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Sechsunddreißigstes Kapitel.
Der Anfang vom Ende

Die große Armee des Kaisers marschiert der Grenze zu; wo sie erscheint, werden die üppigen Saatfelder niedergetreten, der Vogelgesang verstummt, die schweren Räder der Kanonen graben tiefe Furchen in die Erde. Endlose Soldatenreihen ziehen durch stille Dörfer, die Luft wiederhallt von dem Gemurmel und Getöse, welches jedem Krieg vorangeht und jeden begleitet. Gehorsam bewegt sich die uniformierte Menschenkette fort und in ihrer Mitte schreitet still und unsichtbar wie der Tod auf seinem weißen Hengst der unheilvolle bewegende Geist des Ganzen. Im Nachtrab der großen Armee folgen die menschlichen Schakale und Krähen – alle jene Elenden, die auf den verlassenen Schlachtfeldern ihr verrufenes Handwerk treiben.

Unter jenen, die hinter den marschierenden Truppen einherlungern, sieht man einen Menschen, der, nach seinem Äußern zu urteilen, aus der Klasse der Elendesten der Elenden stammen muß. Ein hageres, verkommenes, krank und verzweifelt aussehendes Geschöpf, das weder ein Heim noch Verwandte zu haben scheint und, wie die Krähe dem Jäger, der Armee von Ort zu Ort folgt, bemüht, eine Beute zu erhaschen, die jene übersehen oder weggeworfen hat. Das Haar hängt ihm wirr über die Schultern herab, der lange Bart ist ungekämmt und der Körper in Lappen gehüllt. Nacht um Nacht schläft er im Freien oder in Scheunen, von wo ihn oft wilde Dorfhunde vertreiben. Zuweilen spricht er französisch, in der Regel aber brummt er einen Dialekt vor sich hin, den nur wenige Leute verstehen. Wenn er sich jemandem nähert, so geschieht dies nur, um stets die eine Frage zu stellen: »Wo ist der Kaiser? Wird er diese Stelle passieren?«

Jeder hält ihn für geisteskrank und das ist er in der That auch. Verwirrt durch das ewige Füßegetrappel der an ihm vorbeimarschierenden Kolonnen und durch das ängstliche Beobachten der zahllosen fremden Gesichter, die Tag für Tag an ihm vorbeimarschieren, wandert er seines Weges dahin. Daß er ein bestimmtes Ziel verfolgt, erkennt man an seinem entschlossenen Gesichtsausdruck; vom Strom des Lebens hin und her geschleudert, erscheint er doch hilflos und unzurechnungsfähig. Wovon er lebt, wäre schwer zu sagen. Er bettelt nie, doch erbarmen sich zuweilen mitleidige Soldaten seiner und teilen ihre schmale Kost mit ihm; hoffnungsfreudige Offiziere werfen ihm oft ein Geldstück zu, denn er sieht so verhungert aus; aber es ist geistiger Hunger, nicht physischer, der seine Kräfte aufzehrt. Mehr als einmal wird er wegen Diebstahls angehalten und mit Püffen aus den Gehöften gejagt. Einmal wird er sogar als Spion gefangen genommen und gefesselt vor einen grimmigen Kommandanten gebracht, der rauchend vor dem Bivouacfeuer steht und befiehlt, ihn sofort zu erschießen. Er bricht aber in ein so merkwürdiges Gelächter aus, daß er die Aufmerksamkeit der Offiziere auf sich lenkt, die nach genauerer Prüfung des Falles dem armen Irren mitleidig den Laufpaß geben.

Er marschiert mit den Truppen dem Kriegsschauplatze zu, immer und immer die Frage auf den Lippen: »Wann wird der Kaiser kommen?«

Wie golden schimmern die Ähren in dem friedlichen Belgien! Wie süß duftet das Heu auf den Wiesen, durch die sich ein silberner Strom schlängelt, der an beiden Ufern von hellgrünen gestutzten Bäumen umsäumt ist! Wie dicht und schattig erstrecken sich die Wälder an den Bergrücken, die mit Flieder und Heckenrosen überwuchert, mit Hyacinthen und Veilchen bedeckt sind! Wie ruhig und gleichmäßig bewegen sich die zahllosen Windmühlen mit ihren gen Himmel gestreckten Armen!

Was glitzert dort in der Ferne, auf dem Kirchenplatz im Dorfe? Es scheint ein in der Sonne funkelnder Teich zu sein, in Wirklichkeit sind es aber die Helme der preußischen Kürassiere, die so leuchten. Und was sind jene dunkeln Massen, die sich gleich Schatten zwischen den Kornfeldern bewegen? Es ist die preußische Infanterie, die langsam über die staubige Straße marschiert. Und horch, was braust dort wie wogendes Meer? Es ist die leichte Kavallerie, die auf flinken Rossen einhergaloppiert. Die vereinigten Mächte haben bereits in aller Stille Belgien occupiert und nun nähert sich endlich auch das französische Heer.

Es breitet sich mit einem Teil seiner alten Macht über die fruchtbare Erde aus. Flintengeknatter und Kanonendonner deuten an, daß die Scharmützel bereits begonnen haben. Die feindlichen Armeen stehen einander gegenüber, wie zum Sprunge bereite wilde Bestien. Ringsherum lagern erwartungsvoll die menschlichen Opfer. Die Dörfer werden von ihren Bewohnern verlassen, die Windmühlen stehen still, die Schalmeien der Schäfer sind verstummt, das Vieh weidet unbehütet, die Felder bleiben unbestellt; nur hie und da tönt eine Kirchenglocke durch das verlassene Thal.

In der Richtung von Quatrebras ertönt Kanonendonner, Bomben platzen krachend zu Boden und erschüttern die Luft, der furchtbare Kampf hat begonnen; Kürassiere galoppieren hierher und dorthin, Ordonnanzen eilen ins Hauptquartier und die armen erschreckten Bauern bereiten sich zur Flucht in die Wälder vor. Die Kriegsfurie ist mit allen ihren Schrecken losgelassen.

Auf dem Gipfel eines bewaldeten Hügels steht dieselbe mitleiderregende Gestalt, die den Spuren der großen Armee bis hierher gefolgt war – noch hagerer und abgezehrter. Es regnet in Strömen, aber der arme Geisteskranke beachtet das nicht und starrt nur auf die Straße hinab, die sich durchs Thal windet. Plötzlich blitzen durch den feuchten Nebel glitzernde Helme und Lanzen, der stille Beobachter entdeckt auch die Gestalt eines im vollen Galopp einherstürmenden Reiters, dem eine Gruppe berittener Offiziere folgt; hinter diesen rollt ein mit vier Pferden bespannter Reisewagen. Am Fuße des Hügels bleibt der Reiter einen Augenblick lang stehen, dann geht es wieder in vollstem Galopp aufwärts, die Offiziere folgen ihm.

Ruhig und stumm zieht sich Rohan – denn er ist der Unglückliche – in den Schatten des Waldes zurück.


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