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Viertes Kapitel.
Der Menhir

Es giebt im Liebesleben der Menschen einen Höhepunkt der Exaltation, einen Augenblick fast unfaßbaren Glückes, und das ist der göttliche Moment, in welchem sich die beiden suchenden Seelen finden, die Flammen der Leidenschaft ineinander schlagen und die Wogen des Lebens am höchsten gehen. Diese selige Stunde kehrt nie wieder und diese Empfindung läßt sich mit keinem anderen Gefühl vergleichen. Das empfanden auch Marcelle und Rohan. Die Leidenschaft war plötzlich erwacht und nahm Besitz von ihnen. Der Schleier, der bisher Seele vor Seele verhüllt hatte, war gelüftet und sie erkannten ihr gegenseitiges Sehnen und Verlangen.

Von frühester Kindheit an waren sie Spielkameraden und treue Gefährten gewesen. Sie verbrachten auch jetzt noch täglich mehrere Stunden in gemeinsamen Exkursionen am Meeresstrand oder zwischen den Klippen, und niemandem im Dorfe fiel es ein, die Nahverwandten auch nur im Scherze als Liebesleute zu bezeichnen. Die Kinder waren miteinander aufgewachsen und es galt für selbstverständlich, daß der dreiundzwanzigjährige Rohan und die achtzehnjährige Marcelle auch weiter Freunde blieben und der Beaufsichtigung nicht bedurften. Es blieb sich doch ganz gleich, ob Marcelle ihre freie Zeit mit Rohan oder in Gesellschaft von Hoël, Gildas und Alain – ihren Brüdern – verbrachte.

Damit wollen wir nicht behaupten, daß das Pärchen sich nicht schon längst seiner Sympathie für einander bewußt gewesen. Die Liebe empfindet, bevor sie spricht: sie entzückt, bevor sie sich ihrer selbst klar ist. Doch bewahrte jeder sein süßes Geheimnis für sich. Die herabgeglittene Haube, das aufgelöste Haar brachte es an den Tag. Es riß die zwischen ihnen bestehende Schranke nieder. In einem Augenblick war die kühle Luft der Freundschaft in ein Flammenmeer der Liebe verwandelt, in dem die zwei sich verloren und glücklich waren – ach, so glücklich!

Rohan preßte die zitternde Mädchengestalt fest an sein Herz, ihr Haar umflatterte sein Gesicht und er bedeckte es mit heißen Küssen.

Marcelle brachte kein Wort heraus, sie wehrte ihm aber auch nicht.

»Ich liebe dich, Marcelle! Und du?« stammelte er wonnetrunken.

Sie antwortete nicht, aber ihre liebeerfüllten Augen versenkten sich in die seinen, dann schloß sie dieselben, umschlang zärtlich seinen Hals mit beiden Armen und drückte ihre weichen, vollen Lippen auf die seinen.

Das war beredter als alle Worte. Es war die göttlichste aller göttlichen Antworten der Liebessprache. Ihre Lippen zitterten in einem heißen, langen Kuß und alles Lebensblut des einen floß durch diesen warmen Kanal in das Herz des anderen hinüber. Jetzt erst setzte Rohan seine süße Last ab. Verwirrt und an allen Gliedern bebend, stand Marcelle endlich wieder auf ihren Füßen. Der eine Kuß genügte Rohan nicht – er überschüttete ihre brennenden Wangen, ihre Lippen, ihre Augen und Hände mit Küssen.

»Genug, genug, Rohan!« flüsterte sie verschämt. »Man könnte uns von der Klippe aus sehen.«

Mit Mühe entwand sie sich seinen Armen, raffte schnell ihre Strümpfe und Holzschuhe, die mit jenen Rohans auf den trockenen Sand gefallen waren, auf und setzte sich mit dem Rücken gegen Rohan auf den nächsten Steinblock, um ihre nackten Beine zu bekleiden und ihr aufgelöstes Haar wieder unter der Haube zu verstecken. Als sie sich erhob, war sie zwar blaß, aber vollkommen ruhig. Aus ihren Augen strahlte helles Glück.

Die Frauen haben das Talent, sich nach solchen Episoden viel rascher zu fassen als die Männer; sie ertragen das Liebesglück viel leichter. Rohan, der mittlerweile ebenfalls in seine Strümpfe und Schuhe geschlüpft war, zitterte noch von Kopf bis Fuß vor Erregung.

»Marcelle, liebst du mich wirklich? Ich kann es kaum fassen, das große Glück!« rief er, ihre beiden Hände ergreifend und sie diesmal auf die Stirn küssend.

»Wußtest du es denn nicht?« fragte sie sanft.

»Ich dachte mir's, aber jetzt erscheint es mir so seltsam. Ich fürchtete immer, du würdest mich als deinen Vetter nicht so lieben können! Wir kennen uns von jeher, und doch kann ich es nicht glauben. Aber liebst du mich wirklich, Marcelle?«

»Ich habe dich immer geliebt.« Während sie dies sagte, entzog sie ihm eine Hand und lenkte ihre Schritte wieder dem Strande zu.

»Aber nicht so wie heute?«

»Nein, nicht so wie heute,« gab sie errötend zu.

»Und deine Liebe wird beständig sein?«

»Nur die Männer sind in ihrer Liebe unbeständig, wir Frauen nicht.«

»Wirst du mich auch heiraten, Marcelle?«

»Wenn es des guten Gottes Wille ist.«

»So?!«

»Und des Bischofs des guten Gottes.«

»Er wird uns seinen Segen geben.«

»Auch der meiner Brüder und meines Onkels, des Korporals.«

Rohan schwieg, denn des Onkels war er nicht ganz sicher. Dieser war ein gar seltsamer Kauz, dessen Ideen von den seinen ungemein abwichen. Der Korporal mochte Bedenken erheben und würde diesfalls wohl strenge Maßregeln ergreifen, um das Pärchen zu trennen. Der Gedanke an diese Möglichkeit huschte wie eine düstere Wolke über Rohans Gesicht, doch erhellte es sich sofort wieder. Nichts und niemand sollte ihm heute seine frohe Stimmung rauben. Die ganze Welt erschien ihm in rosigstem Licht. Soweit das Auge reichte, nichts als göttlicher Friede! Das Meer breitete sich wie eine glatte große Spiegelfläche aus, das Himmelszelt war dunkelblau und mit weißen Lämmerwölkchen bedeckt.

Plaudernd erreichten sie eine steile Treppe, die sich im Herzen der Klippe bis zum Gipfel schlängelte, sie war teils natürlich, teils von Menschenhand gehauen und stellenweise ziemlich gefährlich, denn viele Steine hatten sich losgelöst. Man nannte sie im Volksmunde die Leiter des heiligen Triffin.

Der Aufstieg war ein recht schwieriger. Rohan schlang seinen starken Arm um Marcelle und stützte sie beim Gehen. Wiederholt mußten sie stehen bleiben, um Atem zu schöpfen; dann sahen sie durch die luftigen Gucklöcher des Felsens weit unten das Meer mit seinem weißschaumigen Wasser den glitzernden Uferkies bespülen; flinke Möwen huschten darüber hinweg oder träumten an des Wassers Rand. Endlich erreichte das Pärchen das Grasplateau über der Klippe. Marcelle war sehr müde geworden und setzte sich ins Gras, Rohan nahm dicht an ihrer Seite Platz. Sie sprachen kein Wort. War es nicht schon das höchste Glück, den Atem des anderen einzusaugen, die gegenseitige Nähe zu fühlen? Selbst der ihnen so wohlbekannte Anblick der sie umgebenden Landschaft erschien ihnen neu und von göttlichem Lichte verklärt. Die Liebe ist so leicht befriedigt! Ein Blick, ein Ton, ein Duft wird sie stundenlang beglücken. Der Sprache bedarf sie nicht, da sie die der Blumen, der Sterne und die geheimen Lieder aller Vögel kennt.

Am liebsten wären sie bis tief in die Nacht an dem lauschigen Plätzchen sitzen geblieben; aber wieder war es Marcelle, die zum Aufbruch mahnte. Auf dem Heimwege sprachen sie von praktischen Dingen.

»Ich werde dem Onkel noch nichts sagen, auch meinen Brüdern nicht. Die Sache muß erst genau überlegt sein und eilt nicht,« bemerkte die kleine Weisheit.

»Durchaus nicht! Aber vielleicht werden sie es erraten,« meinte Rohan.

»Wie sollten sie, wenn wir klug sind? Wir sind nach wie vor Verwandte und werden uns künftig nicht öfter sehen als bisher.«

»Das ist richtig.«

»Und wenn wir uns begegnen, brauchen wir nicht der ganzen Welt unser Herz zu zeigen.«

»Auch das ist richtig. Ich werde es nicht einmal meiner Mutter sagen.«

»Sie wird es schon rechtzeitig erfahren. Wir thun nichts Böses und ein solches Geheimnis darf man, ohne eine Sünde zu begehen, vor seinen Nächsten geheimhalten.«

»Das meine ich auch.«

»Wenn die Sache bekannt würde, würde das ganze Dorf davon sprechen und am meisten deine Mutter. Es kann aber für ein junges Mädchen nicht angenehm sein, wenn ihr Name in aller Leute Mund herumgetragen wird, bevor es sicher ist –«

»Marcelle, ist es denn nicht sicher?!«

»Vielleicht ja; aber wer kann wissen, was die Zukunft birgt?«

»Du liebst mich doch, Marcelle?«

»Ich liebe dich, Rohan!« sagte sie feierlich.

»Dann kann uns nichts als Gott trennen, und der ist gut und gerecht.«

Während dieses Gespräches hatten sie das grüne Plateau durchschritten und sich einem Felsen genähert, der wie ein lebender Riese die ganze Umgebung beherrschte und überragte. Es war ein so ungeheuerer Menhir, daß man vergebens darüber grübelte, wie es möglich gewesen war, ihn hierher zu versetzen. Er überschaute die Seeküste gleich einem erloschnen Leuchtturm. Aus seinem furchtbaren Herzen dürfte wohl noch nie ein Lichtstrahl gedrungen sein. Auf seiner Spitze war ein eisernes Kreuz angebracht, das von dem Unrat der Seevögel wie mit Schnee überschüttet schien; dieselbe Art Schnee tropfte verhärtet von allen Seiten herab und gab ihm das Aussehen eines bärtigen Druidengottes im Urwald.

Das Kreuz war modern – ein Zeichen des neuen Glaubens – aber der Menhir blieb unverändert und starrte wie ein ewiges Wesen ruhig über das Meer hinweg. Er stand seit Jahrhunderten hier – seit wie vielen, weiß kein Mensch; aber wenige bezweifeln, daß er in undenklicher, sagenhafter Zeit errichtet worden war, als es vielleicht noch gar kein Meer, sondern nur Urwald hier gab. Alles, alles hatte sich geändert, Berge sind zerbröckelt, Wälder weggeschwemmt worden, unzählige Generationen gekommen und gegangen, das Meer ist langsam herangekrochen, alles zerstörend, das Gesicht der Landschaft verändernd, aber der Menhir hat alles überdauert und wartet ruhig der Zeit, da das Meer sich seinen Weg bis zu ihm bahnen und auch ihn verschlingen wird, wie die Ewigkeit einen Thautropfen verschlingt. Er hat allen Elementen – dem Wind, Regen, Schnee, sogar dem Erdbeben – getrotzt. Nur das Meer wird ihn überwinden.

Als sich die Verliebten dem Menhir näherten, flog ein schwarzer Habicht, der auf dem Kreuze gesessen, hoch in die Lüfte und senkte sich dann pfeilschnell in den Abgrund hinab.

»Ich habe Meister Arfoll oft sagen hören, daß dieser große Stein hier wie ein Riese aus alter Zeit aussieht, der, weil er Menschenblut vergossen, in seine jetzige Gestalt verwandelt wurde,« bemerkte Rohan nachdenklich. »Mich erinnert er eher an Lots Weib.«

»Wer ist das? Der Name kommt in unserer Gegend nicht vor.«

Marcelle war ganz ungebildet und kannte nicht einmal die Bibel. Gleich allen Bauern jener Gegend holte sie ihre Wissenschaft von den Lippen des Priesters und den Heiligenbildern. In vielen katholischen Gegenden Frankreichs ist die Bibel ein ganz unbekanntes Buch.

Rohan wunderte sich über die Unkenntnis seiner Begleiterin nicht – waren doch seine eigenen Bibelkenntnisse nur oberflächlich – erzählte ihr vielmehr mit ernster Miene: »Lots Weib floh aus einer Stadt, wo es lauter böse Menschen gab, und Gott verbot ihr, sich umzukehren; aber da alle Weiber neugierig sind, brach sie Gottes Verbot, und zur Strafe verwandelte er sie in einen Stein wie diesen, nur war er aus Salz. Das ist die Geschichte von Lots Weib.«

»Sie muß ein schlechtes Weib gewesen sein, aber die Strafe war doch zu hart.«

»Ich teile Meister Arfolls Ansicht, daß dieser Stein einst gelebt haben müsse. Sieh mal, Marcelle, sieht er nicht aus wie ein Ungeheuer mit weißem Bart?«

»Gott behüte!« rief Marcelle, sich rasch bekreuzigend.

»Hast du meine Mutter noch nicht von den großen Steinen in der Ebene erzählen hören? Das sollen ebenfalls verzauberte Menschen sein, die in gewissen Nächten lebendig werden, im Fluß baden und ihren Durst löschen.«

»Ach, das ist zu albern!«

»Ist es auch albern, zu behaupten, daß all die Steingesichter an unseren Kirchenwänden einst Teufeln angehörten, die den Versuch gemacht, in den geheiligten Raum einzudringen, während die erste Messe gelesen werden sollte, von Gottes Engeln aber daran verhindert und zu Stein verwandelt wurden? Ich habe das den Pfarrer oft erzählen hören.«

»Das mag vielleicht wahr sein,« bemerkte Marcelle, »aber wir vermögen diese Dinge nicht zu verstehen.«

»Glaubst du? Meister Arfoll sagt, daß auch das albern sei.«

»Meister Arfoll ist ein eigentümlicher Mensch!« entgegnete Marcelle nach kurzem Schweigen. »Manche behaupten sogar, daß er nicht an Gott glaubt.«

»Höre nicht darauf! Er ist ein guter Mensch.«

»Ich selbst habe ihn schon schlechte Dinge sagen gehört – Onkel meinte sogar, es seien Gotteslästerungen gewesen. Es ist schmachvoll – er wünschte dem Kaiser Böses, ja sogar den Tod!« sprudelte Marcelle mit zorngeröteten Wangen hervor; ihre Stimme zitterte förmlich vor Entrüstung.

»Sagte er das?« fragte Rohan nachdenklich.

»Ja; ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört! Himmlischer Vater, daß ein lebender Mensch dem guten großen Kaiser Böses wünschen kann! Wenn mein Onkel ihn gehört hätte, wäre sicherlich Blut geflossen. Mein Herz stockte, als ich ihn so sprechen hörte.«

Rohan antwortete nicht gleich; er war sich bewußt, auf gefährlichem Boden zu stehen; daher hielt er, als er endlich sprach, seine Augen krampfhaft aufs Gras geheftet: »Marcelle, es giebt viele, die so denken wie Meister Arfoll.«

»Wie meinst du das, Rohan?«

»Daß der Kaiser zu weit gegangen ist und daß es für Frankreich besser wäre, wenn er tot wäre!«

»Ah!«

»Mehr als das: besser, wenn er nie das Licht der Welt erblickt hätte!«

Marcelles Gesicht drückte Zorn und Angst aus. Kein Wunder, denn es ist fürchterlich, wenn man einen Glauben, an dem man mit Leib und Seele hängt, angreifen hört, namentlich wenn dieser Glaube eine an Wahnsinn grenzende Anbetung ist. Sie zitterte und ballte die Fäuste.

»Denkst auch du so, Rohan?« sagte sie flüsternd und trat einen Schritt zurück.

»Du bist zu voreilig, Marcelle,« entgegnete Rohan einlenkend; »ich sagte nicht, daß Meister Arfoll recht habe.«

»Er ist ein Teufel!« wetterte das Mädchen mit einer Heftigkeit, die ihr Soldatenblut verriet. »Schon oft haben solche Feiglinge und Teufel dem großen Kaiser beinahe das Herz gebrochen. Sie lieben weder Frankreich noch den Kaiser; Gott wird sie in der anderen Welt für ihren Unglauben bestrafen.«

»Vielleicht werden sie schon in dieser Welt bestraft,« sagte Rohan mit leichtem Sarkasmus, der aber von dem erzürnten Mädchen nicht beachtet wurde.

»Es ist schändlich, den guten Kaiser zu ärgern,« fuhr sie unbeirrt fort, »der sein Volk als seine Kinder liebt, der nicht stolz ist, der meinem Onkel die Hand gedrückt und ihn ›Kamerad‹ genannt hat, der für Frankreich sterben würde, dessen Namen er in der ganzen Welt berühmt gemacht hat. Er wird von allen guten Franzosen angebetet. Er ist der Nächste nach Gott, der Heiligen Jungfrau und ihrem Sohn, er ist ein Heiliger und erhaben! Ich bete jede Nacht, bevor ich einschlafe, zuerst für ihn und dann erst für meinen Onkel. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich für ihn kämpfen. Mein Onkel hat sein armes Bein für ihn geopfert – ich würde ihm mein Herz und meine Seele opfern!«

Ihr Gesicht glühte vor Begeisterung, sie hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet. Rohan blickte stumm vor sich nieder. Plötzlich blieb sie stehen, blitzte ihn mit einem mehr zornigen als liebevollen Blick an und fragte mit harter Stimme: »Sprich, Rohan, bist auch du gegen ihn? Hassest du ihn?«

»Gott behüte! Ich hasse überhaupt niemanden. Aber weshalb fragst du?« entgegnete Rohan zitternd und den Augenblick verwünschend, da er dies heikle Thema angeschlagen.

»Weil ich dann dich hassen würde, wie ich alle Feinde Gottes und des großen Kaisers hasse!« rief sie erblassend.

Rohan war unter ihren heftig hervorgestoßenen Worten wie unter Peitschenhieben zusammengezuckt und einen Augenblick keiner Antwort mächtig. Sie standen im Schatten des Menhir. Kaum einige Schritte von ihnen entfernt, dicht am Rande einer Klippe, stand eine Gestalt, die in der klaren, fast durchsichtigen Luft übermenschlich groß erschien. Unheimlich mager, fast wie ein Skelett, mit vorgebeugten Schultern, schneeweißem, wallendem Haupthaar, dünnen, langen Beinen und Armen, stand sie bewegungslos, wie zu Stein erstarrt, da.

»Sieh doch, Marcelle,« flüsterte Rohan, endlich seiner Sprache mächtig, »da steht Meister Arfoll in eigener Person.«

Das Mädchen wich zurück. In ihrem Antlitz spiegelte sich noch immer die Entrüstung, von der sie vorhin übermannt worden. Rohan nahm ihren Arm und zog sie mit sich fort, ihr Liebesworte ins Ohr flüsternd. Sie gab nach, vermochte aber nicht, ihren Mißmut ganz zu unterdrücken.

Ihre Fußtritte veranlaßten den in tiefe Gedanken versunkenen Mann, aufzublicken und ihnen sein Antlitz zuzuwenden. Sah schon seine Gestalt geisterhaft genug aus, wie erst sein Gesicht mit dem langen Oval, den zahllosen Runzeln, der mächtigen gebogenen Nase, den schmalen, blutleeren Lippen und Wangen! Nur die großen schwarzen Augen mit dem unheimlichen, unruhigen Ausdruck und dem wilden Feuer verliehen diesem Gesicht Leben. Der Mann machte den Eindruck, als ob er eben von den Toten auferstanden wäre.

Als er Rohan erkannte, verklärte ein glückseliges Lächeln sein Gesicht und verschönte es förmlich, aber so rasch wie es gekommen, verschwand es auch wieder und machte dem abgespannten Ausdruck Platz.

»Rohan!« rief er mit klarer, melodischer Stimme. »Und meine hübsche Marcelle!«

Rohan lüftete seinen Hut ehrerbietig wie vor einem Höhergestellten, während Marcelle noch immer ihre Zurückhaltung bewahrte, schuldbewußt errötete und sich nicht rührte.

Von diesem Manne ging etwas aus, das sie wie alle anderen mit Scheu erfüllte. In seiner Abwesenheit mißfiel er ihr entschieden, sie mochte ihn nicht leiden; befand sie sich aber in seiner Nähe, so übte er auf sie, wie auf alle Menschen, einen unwiderstehlichen Zauber aus, dem sie sich nicht entziehen konnte. Meister Arfoll war – das zeigte schon seine zerschlissene Kleidung – arm wie eine Kirchenmaus, dabei sehr unbeliebt, und doch besaß er jene magnetische und dämonische Macht, die Goethe an Bonaparte entdeckt zu haben glaubte und die er als – ob gut oder schlecht angewandt – für alle machtvollen Individualitäten charakteristisch bezeichnete.

Meister Arfoll war ein Wanderschullehrer, der unterrichtend von Ort zu Ort, von Gehöft zu Gehöft zog. Rohan gehörte zu seinen vielen Schülern. Gar oft hatte er seinen Lehren gelauscht – bei schönem Wetter auf der Wiese, bei schlechtem in einer stillen Küstenhöhle. Arfoll war ein Träumer und hatte auch den Knaben träumen gelehrt. Er besuchte nie eine Kirche und betete nur in Gottes freier Natur, deren größter Bewunderer er war; er plaidierte für vollkommene Religionsfreiheit, und doch lehrte er kleine Kinder die Bibel lesen – dieses Buch der Bücher, wie er sagte. Gar mancher Priester, gar mancher Soldat nannte ihn Freund, und doch haßte er nichts so sehr wie kirchliche Ceremonien und Feldschlachten. Kurz und bündig: er war ein Ausgestoßener, sein Bett die Erde, sein Dach das Himmelszelt, aber er war von der Heiligkeit der Natur erfüllt und irrte wie ein ruheloser Geist von Ort zu Ort, heiligend und geheiligt.

Seit seinem letzten Besuch in der Gegend waren bereits einige Monate verflossen; deshalb erregte sein plötzliches Erscheinen Staunen.

»Sie sind ein seltener Gast, Meister Arfoll,« bemerkte Rohan, nachdem sie sich die Hände gereicht.

»Ich bin diesmal recht weit fortgewesen – bis Brest,« lautete seine Antwort. »Ach, meine Reise war eine sehr, sehr traurige: in jedem Dorfe habe ich Rachel um ihre Kinder weinen gesehen. Große Veränderungen sind vor sich gegangen und wir haben noch größere zu erwarten, mein Sohn. Ich bin zurückgekehrt und finde den Menhir unverändert. Nichts ist bleibend als der Tod, nur dieser ist ewig.«

»Sie bringen also böse Nachrichten, Meister Arfoll?« fragte Rohan bestürzt.

»Woher sollte ich gute bringen? Ach, meine Kinder, ihr seid noch jung und begreift noch nicht den Jammer der Welt. Sagt mir, warum soll gerade dieses kalte, leblose Ding bleibend sein,« fuhr er, abermals auf den Menhir deutend, fort, »wenn Menschen, Städte, Wälder, Berge und Flüsse, Götter auf ihren Thronen und große Herrscher auf den ihrigen vergehen und kein Zeichen zurücklassen, daß sie je gewesen? Vor tausend und abertausend Jahren floß Blut auf diesem Stein, Menschen sind darauf geopfert worden, und dieselbe Geschichte wiederholt sich heute noch – Menschen werden noch immer geopfert.«

Er sagte dies in leisem, traurigem Tone, als ob er mit sich selbst spräche. Und jetzt bemerkten die zwei jungen Menschenkinder erst, daß er ein Buch in der Hand hielt, aus dem er gelesen hatte – eine alte Bibel in der Bretagner Mundart, aus der er zu lehren pflegte.

Alle drei schritten jetzt fürbaß nebeneinander her, bis sie das Ende des grünen Plateaus erreichten. Tief unter ihnen, fast am Meeresrande, lag Kromlaix ausgebreitet mit seinen blau und weiß getünchten, mit Schindel- und Steindächern bedeckten Häusern. Zwischen diesen zerstreut erhoben sich auch einige aus alten Fischerbooten errichtete und mit Stroh bedeckte ärmliche Hütten, die zumeist nur als Aufbewahrungsort für Netze, Segel, Ruder und andere zum Fischfang nötige Dinge dienten oder als Kuhställe verwendet wurden, aber manche waren doch auch von armen Familien bewohnt.

Das Dorf liegt dicht am wilden Ocean gebettet; seine Wasser kriechen unterirdisch meilenweit landeinwärts, bis sie endlich in die grünen, salzigen Pfützen sprudeln, die die öden, melancholischen Sümpfe von Ker Léon bilden. Es ist ein einsames Dorf, meilenweit von anderen entfernt und täglich den Stürmen ausgesetzt, die ihm Vernichtung bringen können. Soweit das Auge blickt, nichts als eine endlose Wasserfläche und eine zerrissene, zerklüftete Klippenwelt, welcher Sturm und Wasser die phantastischsten und überwältigendsten Gestalten verliehen haben. An stürmischen Tagen macht es einen ganz traurigen und düstern Eindruck. Zur Zeit aber, da Arfoll und die beiden jungen Leute hinunterblickten, atmete die ganze Gegend Frieden und Heiterkeit. Um die Boote herum spielten Kinder; Männer lungerten in Gruppen von zweien und dreien im Sande, ihr Pfeifchen rauchend oder Netze flickend. Der Rauch stieg aus den Schornsteinen kerzengerade zum Himmel empor, und dieser leuchtete im hellsten Blau. Alles war still, und man glaubte das Dorf atmen zu hören wie ein schlafendes Wesen. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich die vom Friedhof umsäumte rotgranitene Dorfkirche, deren Turm mit grünen Moosen überrankt war, das Dach glitzerte von dem vom Meere heraufgewehten Salzreif.

»Wenn der Stein dort drüben reden könnte, welch schreckliche Geschichte würde er erzählen!« sagte Meister Arfoll, in die Tiefe blickend. »Es gab eine Zeit, da sich in der Runde ein mächtiger Urwald ausdehnte und ein tiefer Fluß das Thal durchschlängelte. Eine große, blühende Stadt erstreckte sich an seinen Ufern und das Volk betete seltsame Götter an.«

»Ich habe schon den Curé davon erzählen hören,« bemerkte Rohan. »Wie merkwürdig! Man sagt auch, wer in der Weihnacht lauscht, könne unter dem Wasser die Glocken läuten und die Toten durch die Straßen ziehen hören. Die alte Brieux, die vergangene Weihnachten starb, erzählte vor ihrem Tode, daß sie all das gehört habe.«

»Das ist Altweibergeschwätz, Aberglaube! Die Toten schlafen,« entgegnete der Wanderlehrer, traurig lächelnd.

Dieses Lächeln empörte die abergläubische Marcelle; sie nahm ihren Mut zusammen, um die alten Überlieferungen zu verteidigen: »Sie glauben's nicht, Meister Arfoll? Leider glauben Sie sehr vieles nicht. Mutter Brieux war eine gute, fromme Frau und pflegte nie zu lügen.«

»All das ist Aberglaube, und der Aberglaube ist eine böse Sache,« lautete Arfolls ruhige Antwort. »In der Religion, in der Politik, in allen Angelegenheiten des Lebens ist der Aberglaube ein Fluch, mein Kind! Er veranlaßt die Menschen, die sanften Toten, Phantome und die Dunkelheit zu fürchten, und er veranlaßt sie, böse Herrscher und böse Thaten zu dulden, weil sie in ihnen ein böses Fatum sehen. Der Aberglaube hält schlechte Könige auf ihren Thronen, bedeckt die Erde mit Blut und bricht denen, die ihre Art wahrhaft lieben, das Herz. Siehst du, mein Kind, der Aberglaube kann einen schlechten Menschen in einen Gott verwandeln und bewirken, daß alle Menschen ihn anbeten und für ihn sterben, als ob er wirklich göttlich wäre.«

»Das ist wahr,« sagte Rohan mit einem ängstlichen Blick auf Marcelle; dann, als ob er den Lehrer von dem Thema ablenken wollte: »Es ist doch sicher, daß die große Stadt einst da unten gestanden hat?«

»Wir wissen es durch verschiedene Zeichen. Man braucht nicht einmal tief zu graben, um ihre Spuren zu entdecken. Ach ja, die Stadt stand da unten mit ihren Marmorpalästen, ihren goldenen Tempeln, ihren ungeheuren Bädern und Theatern, den Statuen ihrer Götter, und sie muß bei hellem Sonnenschein ebenso geleuchtet haben, wie jetzt Kromlaix von unten heraufleuchtet. Damals war der Fluß ein wirklicher Fluß und weiße Villen standen an seinen Ufern, Blumen und Obstbäume dufteten in den Gärten. Unser Menhir stand schon damals auf seinem Platze und sah die ganze Herrlichkeit, aber auch all das Böse, denn die Stadt ward, gleich unseren Städten, mit Menschenblut erbaut. Alle Bürger nahmen teil an den Metzeleien auf Erden, jeder Mann trug ein Schwert an der Seite und Blut klebte an seinen Händen. Gott zürnte ihnen und ihre Steingötter konnten sie nicht retten. Diese alten Römer waren Wölfe in Menschengestalt! Sie waren die Kinder Kains! Endlich riß die Geduld Gottes und er fegte sie wie Unkraut von der Erde. Er erhob seinen Finger, und das Meer kam, verschlang die Stadt und bedeckte sie mit Felsen und Sand. Männer, Frauen und Kinder wurden in einem Riesengrab begraben und dort schlafen sie alle –«

»Bis zum jüngsten Gericht!« fiel ihm Marcelle feierlich ins Wort.

»Sie sind bereits gerichtet,« lautete Arfolls Antwort. »Ihr Urteil war gesprochen und hat sich erfüllt, jetzt schlafen sie. Es ist nur ein Aberglaube, daß sie aus ihrem Grabe auferstehen werden.«

Marcelle wollte etwas entgegnen, aber das große Wort »Aberglaube« machte sie verstummen. Sie hatte nur einen dunklen Begriff seiner Bedeutung, aber es erfüllte sie doch immer mit banger Scheu. Es war ein Lieblingswort, sozusagen ein Schlagwort des Wanderschullehrers, und er gebrauchte es in einer verwirrenden Weise, um alle möglichen Ideen und Zustände damit auszudrücken.

Rohan sagte wenig oder gar nichts. In Wirklichkeit war er über den feierlichen Ton, in dem Meister Arfoll das Gespräch führte, höchlich erstaunt, denn er kannte auch die heitere und sanftere Seite seines geschätzten Lehrers, den er nur sehr selten so ernst und traurig gesehen wie heute. Er war überzeugt, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein müsse und daß Arfoll sich nur nicht in Gegenwart Marcelles aussprechen wolle.

Sie stiegen jetzt den Abhang, der zum Dorfe führt, hinab. Marcelle war einige Schritte zurückgeblieben, während Rohan sich an der Seite des Wanderlehrers hielt – in der Absicht, dessen Mißstimmung zu ergründen.

»Was hast du da gelesen, Rohan?« fragte Arfoll, dessen Blick zufällig das Buch gestreift, welches sein Zögling in der Hand hielt.

Rohan reichte ihm den zerschlissenen Band. Es war eine französische Tacitus-Übersetzung mit dem lateinischen Urtext. Das Buch trug das Datum des Revolutionsjahres und war in irgend einem verborgenen Keller des unter dem Sturm zitternden Paris gedruckt worden.

»Wozu liesest du das?« rief der Lehrer erbittert, obgleich er selbst Rohan in den Geist dieser Litteraturgattung eingeweiht hatte. »Da findest du kaum etwas anderes zu lesen als von Blut, Schlachten und dem Gestöhn der Völker unter dem Druck der Throne! Ach Gott, das ist fürchterlich! Sogar in diesem Buche hier, das die Menschen ›Gottes Buch‹ nennen« – dabei hielt er die alte Bibel in die Höhe – »wiederholt sich dieselbe Geschichte, wir hören denselben wahnsinnigen Aufschrei der geopferten Menschen. Ja, Gottes Buch ist blutig, wie es Gottes Erde ist!«

Marcelle schauderte. Was der Lehrer da sagte, war ja Blasphemie. »Meister Arfoll,« stotterte sie; aber seine großen Augen waren ins weite gerichtet, er hörte nicht, daß sie sprach, sondern fuhr klagend fort: »Seit dem Urbeginn des Menschengeschlechtes wütet diese wilde Gier, zu morden und Blut zu vergießen, dieser Kriegsdurst und Ruhmeswahn. Weiß man es, ob jener große Stein dort drüben nicht den Geist eines mächtigen Mörders aus alten, alten Zeiten birgt, eines Kain, der, zu Stein erstarrt, doch noch das lebendige Bewußtsein empfindet, zu sehen, welchen Wert der Ruhm hat, zu beobachten, wie Königreiche von der Erde verschwinden, Könige und ihre Völker hinweggefegt werden, wie welke Blätter vom Winde?! Das ist Aberglaube, ich weiß es; aber wenn es nach meinem Willen ginge, ich würde jeden Tyrannen so bestrafen. Ich würde ihn zu Stein verwandeln und als warnendes Zeichen hinstellen! Er sollte alles sehen und hören! O, dann gäbe es keine Kriege mehr, denn es gäbe keine Kains, die sie heraufbeschwören und die Menschheit zum Wahnsinn treiben!«

Marcelle begriff den Sinn seiner Rede nur halb, aber das Soldatenblut in ihr empörte sich. Sie würdigte Arfoll keiner Antwort, sondern wandte sich mit zornfunkelnden Blicken an Rohan: »Nur Feiglinge fürchten den Krieg. Mein Onkel Ewen war ein tapferer Soldat und hat sein Blut für Frankreich vergossen und dafür eine schöne Medaille vom großen Kaiser bekommen. Frankreich ist ein großes Land und nur seine gegen die Feinde geführten Kriege haben es so mächtig und berühmt gemacht. Die bösen Menschen, die sich gegen den Kaiser auflehnen, weil er gut und mächtig ist, die sind an den Kriegen schuld; ihn darf man dafür nicht verantwortlich machen.«

Arfoll hörte jedes Wort und lächelte traurig vor sich hin. Er kannte die Verehrung dieser Bauernmaid für den Kaiser; er wußte, daß sie gewöhnt worden war, ihn nächst Gott als das erhabenste Wesen zu betrachten. Ohne ihr Idol anzutasten, fragte er mit dem ihm eigenen überlegenen sanften Lächeln, dem man nicht leicht widerstehen konnte: »Das sagt dein Onkel Ewen, nicht wahr? Jawohl, Onkel Ewen ist ein tapferer Mann, aber willst du, meine kleine Marcelle, wissen, was der Krieg ist? Blick' mal dorthin!« Dabei deutete er landeinwärts, und daß Mädchen folgte der Richtung seiner Hand.

Weit hinten an der Biegung einer Hecke erhob sich eine verlassene Kalvarie, so zerbrochen und verstümmelt, daß nur ein mit der Gegend vertrautes Auge wahrnehmen konnte, was das Ding vorstellte. Der Kopf und die Beine des Gekreuzigten fehlten, nur der Rumpf und ein Arm waren unversehrt. Auf dem Boden wucherten hoher Ginster, Brennesseln und anderes Unkraut. Aber obgleich zerstört und zerbrochen, beherrschte das Christusbild die wilde Landschaft ringsum und verlieh ihr ein noch wilderes und verlasseneres Aussehen.

»Siehst du, mein Kind, das ist der Krieg!« erklärte Meister Arfoll feierlich. »Unsere Landstraßen sind mit den Steinköpfen unserer Heiligen und den Marmorbeinen des Heilands bedeckt, das Evangelium der Liebe ist verloren, Christus, der Gott der Liebe, vergessen, die Welt ein Schlachtfeld, Frankreich ein Beinhaus und – du hast recht, mein Kind! – der Kaiser ein Gott!«

Marcelle blieb die Antwort schuldig, ihr Herz war von Entrüstung erfüllt, aber sie fühlte sich ihrem Gegner nicht gewachsen. »Das ist Verrat,« dachte sie im stillen, »und wenn der Kaiser ihn hörte, würde er ihn sicherlich töten lassen!« Verstohlen blickte sie in das kummervolle Antlitz des Wanderlehrers und ihr Zorn machte sofort aufrichtigem Mitleid Platz. »Die Leute haben recht, sein einsames Leben und die Sorgen scheinen seinen Verstand ein wenig getrübt zu haben. Armer Meister Arfoll! Man kann ihm nicht zürnen!«

Mittlerweile hatten sie das äußerste Ende des Dorfes erreicht; ein schmaler Fußpfad führte zur Kirche, hier gab Marcelle ihrem Vetter ein stummes Zeichen, indem sie mit einem Seitenblick auf den Wanderlehrer seine Hand leicht drückte, und schlich sich davon.

Arfoll bemerkte ihre Abwesenheit nicht, sein Herz war schwer, sein Hirn arbeitete geschäftig und er blickte gedankenvoll zu Boden.

»Meister Arfoll, sagen Sie mir, was geschehen ist! Marcelle hört uns nicht mehr. Ich fürchte, es muß etwas Entsetzliches sein!« störte ihn Rohan aus den Grübeleien.

»Sei doch nicht so ungeduldig, böse Nachrichten zu hören, mein Sohn! Ein Sturm bereitet sich vor – ein Gewittersturm.«

»Ein Gewittersturm?«

»Ja, ein Erdbeben – die Vernichtung! Der russische Schnee hat noch nicht genug Opfer gefordert, auch die Gewässer des Rheins müssen uns noch verschlingen! Wir stehen am Vorabend einer neuen Konskription,« erklärte Arfoll düster.

Rohan erbebte, denn er wußte, was das zu bedeuten habe.

»Und diesmal wird es, mit Ausnahme der Familienväter, keine Befreiungen geben. Halte dich bereit, mein Sohn, diesmal werden sie auch die einzigen Söhne nehmen.«

Rohan stockte das Blut, ein neues, namenloses Entsetzen erfaßte ihn. Aufblickend sah er die zerbrochene Kalvarie wie ein Zeichen des Jammers und der Vernichtung emporragen. Er öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, da ging das Friedhofsthor auf und » Monsieur le curé« trat mit seinem Brevier unter dem Arm und der stark angerauchten Meerschaumpfeife im Munde heraus.


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