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Mutter Gwenferns Hütte lag, wie wir bereits wissen, abseits vom Dorfe, nahe am Strande, aber von der Buchtung einer Klippe geschützt; ebenso einige andere Fischerhäuschen, die vorläufig von der Überschwemmung verschont blieben. Die einzige Gefahr drohte ihnen von der Hochflut, die fast bis zu ihrer Thürschwelle gestiegen war. Hinter Mutter Gwenferns Hütte führte ein schmaler Steg auf eine felsige Anhöhe. Hier stand die Witwe, von einigen Nachbarn, hauptsächlich jammernden Frauen und weinenden Kindern, umringt und blickte entsetzt auf das überschwemmte Dorf hinab, das bereits einem großen See glich.
Die Leute sprachen angesichts der unabsehbaren Gefahr nur wenig, die Flut stürzte sich wie ein hungriger Tiger erbarmungslos auf ihr Opfer, um es zu vernichten. Die Frauen beteten laut und bekreuzigten sich in einem fort; von Zeit zu Zeit drang von der etwas höher stehenden Männergruppe ein Schreckensruf zu ihnen, wenn die rauschenden Wässer wieder ein Haus mit sich rissen.
»Heilige Mutter Gottes! Jetzt ist das Haus des alten Plouët eingestürzt!«
»Seht, seht, vorhin drang ein Licht aus der kleinen Bude, jetzt ist's stockfinster.«
»Sie schreien dort unten um Hilfe! Gott helfe den armen Leuten!«
»Nun ist wieder ein Dach eingestürzt!«
»Herr des Himmels, erbarme dich unser! Der Tag des Gerichts scheint über uns hereingebrochen zu sein!«
Die im Rücken des Dorfes sich erhebenden Anhöhen wimmelten von dunkeln Gestalten, viele von ihnen trugen Lichter. Dank den abergläubischen Gebräuchen dieser den Verstorbenen geweihten Nacht, war es den meisten Dorfbewohnern gelungen, wenigstens das nackte Leben zu retten. Viele freilich schienen dem Tode verfallen, denn an eine Rettung aus dem Dorfe war, ehe die Flut sich verlief, absolut nicht zu denken.
»Die Flut steigt noch immer,« bemerkte Mikel Grallon, der in der Männergruppe stand. Er war ziemlich gefaßt, denn sein stattliches Haus erhob sich auf einer kleinen Anhöhe, die der Macht des Wassers wohl standhalten würde.
»Sie wird noch mindestens eine Stunde steigen,« gab ein anderer Fischer zurück.
Während die Männer im Flüstertone ihre Meinungen austauschten, stieg von der Höhe eine Gestalt eilig herab, näherte sich der Gruppe und forschte nach Mikel Grallon, denn es war in der herrschenden Finsternis unmöglich, ein Gesicht deutlich zu erkennen.
»Wer frägt nach Mikel Grallon? Hier bin ich!«
»Ich, Gildas Derval! Ach, Mikel, wir sind in Verzweiflung! Die ganze Familie ist dort drüben auf dem Berge gerettet, nur meine Schwester Marcelle nicht! Sie ist unten im Hause, die heilige Mutter Gottes beschütze sie! Onkel Ewen ist ganz fassungslos und wir anderen verzweifelt. Könnte man sie nicht retten?«
»Das Mädchen ist in Gottes Hand, kein Mensch kann ihr helfen!« rief ein alter Fischer.
Gildas stöhnte schmerzlich, denn er liebte Marcelle aufrichtig. Mutter Gwenfern, die das Gespräch gehört hatte, näherte sich der Gruppe und fragte in ihrer barschen, strengen Weise: »Kann nichts zu ihrer Rettung gethan werden? Sind keine Boote da? Kein beherzter Mann?«
»Boote! Man könnte ebenso versuchen, sich in einer Nußschale aufs stürmische Meer zu wagen, wie heute Nacht in einem Boot durch die reißende Flut zu dringen! Und dann haben wir auch keine Boote, sie sind alle dort unten, wo die Bergwasser sich mit der Hochflut mischen,« erklärte Mikel.
»Mein Gott, daß ich vom Schlachtfelde zurückkommen mußte, um eine solche Nacht zu erleben! Ich war immer ein Pechvogel und werde es bis an mein Lebensende bleiben. Meine arme, arme Schwester! Als ich in den Krieg zog, schlang sie mir diese geweihte Münze um den Hals und sie hat mich vor dem Tode bewahrt. Ah, sie ist ein gutes, liebes Geschöpf und muß jetzt so furchtbar zu Grunde gehen! Ist niemand da, der sich ihrer Not annehmen will?!«
»Marcelle Derval ist nicht die einzige, die der heutigen Nacht zum Opfer fallen wird! Gott sei gepriesen, daß ich weder Weib noch Kinder mehr habe, die eines so gräßlichen Todes sterben werden!« bemerkte ein alter Fischer.
Mutter Gwenfern sank auf die Kniee, erhob ihre Arme flehend zum Himmel empor und betete laut für Marcelle.
»Wer sagt, daß es keine Boote giebt?« ertönte eine Stimme aus dem Dunkeln.
»Ich!« entgegnete Mikel. »Aber wer spricht da?«
Es erfolgte keine Antwort; eine dunkle Gestalt bahnte sich jedoch einen Weg durch die Menge und lenkte die Schritte eilig zum Strande.
»Heilige Mutter Gottes, das ist ja Rohan Gwenfern!« flüsterte Grallon.
Sofort riefen einige Stimmen laut: »Bist du's, Rohan Gwenfern?« und Rohan antwortete: »Ja! Wer Mut hat, folge mir!«
In dem großen Schrecken und der Feierlichkeit des Augenblicks schien niemand über das plötzliche Erscheinen des Geächteten erstaunt und niemand außer Grallon dachte auch nur einen Augenblick daran, Hand an ihn zu legen. Die Erscheinung des verfolgten und verzweifelten Deserteurs schien mit all den Schrecken der heutigen Nacht im Einklang zu stehen. Stillschweigend folgten ihm einige der beherzteren Männer an den Strand. Die Flut war bis zur Schwelle seines Häuschens gestiegen. Er blickte eine Weile sinnend aufs Wasser, ehe er fragte: »Wo sind alle Flöße?«
»Flöße! Welches Floß könnte der Macht eines solchen Wassers widerstehen?« rief Gildas.
In diesem Moment stieß Rohans Fuß an eine feste schwarze Masse, die im Wasser schaukelte. Er bückte sich und entdeckte, mehr durch Tasten als durch den Augenschein, eines jener kleinen, rohgezimmerten Flöße, die man zum Einheimsen des Tanges benutzt. Ein solches Fahrzeug ließ sich bei ruhigem Meer ganz ohne Gefahr für den Ruderer verwenden; aber sich damit in die überschwemmte Dorfstraße zu wagen, dünkte den Fischern Wahnsinn. Während Rohan das Floß untersuchte, brach der Mond aus einer dichten Wolke hervor und beleuchtete das unter Wasser stehende Dorf. Es war ein furchtbarer Anblick; die schwarze, schäumende, brausende Flut raste durch die Straßen, die Häuser standen fast alle bis zum Dach unter Wasser, Baumstämme, Dächer, Möbelstücke, ersoffenes Geflügel schwammen an der Oberfläche und strebten dem offenen Meere zu. Wieder hörte man das Krachen eines einstürzenden Hauses.
»Schafft mir schnell eine Stange oder ein Ruder herbei!« rief Rohan, sich an die Umstehenden wendend. Einige Männer liefen davon, um das Verlangte herbeizuschaffen, obgleich sie nicht begreifen konnten, was Rohan wollte.
»Mein Sohn! Mein Sohn, was hast du vor?« fragte Mutter Gwenfern, seine Hand ergreifend.
»Marcelle Derval vor dem Ertrinken zu erretten!«
»Du selbst wirst deinen Tod dabei finden!« rief die besorgte Mutter, die im Augenblick vergessen hatte, daß ihr Sohn nichts zu verlieren habe und der Guillotine geweiht sei. Er lachte bitter auf, nahm Gildas ein Ruder aus der Hand und sprang auf das Floß, das unter seinem Gewicht fast unter Wasser sank.
»Komm' zurück! Laß ab von dem tollen Vorhaben!« flehte die Mutter, aber Rohan glitt vom Strande ab und ruderte mit voller Kraft weiter. Die Männer blickten sich schaudernd gegenseitig an und die Frauen flehten Gottes Segen auf das Rettungswerk herab.
»Für ihn ist's gleich, ob er so oder so stirbt!« murmelte Mikel Grallon.
Nun wäre es an der Zeit, zu berichten, wie Rohan dazu kam, sich wieder unter seine Mitmenschen zu wagen. Aus dem hochangeschwollenen unterirdischen Wassergewölbe in die Flucht gejagt, in sein neues luftiges Versteck zurückgekehrt, das Hirn voll verwirrender Gedanken, die sich nicht klären wollten, lehnte er den Kopf zu dem Spalt, der ihm als Fenster diente, hinaus. Es regnete in Strömen, die Dunkelheit war hereingebrochen, ein seltsames Sehnen nach Menschen erfaßte ihn. Die Eindrücke der letzten Tage und Stunden überwältigten ihn fast. Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß das riesige unterirdische Gewölbe mit seinen Verbindungsgängen ein von den römischen Kolonisten angelegter ungeheurer Aquädukt sein müsse und zweifellos dem Zwecke gedient hatte, von der, Überschwemmungen leicht ausgesetzten Ansiedlung das überfließende Wasser abzulenken und dem Meere zuzuführen. Rohan erging sich stundenlang in Gedanken über die ans Märchenhafte grenzende Kunst der römischen Ingenieure. Er grübelte auch darüber nach, ob der Fluß, den er da unten im Herzen der Klippen entdeckt, derselbe sei, der der Sage nach unter Kromlaix dahinrauschte und sich in die Sümpfe von Ker Léon ergoß. Durch eine merkwürdige Ideenassociation wurde seine Aufmerksamkeit auf den Allerseelentag gelenkt. Er blickte träumerisch hinaus und sah, daß aus allen Fenstern des Dorfes Lichter strahlten, um den Seelen der Gestorbenen den Weg zu zeigen. Seine Sehnsucht nach Menschen wuchs bis zur Unerträglichkeit. Unruhig durchkreuzte er seine Höhle, es wurde immer dunkler, der Regen immer heftiger und das Brausen des Meeres ohrbetäubender; von Zeit zu Zeit erschreckte ihn ein donnerähnliches Rollen, das von dem unterirdischen Gewölbe bis zu ihm hinaufdrang.
Endlich vermochte er den unwiderstehlichen Impuls, der ihn, den Geächteten, zu den Menschen trieb, nicht länger zu unterdrücken, und kroch unter großen Gefahren, durch den »Trou« in der St. Gildas Kathedrale, hinab, in welche die Flut eben einzudringen begann, von da über die Triffinesleiter zu seinem alten Freund, dem Menhir. Gegen Mitternacht stand er im Schatten desselben und blickte durch die Dunkelheit träumerisch in die Richtung gen Kromlaix. Die Totenstille wurde jäh durch das Läuten der Sturmglocke unterbrochen und gleichzeitig drangen entfernte Hilferufe an Rohans Ohr. Im ersten Moment glaubte er, daß all diese Töne von den umherirrenden Seelen der Verstorbenen herrührten und daß Geisterhände die Kirchenglocken in Bewegung setzten, aber die Sturmglocken läuteten immer mahnender und die Hilferufe wurden immer deutlicher. Es mußte ein furchtbares Unglück im Dorfe geschehen sein! Jetzt hörte er auch vom Festlande her das Rauschen der sich von den Bergen herabwälzenden Flut, das Krachen der einstürzenden Häuser und nun wußte er, daß das Dorf in Überschwemmungsgefahr sei. Ohne sich weiter zu besinnen, stürzte er den Bergpfad hinunter zur Hütte seiner Mutter – wo er Zeuge des Gespräches seines Vetters Gildas mit Mikel Grallon wurde – und rasch entschlossen an die Rettung Marcelles schritt. Was lag ihm an seinem eigenen, verpfuschten Leben! Die Geliebte aber sollte, wenn Menschenkräfte sie zu retten vermochten, keines so elenden Todes sterben. Als er sich mit dem schwanken Floß dem überschwemmten Dorfe näherte, begann seine Lage eine äußerst kritische zu werden, denn er wußte, daß das gebrechliche Fahrzeug dem rasenden Ansturm der Fluten nicht lange würde standhalten können. Mit übermenschlicher Kraft und Waghalsigkeit lavierte er es durch allerlei Trümmer, die das braune sprudelnde Wasser mit sich führte, jeden Augenblick in Gefahr, in eine Kollision zu geraten. Da der Mond jetzt hell leuchtete, konnte Rohan deutlich den Umfang des über Kromlaix hereingebrochenen Unglücks sehen und sich auch seinen Weg bis zum Dervalschen Häuschen bahnen. Die Hauptstraße des Dorfes war in ein schmutziges, gurgelndes Meer verwandelt, die meisten Häuser standen fast bis zum Giebel unter Wasser, viele waren bereits unterwaschen und eingestürzt, von anderen die Dächer abgerissen, und dabei stiegen die Fluten noch immer. Dagegen hatte der wolkenbruchartige Regen zum Glück nachgelassen.
Wie viele Menschenleben der Überschwemmung bereits zum Opfer gefallen waren, konnte man nicht wissen, aber während Rohan mit Anspannung aller seiner Kräfte das Floß in die gewünschte Richtung zwang, bemerkte er zu seinem Entsetzen unter den schwimmenden Trümmern viele nackte Leichname von Erwachsenen und Kindern, die von der hereinbrechenden Flut in ihren Betten überrascht worden und dem Tode verfallen waren, ehe sie recht begriffen, was geschehen. Je weiter Rohan vordrang, desto wilder war die Strömung, so daß es schließlich unmöglich wurde, das Fahrzeug zu lenken. Die ihm wild entgegenstürzenden Wasser warfen es zurück und drohten, es ins offene Meer zu treiben. Endlich rissen auch die die einzelnen Balken des Floßes zusammenhaltenden Stricke und Rohan fand sich mitten in der wirbelnden Flut. Er war zwar ein Meisterschwimmer, aber seine Kräfte waren infolge der langen Entbehrungen, der seelischen und physischen Aufregungen arg geschwächt. Er klammerte sich mit einer Hand an das Ruder, mit der anderen erfaßte er ein winziges Boot, das wie eine Nußschale auf den Fluten schaukelte und in das er sich mit Anspannung aller seiner Kräfte schwang. Zu seiner namenlosen Freude entdeckte er auf dem Boden zwei Ruder und einen großen Blechtopf. Leider hatte es ein arges Leck, so daß die Schwere Rohans es fast zum Sinken brachte. Jede Minute war kostbar. Rohan zögerte nicht lange und schöpfte es mit dem Topfe aus, dann ergriff er die Ruder und steuerte tapfer auf sein Ziel los, ohne der Gefahren zu achten, die ihn von allen Seiten umringten.
Er zwang das Boot in die Richtung der Dorfstraße, wurde aber von einem Wirbel erfaßt, der es ebenso rasch wieder zurücktrieb. So ging es eine Weile fort und Rohans Unternehmen schien aussichtslos zu sein, denn gegen den reißenden Strom zu rudern, ging selbst über seine Geschicklichkeit. Jeder andere hätte längst den Versuch aufgegeben und sein eigenes Leben zu retten versucht; er aber blieb standhaft – vielleicht weil ihm an seinem Leben nichts lag, oder weil sein Mut und seine Waghalsigkeit durch Widerstand gereizt wurde, oder weil er beweisen wollte, wie ein »Feigling« handelt, wenn tapfere Männer zittern und ihre Haut nicht zu Markte tragen wollen. Er lavierte sein kleines Boot dicht an die rechte Häuserreihe, warf die Ruder auf die Bank und klammerte sich an den festen Mauervorsprung eines Hauses, das Boot, dessen langes Seil er um den Arm geschlungen hatte, nach sich ziehend. So legte er, von Mauer zu Mauer kletternd, seinen Weg bis in die Mitte der Hauptstraße zurück. Je weiter er vordrang, desto grauenhafter wurde das Bild. Die Hütten waren fast alle eingestürzt, nur die größeren festeren Gebäude standen noch auf ihrem Platze, auf den Dächern war eine Anzahl von Menschen versammelt, die flehend ihre Arme zum Himmel emporstreckten: »Hilfe! Hilfe!« schrieen sie, als sie Gwenfern mit seinem Boote erblickten. Aber er setzte seinen Weg unbeirrt fort.
Endlich hatte er nach übermenschlicher Anstrengung das stockhohe Häuschen der Dervals erreicht, das noch unversehrt war und dem Andrang der Fluten trotzte. Gegenüber stürzte gerade eine große Scheune ein und Rohan sah zu seinem Entsetzen mehrere Leichen seewärts gleiten. Sein Herz klopfte zum Zerspringen; wie, wenn eine davon seine Base Marcelle war?! Das Wasser war an dieser Stelle bereits so hoch gestiegen, daß es bis zum Fenster des Dachkämmerchens reichte, in welchem Marcelle schlief. Wie, wenn die Flut sie in der Küche unten überrascht hätte?
Jetzt hieß es rasch handeln. Er durfte die kostbare Zeit nicht mit Spintisieren vergeuden. Nach vieler Mühe gelang es ihm, das Boot ganz dicht unter Marcelles Fenster zu ziehen, sich aufs Fensterbrett zu schwingen und das Seil um einen großen Haken zu winden, dann stieß er das Fenster auf und sprang ins Kämmerchen. »Marcelle! Marcelle! Bist du hier?« rief er ängstlich.
Ein markerschütternder Schrei kam als Antwort. Das Mädchen, welches mitten im Zimmer gekniet hatte, sprang entsetzt auf. Sie war im Schlaf von der Flut überrascht worden und hielt sich für verloren. Mit der ihr angeborenen Geistesgegenwart schlüpfte sie in ihre Kleider, nur die Füße waren nackt und das Haar floß ihr wie ein Mantel um die Schultern.
»Ich bin's, dein Rohan! Ich komme, um dich zu retten! Wir haben keine Minute zu verlieren!«
Während er sprach, erzitterte das Haus in allen Fugen. Marcelle starrte ihren Verlobten wie einen vom Himmel gestiegenen Geist, wie ein übernatürliches Wesen an. Er trat ganz dicht an sie heran, schlang seinen Arm um sie und suchte sie zum Fenster zu ziehen.
»Fürchte nichts, Marcelle, ich werde dich retten!« versicherte er mit heiserer Stimme. »Komm! komm!«
»Bist du es wirklich, Rohan?« rief Marcelle, sich fest an ihn klammernd und ihr schreckensbleiches Antlitz zu ihm erhebend. »Ehe die Flut hereinbrach, träumte ich von dir und als ich erwachte, das Geschrei der Nachbarn hörte, lief ich zum Fenster und schrie über das wilde Wasser hinweg: Rohan, Rohan!«
»Wir haben keine Minute zu verlieren,« mahnte der Retter.
»Wie kamst du hierher? Man könnte glauben, du seist vom Himmel herabgefallen! Ach, mein Rohan, die Leute lügen, wenn sie sagen, du seist ein Feigling!«
Er zog sie halb mit Gewalt zum Fenster hin und deutete auf das schaukelnde Boot, indem er ihr Weisungen gab, was sie zu thun habe, damit er sie retten könne. Er löste mit der Linken das Seil von dem Haken und zog das Boot wieder dicht unters Fenster, dann hob er Marcelle mit der Rechten aufs Gesimse, hieß sie sich fest mit beiden Händen an seinen Arm klammern und ließ sie langsam, aber sicher in das schaukelnde kleine Fahrzeug gleiten. Im nächsten Augenblick stand er neben ihr und ruderte mit dem Strom dem Strande zu.
Marcelle sah wie in einem bösen Traum allerlei Trümmer, Hausgeräte, Dächer, ertrunkenes Vieh und Geflügel an sich vorbeigleiten, sie hörte die menschlichen Hilferufe; vor ihr saß Rohan und handhabte mit geübten Händen die Ruder, geschickt jeden gefährlichen Zusammenstoß verhindernd. Sie schöpfte unter seiner Anleitung mit dem Topfe das Wasser mechanisch aus dem Boote. Ihr Herz war von den letzten Eindrücken so übervoll, daß sie kein Wort sprach. Endlich trieben sie ins offene Meer hinaus; hier war fast jede Gefahr ausgeschlossen, denn Rohan ruderte den Strand entlang, bis er die Stelle erreichte, von der er mit dem Floß ausgezogen war. Leute, die mit flackernden Fackeln und glimmenden Laternen ihrer harrten, begrüßten Rohan mit begeisterten Hochrufen. Er zögerte einen Augenblick, ehe er landete, als ob er Marcelle noch etwas zu sagen hätte, dann schüttelte er entschlossen seine Löwenmähne und sagte bloß: »Steig' aus!«
Marcelle sprang an den Strand und fast in die Arme ihrer Mutter, die sie, vor Freude schluchzend, ans Herz drückte. Der alte Korporal, von seinen Neffen umringt, starrte die Gerettete wie ein blaues Wunder an; seine thränenfeuchten Blicke irrten von ihr zu der im Boote aufrecht stehenden Gestalt des Retters. Ehe er Zeit hatte, ein Dankeswort an diesen zu richten, stieß Rohan wieder vom Ufer ab.
»Halt! Rohan Gwenfern!« rief eine Stimme aus der Menge.
Rohan zog die Ruder ein und rief zornig: »Giebt es denn keinen einzigen wirklichen Mann unter euch? Seid ihr lauter feige Memmen, die nutzlos und ängstlich herumstehen, während unten im Dorfe Kinder und Frauen eines elenden Todes sterben? Wo ist Jan Goron?«
»Hier!«
»Die Flut ist im Sinken, aber noch immer stürzen Häuser ein und Menschenleben fallen zum Opfer. Begleite mich, vier Arme sind kräftiger als zwei, wir werden auf dem Wege ein größeres Fahrzeug finden.«
»Ich komme!« entgegnete Jan. Bis zur Brust im Wasser watend, kletterte er ins Boot zu Rohan. Marcelle stieß einen leisen Schrei aus, als die beiden dem Dorfe zuruderten.
»Gott verzeih' mir!« brummte der Korporal. »Er ist ein tapferer Mensch, ein Held!«
Die Flut begann nun ebenso rasch zu sinken wie sie gestiegen war, aber die Überschwemmung dauerte nichtsdestoweniger fort und den Überlebenden drohte von allen Seiten Gefahr. Rohan entdeckte mit Hilfe Gorons bald ein größeres vor Anker liegendes Fischerboot, das er losmachte. Beide sprangen hinein, nahmen ein zweites ins Schlepptau und ruderten wieder an den Strand zurück, wo sie mit lauten Bravorufen begrüßt wurden. Rohan vergaß, von seiner Erregung hingerissen, seine persönliche Lage und feuerte die Gaffer am Strande an, sich der Hilfsaktion anzuschließen. In wenigen Minuten war auch das zweite Boot mit einigen beherzten Fischern bemannt, die unter dem Kommando Rohans ans Rettungswerk schritten, das jetzt lange nicht mehr so gefährlich war wie Rohans erste Fahrt. Gar bald füllten sich die beiden großen Fahrzeuge mit halbohnmächtigen Frauen und Kindern, welche von den Rettern in Sicherheit gebracht wurden, die dann ihr Werk der Barmherzigkeit fortsetzten, bis es kein Lebewesen mehr zu retten gab. Da gutes Beispiel ebenso ansteckend wirkt wie schlechtes, hatten sich den beiden Booten bald ein halbes Dutzend andere angeschlossen. Die Retter mußten in die unterwaschenen Häuser dringen, um die vor Angst halb gelahmten Frauen, Greise und Kinder von den Dächern und Böden zu holen. Als endlich der Morgen graute, war das Rettungswerk vollendet und Rohan stieg erschöpft vor der Hütte seiner Mutter an den Strand, wo er von einer aufgeregten Menge umringt wurde. Jetzt erst kam ihm seine sonderbare Lage in den Sinn und er wich scheu zurück, wie ein Mensch, der einen Überfall fürchtet. Zerfetzt, halbnackt, abgezehrt, durchnäßt und todmüde, bot er einen seltsamen Anblick. Rufe der Bewunderung, des Mitleids schlugen an sein Ohr; eine Frau, deren alten Vater und beide Kinder er gerettet, stürzte auf ihn zu, bedeckte seine Hände mit Küssen und flehte alle Segnungen des Himmels auf ihn herab. Nicht weit von dieser Gruppe entfernt stand der Korporal, bleich und verlegen, neben ihm Marcelle, die mit leuchtenden Augen ihren Retter anlächelte. Mit zu Boden gesenkten Blicken versuchte Rohan der Menge zu entkommen, die ihn ehrerbietig passieren ließ.
»Im Namen des Kaisers!« ertönte plötzlich eine Stimme und eine schwere Hand legte sich auf Rohans Schulter. Er drehte sich ruhig um und stand Mikel Grallon Aug' in Aug' gegenüber. Die Menge brummte zornig, denn ihre Sympathie gehörte dem Helden der heutigen Nacht.
»Schäme dich, Mikel Grallon! Laß die Hand von ihm ab!« ertönten gleichzeitig ein Dutzend Stimmen.
»Er ist ein Deserteur!« beharrte dieser. »Ich nehme ihn im Namen des Kaisers gefangen!«
Ehe er weiter sprechen konnte, wurde er von ein Paar starken Armen zu Boden geschleudert. Rohan rührte keinen Finger. Rot vor Zorn, sprang der alte Korporal auf Grallon und hielt ihn mit den Knieen auf dem Boden fest, bis Rohan hinter den Klippen verschwunden war.
»Im Namen des Kaisers sag' ich dir, daß du ein elender Schurke bist! Lieg' still, Bestie oder ich erwürge dich!« schrie er den zappelnden Burschen an.