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Wir wollen nun wieder zu den goldenen Thälern zurückkehren, in welchen der blutige Kampf der Armeen sich abspielte, in den Wald, wohin sich der Ausgestoßene verkrochen hatte. Der Mann hoch zu Roß war Napoleon. Als er den Gipfel des Hügels erreicht hatte, stieg er ab und blickte gespannt in die Richtung von Ligny. Es regnete noch immer in Strömen. Er war in einen abgetragenen Soldatenmantel gehüllt, der Dreimaster saß ihm tief im Gesicht, die Beine steckten in hohen Stiefeln; die Hände über den Rücken gefaltet, den Kopf zwischen die Schultern gesenkt, stand er in Gedanken versunken da – sein Gefolge dicht hinter ihm.
Unten dauert das Bombardement fort: mit einem Mal hört es auf, Napoleon horcht eine Weile gespannt, dann beginnt er unruhig auf und ab zu gehen, bis er auf der Landstraße einen Reiter erblickt, der im rasenden Galopp, als gälte es das Leben, dahergesprengt kommt. Im nächsten Augenblick steht er vor dem Kaiser und überreicht ihm eine Depesche. Er liest sie, sein sorgenvolles Antlitz erhellt sich, er spricht mit seinem Gefolge, das ihn umringt, begeistert die Schwerter zieht und in den Ruf » Vive l'Empereur!« ausbricht! Die Preußen ziehen sich von Ligny zurück, der erste Sieg ist erfochten!
Der Kaiser geht zu Fuße langsam den Hügel hinab.
Als es wieder still geworden, kriecht Rohan aus seinem Versteck hervor, er zittert und fröstelt wie im Fieber, seine Augen flammen wilder denn zuvor und verfolgen die Gruppe am Fuße des Hügels. Er schleicht sich wie eine Katze den Hügel entlang, dann rennt er wie ein Reh durch den dichten Wald, ohne jemandem zu begegnen. Vor einem großen Gebäude, das sich in einer Lichtung erhebt, bleibt er stehen. Es ist eines jener antiken Landhäuser, die man in Belgien so häufig findet – ein seltsam gegiebeltes großes Wohnhaus, das von Scheunen, Wirtschaftsgebäuden und Obstgärten umringt ist. Aus keinem der vielen Fenster dringt ein Lichtstrahl und es scheint augenblicklich unbewohnt.
Rohan steht in der offenen Thüre und blickt den Hügel hinab, sein scharfes Ohr vernimmt Pferdegetrappel, und noch ehe das Kavalleriecorps auf dem Schauplatz erscheint, ist er hinter der Thüre verschwunden.
Drinnen ist's finster, aber er schreitet durch eine große Küche in ein noch größeres Gemach, das spärlich durch zwei Fenster beleuchtet wird. In der Mitte steht eine Leiter, die auf einen luftigen Heuboden führt. Das Zimmer ist altmodisch, aber bequem eingerichtet, auf dem Tische liegt ein Stück Brot und etwas grober Käse. Große schwarze Balken stützen das Dach. Rohan hat nicht lange Zeit, sich umzusehen, denn Fußtritte nähern sich dem Zimmer. Rasch wie der Blitz klettert Rohan die Leiter hinan und verschwindet in der dunkeln Dachkammer.
Ein Offizier tritt, mit einer brennenden Lampe in der Hand, ein. Er sieht sich neugierig in dem großen Gemach um, ißt lachend ein Stück von dem Brote, dann erteilt er rasch einige Befehle. Soldaten bringen Holz herein und entzünden im Kamin ein Feuer. Abermals ertönt Pferdegetrappel, sodann Kommandorufe. Das Gebäude ist auf allen Seiten von Soldaten umringt, das Zimmer beginnt sich allmählich zu füllen. Draußen regnet es noch immer in Strömen. Jetzt tritt ein Diener mit einer kleinen silbernen Lampe ein und zieht die mottenzerfressenen Vorhänge vors Fenster; die Leute sprechen mit leiser Stimme, als ob ein Vorgesetzter anwesend wäre. Plötzlich geht die Thüre auf und Napoleon schreitet, den Hut in der Hand, über die Schwelle. Er wirft den durchnäßten Mantel ab und steht in einfacher Generalsuniform vor dem Kamin, wo er sich die Hände wärmt. Man bringt ihm Brot und Wein, er ißt und trinkt nur wenig, dann erteilt er mit klarer fester Stimme einige Befehle und wünscht allein gelassen zu werden. Das Gefolge entfernt sich ehrerbietig und schließt die Thüre hinter sich.
Er ist allein in dem großen Gemach; über seinem Haupte dehnen sich die schwarzen Sparren, auf denen grelle Schlaglichter des gegenüber lodernden Feuers tanzen. Ringsum herrscht eine solche Stille, daß man jeden Regentropfen gegen das Fenster klatschen hört. Obgleich das Gebäude von Truppen umringt ist, hört man kaum einen Laut. Mit vorgeneigtem Haupt, die Hände über dem Rücken gefaltet, durchmißt Napoleon das Gemach – nicht ahnend, daß ein flammendes Augenpaar von der Bodenöffnung her jede seiner Bewegungen beobachtet. Draußen strömt der Regen und heult der Wind; aber Napoleon ist so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er nichts hört als die Stimmen seines Innern. Was mögen ihm diese zuflüstern? Vor seinem geistigen Auge ziehen ungeheure Armeen vorbei, die gleich den Sturmwolken einem höheren Willen gehorchen. In der Ferne erheben sich brennende Städte, gleich dem ewiglodernden Höllenfeuer; dumpfer Kanonendonner mischt sich mit dem Gebrause der Brandung des Meeres der Ewigkeit, das an einer gestirnten Küste donnert. Dies ist die Nacht der Nächte, in welcher die Stimme Gottes in dem steinernen Herzen dieses Mannes laut wird und ihn an sein nahendes Verderben mahnt! Seht, wie er seine Adleraugen beschattet, um die furchtbaren Visionen zu verscheuchen! Es ist Nacht, stockfinstere Nacht und er ist allein, allein mit den Geistern der von ihm Gemordeten! Er fühlt sich, trotzdem er weiß, daß seine Kreaturen im anstoßenden Zimmer über ihm wachen und daß das Haus von Truppen umringt ist, einsam und verlassen. Wie eine wilde Bestie ihren Käfig, durchmißt er unruhig das Zimmer.
All seine Pläne sind gereift, seine Befehle erteilt, er will nur noch ein paar Stunden ruhen, ehe er dem Siege zueilt, nach dem seine unersättliche Seele dürstet. Sieg? Ach ja, sein Glücksstern wird ihn nicht verlassen, wird mit seinem Glanz alle Feinde blenden! Er wird sich wie ein Racheengel erheben, mächtiger und furchtbarer als bisher! Die Feinde glauben ihn in ihren Netzen gefangen zu haben, aber sie werden sich täuschen!
Der kleine große Mann tritt ans Fenster und starrt ins Dunkel hinaus, jetzt hört er deutlich die Schritte der auf und ab marschierenden Schildwache; das für die Nacht ausgegebene Losungswort wird von der kommenden und der gehenden Ordonnanz gewechselt. Er sieht und hört das alles wie im Traum, dann zieht er den Vorhang wieder zu und marschiert rastlos durchs Zimmer. Man klopft an die Thüre, er ruft mit leiser, klarer Stimme: »Herein!«
Eine Ordonnanz überreicht ihm ein Schriftstück; er reißt es auf, überfliegt es hastig und erteilt den Befehl, ihn, falls nicht sehr wichtige Nachrichten eintreffen sollten, in den nächsten zwei Stunden nicht zu stören, da er schlafen wolle. Die Thüre schließt sich sanft und Bonaparte ist wieder allein. Er liest das Schriftstück noch einmal aufmerksam, wirft es dann auf den Tisch, lockert seine Krawatte und nähert sich dem vor dem Kamin stehenden großen Lehnstuhl. Großer Gott, was ist das? Er ist auf die Kniee gesunken!
Um zu beten? Er?!
Ja! Hier im Dunkel der Nacht, überzeugt, daß kein menschliches Auge ihn sieht, kniet er heimlich nieder, bedeckt seine Augen und – betet. Nicht lange – schon nach einer Minute erhebt er sich, sein steinhartes Gesicht ist merkwürdig verwandelt, es ist weich und ruhig, die Sorgenfalten sind verschwunden. Wie weise war doch der Heiland, als er sagte, die Bösen seien wie arme blinde Kinder; sie wissen nicht, was sie thun …
Bonaparte sinkt erschöpft in den Lehnstuhl und schließt die Augen.
Um zu schlafen? Kann er, auf dessen Haupt das Schicksal von Königreichen ruht, in dieser Nacht schlafen? O ja, und zwar so leicht und fest wie ein neugebornes Kind! Kaum hat er die Augen geschlossen, als er auch schon fest schläft. Sein Kopf ist auf die Brust gesunken, er sieht bleich und fahl aus wie ein Toter. All die heftigen Leidenschaften, die Sorgen, die ihn wachend niederdrückten, sind aus seinen Zügen verschwunden; er scheint seine Kraft abgeworfen zu haben, wie ein Gewand, das er nur am Tage trägt. Großer Gott, wie alt, wie mitleiderregend alt und gebrochen sieht er aus! Das soll der Mann sein, der der halben Welt wie ein Gott erschien, der die Engel des Zornes ausschickte, um die Erde zu verwüsten und mit Menschenblut zu überschwemmen, der wie ein Schatten zwischen der Seele der Menschheit und der Sonne Gottes stand und mit einem Schlage Kaiser- und Königreiche wegfegte! »Gott giebt jenen, die er liebt, den Schlaf!« heißt es. Und jenen, die er nicht liebt? Ebenfalls! Dieser grauhaarige, alte, gebrochene Mann ist Napoleon und er schläft sanft und traumlos wie ein Kind! Und in allen Ecken und Enden der Welt wälzen sich arme, sündige, von Gewissensbissen geplagte Menschenkinder, die, vielleicht von Leidenschaft und Zorn hingerissen, ein Menschenleben vernichtet haben, schlaflos auf ihren Kissen! Napoleon hat brusttief in Blut gewatet und doch schläft er wie ein Kind!
Das Feuer im Kamin ist fast herabgebrannt, die Lampe auf dem Tisch brennt niedrig, dort oben über dem schwarzen Balken schleicht etwas, nun kriecht es vorsichtig die Leiter hinab; der Kaiser stöhnt im Schlaf, die schattenhafte Gestalt kauert sich einen Augenblick am Fuße der Leiter nieder. Nun ist's wieder still und sie schleicht mit nackten Füßen bis dicht an den Schläfer heran, in ihrer Rechten blitzt ein bajonettartiges Messer, wie es die Jäger in den Ardennen tragen. Die Augen blitzen von Mordlust – wehe dem Schläfer! Er tritt ganz dicht zu ihm heran. Der Anblick des Schlafenden scheint seinen leidenschaftlichen geistigen Hunger zu stillen, er neigt sich immer tiefer zu ihm hinab, schon streift sein Atem die bleichen eingefallenen Wangen. Er richtet das Messer auf das Herz des Schläfers; dieser bewegt sich unruhig, erwacht aber nicht, denn er ist von den Strapazen des Tages zu erschöpft. Wenn er wüßte, wie nahe ihm der Tod ist! Er hat den Gipfel irdischen Ruhmes erklommen, er hat alle Könige der Erde gefesselt an den Füßen seines Thrones und nun soll dies das Ende sein? Von dem Stahl eines Meuchelmörders im Schlafe ins Jenseits befördert zu werden? …
Im Vorzimmer rührt es sich, die Wache ruft » Qui vive?« dann ist's wieder still.
Geist des Lebens, der du in den Lüften schwebst, umhülle die beiden Menschenkinder in dem stillen Gemach mit deinem Atem, denn aus dir sind sie erschaffen und zu dir werden sie zurückkehren! Wer von den beiden ist jetzt kaiserlich? Die Riesengestalt, die mit dem Ausdruck eines Wahnsinnigen das Messer zum Stoße ausholt oder der gebrechliche Kleine, der den Todesstoß empfangen soll? Welches von diesen beiden Menschenkindern, die jetzt dieselbe Luft atmen, ist Abel und welches Kain? Der Blick Kains lagert in dem Antlitz des Aufrechtstehenden, der Blick Kains, als er den Altar umstürzte und sich im Angesicht Gottes anschickte, seinen lammfrommen Bruder Abel niederzustoßen!
Wie fest der Kaiser schläft! Im fahlen Lampenlicht sieht der Mörder die feinsten Linien dieses scharfgeschnittenen Gesichtes, er studiert sie förmlich. Aber nichts wirklich Majestätisches prägt sich darin aus; müde und abgespannt, wie ein schlafender Bauer, sitzt Napoleon in dem Stuhl, die eine Hand ruht auf der Lehne, sie ist weiß und klein, wie die eines Weibes. Und doch, ist dies nicht die Hand, die Christus und die Heiligen niedergeschmettert und vor dem Schreine Gottes Blut vergossen hat? Ist dies nicht die Hand Kains, der seinen Bruder erschlug?
Stoß zu, Mörder! Die Stunde der Vergeltung hat geschlagen! Du hast ja zu Gott und zu unserer »Lieben Frau vom Hasse« gebetet, daß diese Stunde kommen möge! Gott hat deinen Todfeind und den deines Stammes in deine Hand gegeben, stoß zu, stoß zu! Du zögerst? Denke doch an Jena, Eylau und Moskau; denke an die Beresina mit ihren 40 000 Toten! Denke doch an die Tausende und Tausende, die in dem großen Schnee schlafen! Stoß zu, stoß zu!
Zweifelst du vielleicht, daß er es ist, den du so lange gesucht? Deine Hand zittert, dein Auge blickt unruhig und doch hungert deine Seele! Du kamst hierher, um einen Schatten zu finden, ein Götzenbild wie jene schwarze Statue im Innern der Erde. Aus der Entfernung erschien dir Napoleon ungeheuer, widernatürlich, übermenschlich, eine üble Vorbedeutung mit dem Antlitz eines Teufels! Diesem bist du Tag und Nacht gefolgt, um ihn niederzuringen und nun bist du entwaffnet, denn du hast nur einen elenden, blassen, erschöpften Sterblichen gefunden!
Denk' an all deine Qualen, an die schlaflosen Nächte, die du verbracht, an dein verpfuschtes Leben, an deine erstorbene Liebe, an deine unglückliche Mutter! Stoß zu! Er kennt kein Mitleid, kenne auch du keines! Denke daran, daß dieses eine Wesen der ganzen Erde den Frieden raubt. Mit seinem Erwachen erwachen Krieg, Hunger und neues Gemetzel! Stoß zu, stoß zu!
Der Schläfer bewegt sich im Schlafe und lächelt; o dieses Lächeln, es entwaffnet dich vollends! Du bist nicht aus dem Stoffe gebildet, aus dem Meuchelmörder gemacht werden. Obgleich dein Hirn vom Wahnsinn getrübt ist, wohnt in deinem Herzen die Liebe. Du kamst hierher, um zu morden, aber du kannst es nicht, ja, du bringst es nicht einmal über dich, dieses gebrechliche Menschenkind zu hassen. Gott hat es aus demselben Stoff wie dich geschaffen; es ist blutbefleckt, aber es bleibt doch Gottes Kind! Vielleicht, wenn der Kaiser nicht gebetet hätte, ehe er sich zu schlafen anschickte, hättest du's vollbringen können! Aber er hat gebetet und sein Antlitz ist in jenem Augenblick erhaben gewesen. Willst du morden, was Gott mit seinem Schlaf geheiligt hat? Weil dieses Geschöpf sich gegen die Naturgesetze vergangen hat, willst du dasselbe thun? Nein! Du hast ihn gesehen, du kennst ihn jetzt und das genügt dir – überlasse ihn Gottes Hand … Amen! Du kannst das beruhigt thun – heißt es doch: »Die Rache ist mein, ich will vergelten!« Hinweg, du armes, gehetztes Menschenkind! Aber ehe du gehst, blicke noch einmal zurück, der Friede ist aus dem schlafenden Antlitz gewichen, ein inneres Feuer brennt auf den bleichen Wangen. – – – Er, der kein Mitleid für seine Nebenmenschen kannte, wird bald verlassen und vereinsamt sein, er wird all die Seelenqualen durchkosten, die dich der Verzweiflung und dem Wahnsinn zugetrieben haben. Überlasse ihn Gottes Hand und gehe deiner Wege – – –
Das Messer blitzt nicht mehr in seiner Hand, mit nackten Füßen schleicht sich der Mann zum Fenster. Einen Augenblick bleibt er zitternd stehen, wie jemand, den man eben bei den Haaren aus dem Wasser gezogen; dann zieht er rasch den Vorhang zurück, stößt das Fenster auf und verschwindet in der Dunkelheit.
Draußen wird es plötzlich laut, Schritte ertönen, ein Schuß kracht, dann wird es wieder still. Der Mann ist lautlos, wie er gekommen, verschwunden.
Mittlerweile ist der Schläfer erwacht und aufgesprungen. Er blickt zitternd in dem Gemach umher. Zu seinen Füßen blitzt das große Weidmesser, aber er sieht es nicht und ahnt nicht, welcher Gefahr er eben entronnen. Sein besorgtes Gefolge sieht das Fenster offen und begreift nicht, wessen Hand es geöffnet; der Held von hundert Schlachten erbebt, denn er ist abergläubisch und findet für dieses Rätsel keine Erklärung.
Aber nun heißt's die Pferde besteigen. Er hat zu lange geruht, Trommeln und Trompeten erschallen, sein schwerer Reisewagen rollt durch die Dämmerung. Napoleon ist in Gottes Hand! Dicht vor ihm erhebt sich, seinen Glücksstern verdunkelnd, der blutrote Schatten – Waterloo!