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Sechstes Kapitel.
Die Häuslichkeit des Exkorporals

Marcelle verbrachte den ganzen Tag wie im Traume; sie wechselte fortwährend die Farbe und war nicht imstande, fünf Minuten ruhig auf einem Platze auszuharren; ihre Hand zitterte, als sie Brot schnitt. Sie ging mit ihren Brüdern sehr zärtlich um und empfand das zwingende Bedürfnis, bald die Mutter, bald den Korporal zu küssen; dabei schwammen ihre Augen in Thränen. Die Mutter betrachtete sie mit sonderbaren Blicken; da auch sie in ihrer Jugend verliebt gewesen war, ahnte sie, was diese Unruhe ihrer Tochter zu bedeuten habe.

Geheime Liebe ist süß, aber die eingestandene ist noch süßer, denn sie bringt die beruhigende Gewißheit und den ersten wirklichen Liebeskuß. Bis zu jenem Tage hatte Rohan noch mit keinem Wort verraten, was sein Herz bewegte; bis zu jener seligen Stunde hatte er sie nie anders, als wie es bei ihnen Sitte, auf beide Wangen geküßt. Nun sich ihre Lippen gefunden, war das stille Geständnis besiegelt.

Die Begegnung mit dem Wanderlehrer hatte Marcelle etwas verstimmt, aber ihr Mißmut schwand bald, denn sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Rohan ein guter Christ sei, an Gott glaube und auch an den großen Kaiser. Marcelle hatte eine religiöse Erziehung genossen. Ihre Mutter, eine schlichte Bäuerin, hielt fest an allen Kirchenformeln, an dem alten Aberglauben, an den kirchlichen Legenden, deren Ausrottung die Revolution vergebens versucht hatte. Die alte Frau versäumte keine Messe in der kleinen Kirche und kniete, so oft sie an einer Kalvarie vorbeiging, nieder, um ein stilles Gebet zu verrichten. Sie glaubte an die Wunderkraft aller Heiligen und haßte die Revolution.

Ihr Mann, der ältere Bruder des Korporals, war ein Fischer gewesen. Der große Seesturm von 1796 forderte ihn als Opfer; der Korporal, damals noch gemeiner Soldat, kam gerade aus Italien auf Urlaub nach Hause und fand die Witwe mit ihren sieben hilflosen Kindern in hellster Verzweiflung und im größten Elend. Jannick, der jüngste, erblickte erst einige Monate später das Licht der Welt.

In jener Stunde hatte Ewen Derval den großen Eid geschworen, niemals zu heiraten, sondern den vaterlosen Waisen ein Vater zu werden und dem Weibe seines Bruders ein treuer Beschützer. Und er hat sein Wort ehrlich gehalten.

Er kämpfte in vielen Schlachten für seinen angebeteten Kaiser, vermied die Weiber, das Spiel, kurz jede Versuchung, die seine karg bemessene Löhnung hätte vermindern können, und galt infolgedessen in seinem Regiment als Sonderling und Geizkragen. Daran lag ihm nichts, wenn nur seine große Familie zu Hause nicht zu darben brauchte. Bei Austerlitz verlor er sein Bein. Von dieser Stunde an konnte er dem »kleinen Korporal« nichts mehr nützen. Er wurde mit einer ansehnlichen Pension und einer Anzahl Medaillen verabschiedet und konnte sich nun ganz der Erziehung »seiner« Kinder widmen. Von Krieg und Krankheit erschöpft, mit einem Stelzfuß und das Herz dennoch voll Bewunderung und Dankbarkeit für den großen Kaiser, die Taschen voll Geschenke für die Kinder, kehrte er eines Tages nach Kromlaix zurück, und hier hatte er seither als Held, als Orakel, als Oberhaupt einer zahlreichen Familie gegolten. Korporal Derval hatte sich trotz seines langen Soldatenlebens eine ungewöhnliche Charakter- und Seelenreinheit bewahrt, die man bei Veteranen Napoleons sonst nicht zu finden pflegte. Er zollte dem weiblichen Geschlecht Achtung und glaubte an Gott. Freilich das, was man einen guten Katholiken nennt, war er nicht, denn er ging fast nie zur Beichte und hörte nur die Mitternachtsmesse am Weihnachtsabend. Er hütete sich, vor den Kindern derbe Witze zu machen oder zu fluchen und unterstützte seine Schwägerin bei der Erziehung ihrer Kinder, die gelehrt wurden, Christus und alle Heiligen zu lieben und anzubeten, die Priester zu achten, ein gottgefälliges Leben zu führen und sich gegenseitig zu stützen.

An den langen Winterabenden, wenn der Sturm das Meer peitschte und um die Steindächer pfiff, der Schnee knietief lag, umringten die Kinder den Alten, während die Witwe in einem Winkel spann, und lauschten mit offenem Munde den Geschichten von dem »großen Kaiser,« dem erhabensten Wesen nächst Gott. Merkwürdigerweise entzückten dieselben das leidenschaftliche kleine Mädchen mehr als ihre kühler beanlagten Brüder. Von frühester Kindheit an unterwiesen, Napoleon als göttliches Wesen zu betrachten, hing Marcelle mit unauslöschlicher Liebe und Verehrung an ihm. Gott und der Kaiser waren für sie unzertrennliche Begriffe.

An diesem denkwürdigen Tage jedoch, da ihr Rohan seine Liebe gestanden, hatte Marcelle in ihrem überschwenglichen Glücksgefühl ihr Idol fast vergessen. Während sie geschäftig im Hause herumarbeitete, fühlte sie sich von Rohans Armen emporgehoben; sie hörte sein zärtliches Liebesgeflüster und fühlte den brennenden Kuß auf ihren Lippen – einen Kuß, der ihr das Blut in den Adern sieden machte. Jeder Gegenstand in der Hütte erschien ihr heute in ganz neuem Licht. In Wirklichkeit unterschied sich ihr Häuschen durch nichts von den Nachbarhäusern. Es enthielt im Erdgeschoß einen großen Raum, der als Wohn-, Speisezimmer und Küche zugleich diente. Ein großer Speisetisch mit seinen für Suppe bestimmten Aushöhlungen stand in der Mitte; Löffelbehälter und Brotkorb hingen an einem Flaschenzug von dem rauchgeschwärzten Querbalken herunter, der eine Vorratskammer ersetzte, denn Ölkannen, Speckseiten, Zwiebelkränze, Ziegenfelljacken, Wasserstiefel und anderes mehr führten dort oben ein interessantes Stillleben. In einem Winkel, neben dem offenen Kochherd, stand ein fast bis zur Decke reichendes Kastenbett mit seltsam geschnitzten Schiebepaneelen, ihm gegenüber ein etwas kleineres von derselben Art. An einer starken Kette hing ein großer, blankgescheuerter Kupferkessel über dem Herd. Alles in diesem geräumigen Gemach atmete Sauberkeit und peinlichste Ordnung.

Eine alte geschnitzte Holztreppe führte in den oberen Teil der Hütte, in das Frauengemach, das die Witwe mit ihrer Tochter bewohnte.

Die Familie hatte gerade ihr Abendbrot beendet, der Korporal war zu einem Abendplauschchen zu einem Nachbar gehumpelt, die Zwillingsbrüder Hoël und Gildas lungerten auf einer Bank, Alain stand, sein Pfeifchen schmauchend, vor der Hausthür und Jannick, der jüngste der Familie, streckte seine ungeschlachten Glieder vor dem Feuer aus, Mutter Derval saß bereits vor ihrem Spinnrocken, während Marcelle sich damit beschäftigte, den Tisch abzuräumen. Ihre Mutter beobachtete sie von ihrem Winkel aus. Das Mädchen kam ihr heute so sonderbar vor.

»Was ist denn heute mit Marcelle los?« bemerkte Hoël plötzlich. »Sie thut ja seit Stunden den Mund nicht auf und blickt wie geistesabwesend bald hierhin, bald dorthin, gerade wie die verrückte Johanna unten im Dorfe.«

Marcelle stieg das Blut ins Gesicht, aber sie antwortete nicht.

»Vielleicht hat sie gar den Korigan gesehen?« scherzte Gildas.

»Gott und alle Heiligen mögen sie davor beschützen,« rief die Witwe, sich rasch bekreuzigend. Der »Korigan« gilt beim Bretagner Volke als ein Geist des Bösen; wem er erscheint, dem steht etwas Schlimmes bevor, oft sogar der Tod.

»Unsinn!« brauste jetzt Marcelle auf.

»Das Kind ist heute wirklich blässer als sonst. Marcelle ißt zu wenig und arbeitet zu viel. Sie faulenzt nicht so viel wie ihr Buben. Zwei Paar Frauenarme müssen sich tüchtig rühren, um alle Arbeit in einem so großen Hauswesen ordentlich zu versorgen, wie das unserige ist,« nahm Frau Derval sie in Schutz.

Das Mädchen blickte dankbar zur Mutter hin, welche durch diesen Blick das Geheimnis der Tochter erriet.

»Das ist alles ganz schön,« nahm jetzt Jannick das Wort, »aber Marcelle verrichtet doch ihre Hausarbeit nicht am Thore des heiligen Gildas?«

Marcelle zuckte zusammen und hätte beinahe die Schüssel, die sie in der Hand hatte, fallen lassen. Sie warf einen nicht gerade freundlichen Blick auf ihren Peiniger, der ihr boshaft zunickte.

»Was meint der Junge damit?« forschte die Mutter.

»Er ist ein Flegel und sollte eine tüchtige Tracht Prügel bekommen,« erklärte das Mädchen ärgerlich.

»Mein Rücken ist breit genug, probier's einmal,« höhnte der junge Riese. »Mutter, frag' sie doch, ob sie die Wäsche am Thore des heiligen Gildas wäscht. Und wenn sie mit Nein antwortet, dann frage sie, was sie heute so lange dort getrieben hat.«

Die Mutter blickte fragend zu Marcelle hin, die sich noch immer am Tische zu schaffen machte, aber nichts sagte.

»Warst du heute dort, mein Kind?« fragte die Alte endlich.

»Ja, Mutter,« lautete die sofortige Antwort.

»Es ist ein langer Weg dahin; was hat dich bewogen, ihn zurückzulegen, mein Kind?«

»Ich wollte am Strande Tang suchen und stieg die Triffinesleiter hinab; plötzlich fiel mir ein, daß ich schon lange das ›große Thor‹ und das Trou à Gildas nicht gesehen hatte. Da es gerade Ebbe war, schlenderte ich hin; aber die Flut überraschte mich; ich hatte große Mühe, den Strand mit heiler Haut zu erreichen.«

»Du hast eine zu große Vorliebe für gefährliche Orte, mein Kind,« bemerkte die Mutter mißbilligend. »Du wirst noch einmal dein Leben dabei einbüßen, wie dein Vater. Ein Mädchen hat sich im Hause zu beschäftigen und nicht am Strande herumzustreichen. Ich lebe seit fast fünfzig Jahren hier in Kromlaix und habe das ›große Thor‹ nur ein einziges Mal gesehen, als mich dein Vater in den schlimmen Tagen in seinem Boote mitnahm, um die heilige Messe auf offener See zu hören.« Während des Sprechens drehte Mutter Derval fleißig ihre Spindel, denn sie gehörte zu jenen Frauen, die keine Minute ohne Beschäftigung zu sein vermögen.

»Ich will dir erzählen, Mutter, was ich heute gesehen habe,« sagte Jannick, sich erhebend und seine Glieder streckend. »Als wir vom Fischzug heimkehrten, trieb uns die Flut nahe am Thore des heiligen Gildas vorbei, plötzlich rief Mikel Grallon, der Augen wie ein Falke hat: ›Seht doch, seht!‹ Wir blickten alle ins Thor hinein, aber wir waren doch zu weit entfernt, um die Gesichter zu erkennen, doch sahen wir einen Fischer, der bis zur Brust im Wasser watete und auf seinen Armen eine Frauensperson trug. Die Flut war ungewöhnlich hoch, und er trug sie ums Thor herum und setzte sie erst am Strande ab. Dreh' doch dein Gesicht zu mir herum, Marcelle! Dann küßte der Mann die Maid und sie küßte ihn wieder, mehr konnte ich nicht sehen, denn unser Boot glitt um die Ecke.«

Die Zwillinge lachten belustigt und zwinkerten Marcelle gutmütig an. Sie bewahrte ihre Ruhe, zuckte mit den Schultern und heuchelte Gleichgültigkeit. Jannick, durch ihre Fassung erbost, wandte sich erregt an die alte Frau: »Mutter, frag' sie doch, ob sie allein zum Thore des heiligen Gildas ging.«

Ohne die Frage abzuwarten, entgegnete Marcelle, dem forschenden Blick der Mutter tapfer standhaltend: »Nein, auf dem Hin- und Rückwege hatte ich, wie Jannick richtig behauptet, Gesellschaft. Höre mich an, Mutter! Jannick ist noch ein dummer, grüner Junge und sieht Gespenster, wo andere Menschen nichts Merkwürdiges sehen. Ich habe an der Küste einen Kameraden getroffen und unter seiner Führung ging ich zum ›großen Thor‹. Allein hätte ich es sicherlich nicht gewagt; dort wurden wir ganz unerwartet von einer Hochflut überrascht, und er trug mich auf seinen starken Armen sicher durchs Thor, und dann geschah, was der dumme Jannick gesehen – ich küßte ihn zum Dank auf beide Wangen. Es war ja doch nur Vetter Rohan, und ohne seine Hilfe hättest du jetzt bestimmt keine Tochter mehr, Mutter! Das Wasser ging ihm bis zum Munde – wie hätte ich da durchkommen können?«

Die Brüder brachen auf Kosten Jannicks in helles Lachen aus. Marcelles Herumstreichereien mit ihrem Vetter geschahen ja mit Wissen und Erlaubnis der Mutter und des gestrengen Onkels; gehörte doch Rohan zur engsten Familie! Nur die alte Frau blickte ernst vor sich hin.

»Das ist nicht wahr!« schrie Jannick, der sich ärgerte, abgetrumpft worden zu sein. »Als ich die Dorfstraße heraufkam, sah ich Vetter Rohan in Gesellschaft unseres Pfarrers und Meister Arfolls, und als ich nach Hause kam, war Marcelle noch nicht da. Und dann war der Fischer, der sie trug – und daß sie es war, darauf möchte ich schwören – nicht größer als ich, auch preßte er sie zu sehr an seine Brust und umarmte sie zu oft, als daß es Rohan Gwenfern oder ein anderer Verwandter hätte sein können.«

»Wer immer es gewesen,« unterbrach ihn die Witwe streng, »die Heilige Jungfrau möge mich davor bewahren, daß Marcelle oder ein anderes meiner Kinder lüge. Ob es Rohan oder ein anderer war, du hättest nicht so weit gehen dürfen, meine Tochter. Das ist kein passender Ort für junge Mädchen, kaum für solche Waghälse, die ihr Leben freventlich aufs Spiel setzen, wie Rohan Gwenfern. Alle Welt weiß, daß die ›Kathedrale‹ von dem heiligen Gildas verflucht worden ist und jetzt nur von bösen Geistern heimgesucht wird; die Seelen der Mönche und Äbte, welche das heilige Kreuz verleugneten, spuken dort herum. Auch meiner Schwester Sohn thut unrecht, sich an den verrufenen Ort zu wagen. Übrigens ist es schon spät geworden, geht schlafen, Jungens. Komm, Marcelle, auch wir gehen hinauf.«

Kaum waren sie in ihrem sauberen Stübchen oben und die alte Frau im Bette, als Marcelle ihr um den Hals fiel und unter Thränen und Lachen ihr Herz vor ihr ausschüttete. Sie hatte Rohan zwar gesagt, daß sie ihr Geheimnis vorläufig noch hüten wolle, aber sie vermochte die ängstlich forschenden Blicke ihrer Mutter nicht zu ertragen. Diese war von der Beichte nicht allzusehr überrascht, freilich auch nicht erfreut, denn ihr Neffe Rohan war nicht der Mann, den sie für ihre einzige Tochter wünschte. Der Junge war zu excentrisch und waghalsig, zu wenig fromm, ein zu seltener Kirchenbesucher und ein zu fleißiger Schüler des entsetzlichen Arfoll, um ihrem altmodischen Geschmack zu entsprechen. Wie oft hatte sie schon im stillen ihre Halbschwester wegen dieses Sohnes bedauert! Seine körperliche Schönheit und Kraft, seine angeborene Herzensgüte gefielen ihr zwar sehr und sie liebte ihn auch um dieser Vorzüge willen, aber ihre Anschauungen gingen zu weit auseinander und sie fürchtete immer, der Junge könne auf Abwege geraten.

Schon seit längerer Zeit ahnte sie mit stillem Bangen, daß Rohan ihrer Tochter mit mehr als verwandtschaftlichem Interesse begegne. Er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne Marcelle mit Geschenken zu überraschen, wie Mädchen sie lieben; aber die gute Alte hatte sich immer damit beruhigt, daß die beiden ja noch zu jung seien und auch zu nahe verwandt, um sich ernstlich zu verlieben, und siehe da, jetzt hatte Amor diesen bösen Streich dennoch gespielt!

Mutter und Tochter hingen in solch zärtlicher Liebe aneinander, daß sie sich gar bald verständigten. Die Mutter versprach, vorläufig beide Augen zudrücken zu wollen und von dem Geschehenen keine Notiz zu nehmen. Weder der Korporal, noch die vier Brüder sollten erfahren, wie es um das junge Paar stand. Rohan sollte nach wie vor als naher Verwandter behandelt und auch seiner Mutter vorläufig nichts verraten werden. Marcelle hinwieder verpflichtete sich, Rohan bezüglich ihrer Verlobung keine weiteren bindenden Versprechungen zu machen, in Zukunft längere Ausflüge mit ihm zu vermeiden, kurz, sich so zu benehmen, daß sie keinen Grund zu weiteren Verdächtigungen und Redereien gäbe.

Im Innersten ihres Herzens fühlte sich die Witwe durch das selbständige Vorgehen des jungen Paares ein wenig verletzt. In der Bretagne war es nicht Sitte, daß ein junger Mann persönlich um die Braut werbe. Rohan hätte einen Abgesandten an den Korporal schicken müssen, um diesem den Wunsch des jungen Mannes zur Kenntnis zu bringen. Der Korporal hätte sodann die Mutter des Bewerbers aufgesucht, sich mit ihr über die pekuniären Punkte verständigt und nach Erledigung derselben Rohan Gwenfern zum Gatten Marcelles bestimmt, ohne diese erst zu befragen. So wurden in Kromlaix seit Menschengedenken die Ehen geschlossen.

Die Witwe betete in jener Nacht inbrünstig, Gott möge ein Wunder geschehen lassen, damit Marcelle von ihrer Neigung zu Rohan geheilt werde. Wenn sie freilich das Gesicht ihrer Tochter gesehen hätte, als diese nach der Beichte sich anschickte, zur Ruhe zu gehen, sie würde eingesehen haben, daß ihr Gebet vergebens sein müsse.

Das Frauengemach enthielt zwei kleine Betten, die beide schneeweiß überzogen waren. In der Mauer waren neben den Betten einige Haken angebracht und mit weiblichen Kleidungsstücken behängt. Die Hauptmöbelstücke bildeten ein Tisch in der Mitte des Gemaches und ein großer eichener Wäscheschrank in der Ecke. Nicht weit von diesem hing ein kleiner, einfach eingerahmter Spiegel. Nachdem sich Marcelle ihrer Oberkleider, ihrer Strümpfe und Schuhe und ihrer Haube entledigt, trat sie vor den Spiegel, um, wie allabendlich, ihr dichtes, schwarzes Haar, das sie wie ein Mantel umwallte, für die Nacht zu ordnen. Sie errötete, als die langen Strähnen beim Kämmen über ihren jungfräulichen Busen fielen; ein seltsames Rieseln ging durch ihren Körper. Sie durchlebte jene ganze Scene deutlich noch einmal. Sie fühlte sich von den kräftigen Armen Rohans umschlungen, fühlte seine heißen Küsse auf ihren Lippen brennen. Sie neigte sich vor, um ihr Spiegelbild besser sehen zu können; dann schloß sie lächelnd die Augen und drückte, von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, ihre heißen Lippen auf das Ebenbild in ihrem Spiegel, dabei zärtlich flüsternd: »Ich liebe dich, Rohan! Gute Nacht!«

Lächelnd ordnete sie ihr Haar und schlich auf den Zehenspitzen zu ihrem Bette. Über demselben hing ein gewöhnliches Öldruckbild der Madonna mit dem Jesukindlein. Marcelle kniete davor nieder, faltete andächtig die Hände und betete: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen!«

Sie dankte Gott für seine Gnade, bat ihn, ihr ihre Sünden zu vergeben, alle ihre Lieben in seinen besonderen Schutz zu nehmen, sich der Seele ihres Vaters im Himmel droben zu erbarmen, sowie ihrer Mutter, dem Korporal, ihren vier Brüdern und ihr selbst auch weiter gnädig zu sein.

Dann hielt sie einen Augenblick inne, ehe sie zitternd fortfuhr: »Ich bitte dich, Heilige Jungfrau, segne meine Liebe zu Rohan und schenke mir deine Gnade, damit ich nie mehr gegen dich sündige. Ist es eine Sünde, daß ich Rohan so sehr liebe? Mach', daß er mir ewig treu bleibe!« Sie bekreuzigte sich fromm und wollte sich erheben, doch plötzlich fiel ihr ein, daß sie etwas vergessen. Sie erhob ihre Augen, aber jetzt nicht mehr zu dem Bilde der Mutter Gottes, sondern zu dem eines Mannes in Uniform, der auf einer Anhöhe stand und auf ein rotes Licht herunterblickte, das von einer brennenden Stadt unten im Thale heraufzulodern schien. Sein Antlitz war weiß wie Marmor, zu seinen Füßen kauerten einige Grenadiere mit gezücktem Bajonett.

Der Jungfrau Augen hafteten mit ebensolcher Ehrfurcht und Liebe darauf wie auf jenem ersten. Sie spitzte die Lippen wie zum Kusse, ehe sie ihr Antlitz mit den Händen bedeckte und mit halbleiser Stimme betete: »Um Jesu, der heiligen Jungfrau und aller Heiligen willen erhalte, o Gott, unseren großen Kaiser, verleihe ihm den Sieg über alle seine Feinde und schmettere die Bösen nieder, die ihn vernichten wollen. Segne ihn und lasse ihm deine Gnade, o erbarmungsvoller Gott, angedeihen – um der Segnungen willen, die er uns angedeihen ließ. Amen! Amen!«

Mit diesem innigen Gebet für den heiligen Napoleon ging Marcelle zu Bette und schlief nach einigen Minuten fest ein, um am nächsten Morgen etwas später als sonst zu erwachen.


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