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Ein Jahr ist verstrichen. Der Ginster steht in vollster Blüte, die Seevögel sind aus dem Süden heimgekehrt, goldene Ähren wiegen sich im Zephyr, die Lerche erhebt sich hoch in die Lüfte und läßt ihren schmetternden Gesang ertönen, das Meer ist ruhig, jeder Fels spiegelt sich in seinen Fluten, zahllose Fischerboote gleiten, ihre Netze auswerfend, darüber hin. Es ist der Jahrestag der großen Schlacht, welche das Schicksal Bonapartes entschied.
Auf dem Gipfel jener Klippe, von welcher man die Kathedrale des heiligen Gildas überblicken kann, sitzt ein Pärchen; Möwen flattern über ihren Köpfen und tief unten zu ihren Füßen glitzert das unendliche Meer. Ein wolkenloser Himmel wölbt sich über ihnen.
Die eine Gestalt, hoch und hager, sitzt bewegungslos wie eine Statue und starrt mit schwermütigen großen Augen seewärts; graue Locken umwallen das Löwenhaupt – Angst, Kummer und Sorgen haben mit ehernem Griffel Furchen in das einst so sorglose Antlitz geschrieben. Dicht an ihn geschmiegt, kauert ein schönes junges Weib, die Hand des Mannes in der ihrigen haltend und besorgt zu ihm emporblickend. Das dunkle Gewand und die safranfarbige Haube deuten darauf hin, daß sie um einen Toten trauert.
Tagtäglich suchen diese beiden das stille Plätzchen auf und sitzen stundenlang dort, die Ruhe und den Frieden der Natur genießend. Tagtäglich beobachtet das Mädchen ängstlich das langsame Verschwinden der Wolke, welche die Seele ihres Gefährten verdüstert. Er scheint, sie weiß nicht wieso, Trost darin zu finden, Hand in Hand mit ihr hier zu weilen und das Meer zu beobachten. Seine Augen blicken wie geistesabwesend, aber ein seltsames geistiges Licht flackert in ihrer Tiefe.
»Marcelle!« flüstert er plötzlich.
»Wenn man dort weit hinaussegeln, segeln und segeln könnte, käme man vielleicht bis zu dem Felsen, wo er sitzt. Manchmal sehe ich ihn ganz deutlich, wie er übers Meer starrt. Er ist allein, sein Antlitz ist so bleich, wie damals, als ich es sah, ehe die große Schlacht geschlagen wurde!«
»Lieber, einziger Rohan, von wem sprichst du?« fragt Marcelle, zärtlich besorgt. Thränen schimmern in ihren traurigen Augen.
Er lächelt still vor sich hin, ohne zu antworten. Seine Worte sind ihr unverständlich. Seit jenem Tage, da er nach monatelanger Abwesenheit als vollständig gebrochener Mensch heimkehrte, spricht er oft ganz merkwürdige Dinge – von wilden Schlachten, dem Kaiser und seltsamen Begegnungen; aber ihr dünken es Bilder seines verwirrten Geistes. Mit zärtlicher Geduld pflegt sie den Unglücklichen, der von Tag zu Tag ruhiger und sanfter wird, bis sie ihn wie ein folgsames Kind leiten kann. Sie hofft, daß sich eines Tages die Wolke, die sein Hirn verdüstert, vollständig klären wird und ihre Hoffnung scheint sich erfüllen zu wollen.
Er schweigt noch immer und blickt sinnend seewärts. Hinter ihm erhebt sich der große Menhir, weiter unten sieht man Kromlaix. Die Sonne beleuchtet das idyllische Bild und küßt den Scheitel des schönen Weibchens, das sich voll Zärtlichkeit an Rohan schmiegt. Noch ist nicht alles verloren; seit seiner Rückkehr ist ihre Liebe wieder gewachsen und sie bleibt ihm treu und ergeben bis in den Tod …
Wenn er von jenem spricht, der dort drüben über dem großen Wasser sein Dasein beschließt, tobt er nicht mehr. Weit drüben, unter einem einsamen Palmbaum sitzt eine andere Gestalt, sinnend, wartend, verzweifelnd und seine Blicke sehnsüchtig über das Wasser schweifen lassend, das so tief und traurig ist wie die Gewässer der Ewigkeit, aber auch ebenso unergründlich …