm gehorchen, die Kirche sowohl wie die einzelnen Bürger. Auch heißt es: ›Gebt Cäsar, was Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist.‹ Deine Seele gehört Gott, dein vergänglicher Leib dem Kaiser.«
Rohan antwortete nicht sogleich, sondern durchmaß, in tiefe Gedanken versunken, erst einigemal das kleine Gemach. Um ihn zu beruhigen, schlug Vater Rolland vor: »Komm, mein Sohn, wir wollen beten.«
Rohan fuhr zusammen.
»Zu wem?« fragte er mit hohler Stimme.
»Zum Vater im Himmel.«
»Dem meine Seele gehört?«
»Jawohl! Gesegnet sei sein Name!« gab der Pfarrer feierlich zurück und schritt auf den kleinen Hausaltar zu.
»Aber nicht mein Körper, der Asche ist?« fuhr Rohan fort.
»Ganz recht, dein Körper nicht, der Asche ist.«
Der Priester kniete nieder und schlug das Kreuz. Da legte Rohan seine kräftige Hand auf die Schulter des Geistlichen und sagte mit rauher Stimme: »Heute kann ich nicht beten, Vater Rolland! Ich habe genug gehört und weiß, daß Sie mir nicht helfen können.«
»Komm und bete mein Sohn, es wird dein aufgeregtes Hirn beruhigen.«
»Ich kann nicht! Zürnen Sie mir nicht, Vater Rolland! Sie sind ein guter Mensch, aber Ihr Gott ist nicht für diese Welt, ich aber liebe diese Welt!«
»Das ist sündhaft!«
»Ich liebe mein Leben, meine Mutter, meine Braut und den Frieden. Sie nennen meinen Leib vergänglich, mir aber kommt er wertvoll vor und da auch jeder andere Mensch sein Leben hochhält, habe ich geschworen, unter keinen Umständen und auf niemandes Befehl zu morden. Ich werde mich selbst verteidigen, das dürfte vor Gott kein Unrecht sein. Gute Nacht, Vater Rolland!«
Der Geistliche, der wirklich niemand leiden sehen konnte, empfand tiefes Mitleid mit Rohan und wollte ihn zurückhalten: »Bleib', mein armer, armer Junge; ich will versuchen, dir zu helfen, wenn ich kann!«
»Sie können es nicht, und auch Ihr Gott kann es nicht! Dieser ist längst gestorben und wird niemals wiederkehren. Nicht er, sondern Kaiser Napoleon beherrscht heute die Welt!« Ehe der Pfarrer antworten konnte, war Rohan fortgestürzt. Der kleine Curé sank in seinen Stuhl zurück und wischte sich den Angstschweiß von der Stirne.