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Zwanzigstes Kapitel.
Die Menschenjagd

Draußen zwischen den Klippen, auf halbem Wege zwischen dem Gipfel des Abgrundes und dem wellenbespülten Felsgestein am Strande, sitzt ein Mann so still und bewegungslos, daß man ihn für einen Teil des Felsens halten könnte.

Es ist einer jener schwülen Sommernachmittage, an denen der Horizont von seinem eigenen Atem umwölkt ist. Kein Lüftchen regt sich, man hört meilenweit das Brausen des Meeres. In dem schrillen Schrei der blaurückigen Möwe, die bedächtig über den Wasserrand segelt, liegt etwas Ergreifendes. Der Mann sitzt in einer kleinen Nische; ein schwindeliger Pfad führt zu den Felsen hinunter, aber der über seinem Haupte hängende Abgrund ist vollständig unzugänglich. Kaum hundert Schritte entfernt, erhebt sich die vom Himmelszelt überdachte, große natürliche Kathedrale. Von seinem Sitze aus sieht er den durch die Flut gebildeten smaragdenen Boden derselben. Über der Kathedrale flattern gleich Schmetterlingen, ein leises Gekreisch ausstoßend, zahllose Möwen. Die Sonne hat sich versteckt, aber der matte Purpur, der den westlichen Horizont begrenzt, deutet darauf hin, daß sie im Sinken ist. Weit draußen, auf dem offenen Ocean, gleiten Fischerboote wie dunkle Punkte auf der glasigen Fläche dahin. Es ist ein heißer, dunstiger Tag.

Seit vielen Stunden kauert der Mann in seiner Nische, lauschend und wartend. Plötzlich bewegt er sich und wirft das Haupt zurück wie ein aufgeschrecktes Wild, seine ängstlichen, gierigen Augen blicken zu der schwindeligen Klippe über seinem Haupte empor. Hoch oben flattert etwas, entweder eine flinke weiße Möwe oder ein Taschentuch. Kaum hat er es erblickt, als er sich kerzengerade erhebt, Zeigefinger und Daumen an die Zähne legt und einen schrillen Pfiff ausstößt. Wer ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, würde tiefes Mitleid mit dem Ärmsten empfunden haben, denn er ist barhaupt, der Bart lang und verwildert, das den Elementen ausgesetzte Antlitz gebräunt, die Kleidung zerfetzt – sie besteht übrigens nur aus den landesüblichen kurzen Beinkleidern und einem bunten Hemd, das kaum mehr diesen Namen verdient. Er sieht eher einem gehetzten wilden Tier aus der Urzeit ähnlich als einem ruhigen, friedlichen Bürger.

Aufblickend, sieht er vom Gipfel des Felsens Etwas rasch an einem Seil heruntergleiten, er streckt gierig die Arme danach aus und hält bald ein kleines Körbchen in den zitternden Händen, dem er ein Stück Schwarzbrot, ein Stück gewöhnlichen Käse und ein kleines Fläschchen Branntwein entnimmt. All dies legt er neben sich auf das Gestein und zieht das Seil sanft wieder an. Im Nu steigt das Körbchen in die Höhe, er aber macht sich eilig daran, seinen lebhaft knurrenden Magen zu befriedigen. Nachdem er sein kärgliches Mahl beendet, bindet er die Reste sorgfältig in ein Tuch, das er bis dahin um den Hals geschlungen hatte. Der Branntwein bildet sein bonne-bouche, denn er schlürft nur tropfenweise davon, als ob jeder Tropfen kostbar wäre; thatsächlich ist er es auch, denn er erweckt neues Leben in dem halbverhungerten Körper. Nachdem er eine kleine Ration bedächtig hinuntergeschlürft hat, verbirgt er seine kostbaren Schätze auf der Brust. Er scheint es durchaus nicht eilig zu haben, denn er hält nun seine Siesta und läßt seine neubelebten Blicke ruhig über die abendlich beleuchtete Landschaft schweifen. Ein träumerischer Ausdruck liegt in seinen sanften Augen, der im krassen Widerspruch zu den verängstigten, abgezehrten Linien seines Gesichtes steht.

Plötzlich springt er wie ein erschreckter Hase von seinem Sitze auf. Aufrecht stehend, horcht er mit angehaltenem Atem in die Höhe; Laute, erschreckender als Meeresgebrüll, dringen an sein Ohr – menschliche Stimmen! Namenloses Entsetzen spiegelt sich auf seinen Zügen. Er springt und klettert wie ein Gemsbock den halsbrecherischen Pfad zum Strande hinab. Ein von oben dringender Schrei veranlaßt ihn, einen Augenblick stillzustehen und hinaufzublicken. Über dem Abhang starren einige menschliche Gesichter zu ihm hinab. Er wankt und alles dreht sich im Kreise mit ihm herum, doch faßt er sich rasch wieder und gleitet ruhig weiter. Er weiß nun, daß ihn seine Verfolger entdeckt haben und seine Spur unbarmherzig weiter verfolgen werden. – – –

Sergeant Pipriac und seine Gendarmen hatten, nachdem sie das Haus Dervals verlassen, sofort den Weg zu dem großen Menhir eingeschlagen und waren von dort über das grüne Plateau auf die Felsspitze gelangt. Mikel Grallon schritt, in ein lebhaftes Gespräch vertieft, an der Seite des Führers, während eine aufgeregte Gruppe von Dorfbewohnern – Männer, Weiber und Kinder – hinter ihnen hertrotteten. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie mit der alten Gwenfern zusammentrafen, die, ein Körbchen auf dem Arm, erschöpft und bleich des Weges kam. Ohne viel Federlesens erklärte ihr Pipriac den Zweck seines Streifzuges: »Aha, haben wir dich endlich erwischt, Mutter Luise? Alle Teufel, den alten Pipriac hintergeht man nicht so leicht, obgleich du mich für blind und dumm gehalten hast! Was hast du in dem Körbchen? Heraus mit der Sprache! Woher kommst du? Zum Henker, bleib' stehen und antworte! Wo hält sich dein sauberer Sohn versteckt? Der Kaiser ist um seine Gesundheit besorgt.«

Die alte Frau erbleichte, ihre Lippen färbten sich blau; sie hielt den scharfen Blicken des Sergeanten tapfer stand, aber kein Wort drang aus ihrer Kehle.

»Du scheinst stumm geworden zu sein, Mütterchen! Nun, wir werden Mittel finden, deine Zunge zu lösen. Pass' auf, es wird deine Schuld sein, wenn du den alten Pipriac dazu zwingst, streng mit dir zu verfahren, denn du warst nicht ehrlich mit ihm und hast ihn zum Narren gehalten. Geschichten wie diese können nicht in aller Ewigkeit geheim bleiben; der Kaiser hat eine lange Nase und riecht die Spur von Deserteuren. Verflucht! Hofftest du altes Weib, den Kaiser auf die Dauer betrügen zu können?« schrie er mit erheucheltem Zorn.

Pipriac war trotz seiner scheinbaren Grausamkeit und Brutalität kein schlechter Mensch: er hätte viel darum gegeben, nicht auf Rohan Jagd machen zu müssen, und es ärgerte ihn, der alten Frau, die er von Herzen bedauerte, begegnet zu sein. Er sprach in so barschem Ton mit ihr nur um sein Mitleid zu verbergen und untersuchte brummend das leere Körbchen, welches er ihr mit einer komischen Grimasse zurückgab. Sie ließ alles stumm über sich ergehen, nur ihre matten grauen Augen drückten übermenschliche Qualen aus und ließen vermuten, was dieses starke Mutterherz litt.

Als Pipriac an der Spitze seiner Mannschaft weiter marschierte und einige mitleidige Frauen aus dem Dorfe sich ihr anschlossen, um sie nach Hause zu begleiten, kam noch immer kein Wort über ihre Lippen. Sie hatte Wichtigeres zu thun – sie betete inbrünstig zu Gott, der ihren Sohn bisher so gnädig beschützt hatte, ihn auch in dieser Stunde der höchsten Gefahr nicht zu verlassen.

Die meisten der Nachzügler blieben zurück, als der Weg beschwerlich wurde, nur Grallon und einige junge Bursche, nicht gerade Freunde Rohans, begleiteten Pipriac und seine Leute bis zum Rande des Abgrundes. Sie waren ihrer im ganzen zwanzig und alle, mit Ausnahme Mikel Grallons, hielten Rohan für einen verweichlichten Feigling, wenn er nicht, wie Pipriac mit aller Bestimmtheit behauptete, ein gefährlicher Irrsinniger war, der für seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden konnte.

Niemals hatten die gigantischen Klippen und Felsen so furchtbar und drohend ausgesehen wie an jenem schwülen, von keinem Lüftchen bewegten Tage. Die unheimliche Ruhe in der Natur erhöhte noch den Eindruck der Trostlosigkeit und Einsamkeit. Wie von einem Erdbeben zerrissen und von dem ewig nagenden Salzwasser in phantastische Formen gestaltet, hoben sich die Felsen und Riffe gespensterhaft von dem bleigrauen Himmel ab, so daß die Leute, die über das Plateau hinwegeilten und hie und da einen Blick in die schwindelerregende Tiefe warfen, ein ungeheures Gräbermeer zu sehen vermeinten mit moosbewachsenen, seltsamen, in allen Farben schillernden Granitgrabsteinen, über denen eine Legion weißer und silbergrauer Möwen kreiste.

So oft Pipriac hinabblicken wollte, erfaßte ihn ein heftiger Schwindel und er zog sich mit einer Verwünschung zurück. Mikel Grallon, an diesen Anblick gewöhnt, faßte die Sache schon kühler an, aber auch er hütete sich wohlweislich, sich dem Abgrunde zu sehr zu nähern, dessen Rand an manchen Stellen geradezu lebensgefährlich war, denn das Gestein bröckelte sich unter dem eisglatten Rasen leicht ab.

Plötzlich blieb Mikel stehen und gebot Halt. Sie hatten eine Stelle erreicht, wo die Klippe in eine Art Vorgebirge verlief: »Die Kathedrale befindet sich direkt unter unseren Füßen, ich will mich einmal vorneigen und sehen, ob ich etwas erspähen kann!«

Gesagt, gethan! Er warf sich auf den Bauch und kroch vorsichtig auf allen Vieren, bis sein Gesicht über den Rand hinweglugen konnte. In dieser Lage verblieb er so lange, daß Pipriac die Geduld verlor und ihn ärgerlich anschnauzte, was es denn da unten zu sehen gebe. Mikel wandte ihm sein käseweiß gewordenes Gesicht zu und winkte ihn herbei. Sofort warfen Pipriac und drei der Gendarmen ihre Flinten zu Boden, nahmen ihre Dreimaster ab und krochen ebenfalls auf allen Vieren der Stelle zu.

»Ist er das?« brummte Pipriac.

»Seht doch!« rief Grallon erregt.

Im Nu hingen vier Köpfe über dem Abgrund und vier Paar Augen starrten entsetzt, mit dem Ausdruck der höchsten Ver- und Bewunderung, in die bodenlose Tiefe. Das war der Augenblick, in welchem Rohan Gwenfern, von den zu ihm hinabdringenden menschlichen Stimmen aufgescheucht, von seinem gefährlichen Sitze aufsprang und in die Höhe blickte. Er sah, von oben gesehen, wie ein Zwerg aus, der an Stellen einherschritt, die selbst einer Fliege keinen festen Halt zu bieten schienen, geschweige denn einem menschlichen Fuße. Den vier Lauernden oben entrang sich unwillkürlich ein Schreckensruf, als Rohan zu wanken begann, ehe er ruhig seinen Weg fortsetzte.

»Der Bursch hat den Teufel im Leibe! Kein Sterblicher könnte ihm das nachmachen, ohne sich das Hirn an dem Gestein zu zerschellen!« keuchte der Sergeant, sich den Angstschweiß von der Stirne wischend.

»Das war ein furchtbarer Anblick!« rief der Gendarm Pierre.

»Kein Mensch wird es wagen, ihm zu folgen,« bemerkte André.

»Unsinn!« schrie Mikel Grallon. »Er kennt eben die Wege besser als ein anderer und klettert wie eine Ziege – das ist alles! Nun wißt ihr auch, warum er sich damals nicht das Genick gebrochen hat, als ihr ihn für verunglückt ausgabt. Na, jetzt werdet ihr ihn wohl bald beim Kragen haben und seinen Schlichen ein Ende bereiten.«

»Wir verlieren mit diesem unnützen Geschwätz kostbare Zeit,« meinte Pipriac, Mikel keinen besonders freundlichen Blick zuwerfend. Der Spion fing an, ihm geradezu verhaßt zu werden. »Wir müssen uns beeilen, die Triffinesleiter zu erreichen. Vier von euch, Nicole, Jan, Bertram und Hoël, werden hier oben bleiben und aufmerksam Wache halten. Aber merkt euch, es darf kein Blut fließen! Trachtet, falls er heraufklettern sollte, ihn lebend zu erwischen.«

»Wenn er aber Widerstand leistet?« fragte einer der Männer.

»Zum Teufel, ihr seid vier gegen einen Wehrlosen. Ihr anderen, vorwärts! marsch! Komm, Grallon!«

Sie waren noch keine hundert Schritt gegangen, als der Sergeant einen Schrei ausstieß und zurückfuhr, denn aus einer Einbuchtung war plötzlich ein lebendes Wesen herausgesprungen und stand jetzt am äußersten Felsrande, die Gesellschaft mit erschrockenen Blicken anstarrend. Es war Jannedik.

»Herr Gott, bin ich erschrocken!« keuchte Pipriac. »Und das vor einer dummen Ziege!«

»Sie gehört der Mutter des Deserteurs,« bemerkte Grallon, »und ist ein abscheuliches Ding, nicht einmal der Gottseibeiuns kann pfiffiger sein. Ich hatte schon wiederholt die Absicht, ihr mit meinem Messer den Garaus zu machen, wenn ich sah, wie Rohan Gwenfern das dumme Vieh liebkoste, als ob es ein Christenmensch gewesen wäre.«

Jannedik hatte sich gar bald von ihrer Überraschung erholt und trabte ruhig an der Gruppe vorbei. Einen Moment schien sie willens, den sie mit ihren Bajonetten stoßenden Gendarmen die Kraft ihrer Hörner zu zeigen, aber sie besann sich eines Bessern, als sie die Übermacht sah, schüttelte nur zornig das Haupt und ging ihres Weges. Es war bereits ziemlich dunkel geworden, als die Leute, die Triffinesleiter hinabkletternd, endlich den Strand erreichten. Sie fanden unter Grallons Führung keine Spur von dem Flüchtling. In seinem Eifer versuchte Mikel sogar, den halsbrecherischen Weg emporzuklimmen, den Rohan vor ihren Augen hinabgestiegen war; aber es blieb bei dem Versuch, denn er wagte es kaum, vierzig bis fünfzig Fuß hoch zu klettern und fand es dann angezeigter, sich den Gendarmen wieder auf festem Boden anzuschließen.

»Wenn man eine Fliege wäre, könnte man ihm vielleicht folgen; er wandelt ja auf Wegen, die vor ihm sicherlich noch kein menschlicher Fuß betreten!« knurrte der Sergeant.

»Er kann auf keinen Fall weit sein,« versicherte Mikel, »denn hinter der Kathedrale führt nicht einmal ein Pfad, den eine Ziege erklettern könnte. Wir müssen ihn in der Kathedrale selbst suchen, zum Glück verläuft sich die Flut soeben.«

Es dauerte aber doch noch eine gute Stunde, ehe sie das Thor halbwegs trockenen Fußes zu passieren vermochten. In der ungeheuern Kathedrale umfing sie tiefe Finsternis, nur einige verfrühte Sterne blitzten vom Firmament hinab. Selbst Pipriac, der weder von Natur noch durch Erziehung abergläubisch war, überlief ein geheimes Gruseln. Die lautlose Stille, die nur durch das über den Moosvorhang rieselnde Wasser und durch das zeitweilige furchtsame Gekreisch der Seevögel unterbrochen wurde, wirkte geradezu lähmend auf die Sinne. Die Königin der Nacht hatte ihre Herrschaft angetreten, man vermochte keinen Schritt weit zu sehen. Dicht an die Wand geschmiegt, saßen in Reih und Glied zahllose schwarze Scharben, die, von den ungewohnten Fußtritten aufgeschreckt, im Dunkeln aufflatterten.

Die Leute sprachen im Flüsterton und krochen nur vorsichtig weiter.

»Wenn wir doch eine Fackel mitgebracht hätten!« jammerte Pierre.

»Man könnte glauben, daß der Teufel in dieser verdammten Finsternis sein Spiel treibt,« brummte Pipriac giftig. Am liebsten wäre er Grallon an den Hals gefahren. Dieser bekreuzigte sich und lispelte: »Gott schütze uns vor dem Bösen! Doch horcht, was war das?«

Eine Taubenschar flatterte aus irgend einer dunkeln Grotte hoch in die Lüfte.

»Das ist wirklich ein verwünschter Ort, man sieht ja seine eigene Nase nicht! Man könnte ebensogut in dem großen Ocean eine verlorene Nadel suchen! Wenn Gott mich als Ziege oder Eule erschaffen hätte, dann könnte ich dieses Werk zu Ende führen, so aber ist's verlorene Zeit! Wir wollen trachten, je eher, je lieber wieder mit heilen Gliedern herauszukommen,« brummte Pipriac. »Kehrt euch!«

Der Rückzug wurde in aller Stille angetreten und erst als alle wieder den Strand erreicht hatten und festen Boden unter sich fühlten, atmeten sie erleichtert auf. Mikel Grallon beharrte standhaft bei seiner Ansicht, daß Rohan in der Nähe sein und daß man die ganze Nacht Wache halten müsse, damit der schlaue Fuchs nicht wieder entwische.

Pipriac schnaubte innerlich vor Wut, denn er hätte sich am liebsten mit seinen Leuten sofort zurückgezogen, um der Nachtruhe zu pflegen und die Nachforschungen erst am Morgen fortzusetzen. Trotz seiner Pflichttreue hätte er dem Deserteur auch ganz gerne die Möglichkeit einer zweiten Flucht geboten, aber etwas in den Augen Grallons lehrte ihn, vor diesem Menschen auf der Hut zu sein, der Rohan mit solcher Standhaftigkeit verfolgte. Er würde sich wahrscheinlich kein Gewissen daraus machen, Pipriac höheren Ortes wegen Pflichtversäumnis anzuzeigen. Es wurde also beschlossen, sowohl die Kathedrale wie auch die umliegenden Klippen während der Nacht streng zu bewachen. Wutschnaubend verteilte der Sergeant seine Mannschaft, dann zündete er sein Pfeifchen an und begab sich selbst auf seinen Posten. Aber die Nacht verstrich ohne jedes weitere Ereignis. Infolge des sich erhebenden heftigen Seewindes und der darauffolgenden kalten Regengüsse verloren die Gendarmen die Geduld; die Dorfleute – bis auf Grallon – hatten sich ohnehin schon längst zurückgezogen und die Schultern gezuckt über das, was sie eine vergebliche Wildgansjagd nannten.

Nach dem Rücktritt der Flut führte Mikel die Häscher in die Kathedrale zurück, die jetzt ganz hell und freundlich aussah, so daß sie alle Nischen und Spalten in den roten Granitwänden mit ihren aufgepflanzten Bajonetten durchstöbern konnten, ohne jedoch eine menschliche Seele zu finden. Mit jedem neuen Schritt verschlimmerte sich die Laune Pipriacs und seiner Mannschaft.

» Tous les diables!« brüllte er endlich wütend, »man kann hierher kommen, um Krebse zu fangen, aber ich kann kein Versteck entdecken, das geeignet wäre, mehr als einen Vogel zu beherbergen! Und deshalb seine Nachtruhe und seinen Morgentrank zu opfern! Man sieht es ja an diesen Granitwänden klar und deutlich, daß die Hochflut fast über Manneshöhe den verfluchten Raum erfüllt; und was die Nischen und Spalten betrifft, nun, nur eine Eidechse könnte hinaufkriechen, denn die Wände sind ja glatt und schlüpfrig wie Gras. Bei den Gebeinen des heiligen Gildas, hier ist kein Deserteur versteckt! Gehen wir!«

»Halt!« schrie Mikel außer sich.

»Himmelsakrament, was nun?« fuhr Pipriac zornig auf.

»Ihr habt noch nicht überall gesucht.«

»Du bist ein Esel! Wo sollen wir denn noch suchen? Vielleicht in deiner verdammten Gurgel?« schrie der Sergeant wütend.

»Nein; aber dort oben – im Trou,« entgegnete Mikel gleichmütig.

Während Pipriac ärgerlich in die trichterartige Öffnung starrte, von der Rohan zu Anfang der Erzählung Marcelle berichtet hatte, daß sich dort hoch oben eine bequeme Grotte befinde, flog eine Taubenschar hinein, flatterte aber sofort wieder hinaus.

»Habt ihr das gesehen?« wandte sich Mikel an die Leute.

»Was denn, du kluger Fischer?« brummte Pipriac.

»Die wilden Tauben! Sie flogen in den Trichter, flatterten aber sofort wieder hinaus.«

»Was weiter?«

»Die Grotte muß also bewohnt sein.«

Pipriac stieß einen derben Fluch aus und seine Leute sahen einander verblüfft an, während Grallon selbstgefällig schmunzelte.

»Aber das ist rein unmöglich!« rief der Alte endlich. »Die Wände sind glatt und flach wie meine Hand und das Moos ist so schlüpfrig, daß kein Mensch hinaufklettern könnte, und was den Zugang von oben betrifft, sperr' doch deine listigen Spionsaugen auf und sieh', wie zerklüftet das Gestein ist. Wenn er dort oben ist, nun, dann ist er ein Teufel und wenn er ein Teufel ist, mag ich nichts mit ihm zu schaffen haben. Basta!«

Auf den ersten Blick schien es wirklich unglaublich, daß ein menschliches Wesen von oben oder unten in die Grotte – wenn es dort oben eine Grotte gab – gelangen konnte, ohne eine Leiter oder ein Seil zu Hilfe zu nehmen. Aber der mit der Örtlichkeit besser vertraute Grallon erklärte, daß ein Aufstieg, obgleich im höchsten Grade beschwerlich und gefährlich, für einen geübten Turner nicht unmöglich sei. In der entferntesten Ecke der Kathedrale, in nächster Nähe des sogenannten Altars, sei die Wand hart und trocken und weise hie und da kleine Vorsprünge auf, die für Hände und Füße des Aufsteigenden als Halt dienen konnten.

»Ich sage euch, ihr Leute, die Sache ist möglich! Man braucht nur Füße und Hände gegen diese Vorsprünge zu stemmen – – –«

»Wohlan, ich sehe, daß du ein waghalsiger Bursch bist,« unterbrach ihn der Sergeant, »und die Sache gründlich weg hast. Zeige uns, wie man's macht und, bei der Seele des Kaisers, wir folgen dir nach!«

»Ich sage Ihnen, Sergeant, er ist oben,« beharrte der erschrockene Fischer.

»Und ich wiederhole dir, daß wir dir folgen wollen, wenn du uns den Weg zeigst. Zum Teufel, du glaubst doch nicht, daß der alte Pipriac ein Hasenfuß ist? Vorwärts, mein sauberes Bürschchen, vorwärts! … Was, du willst nicht? Na, das wundert mich nicht, denn ich sagte ja schon, daß nur der Teufel das Kunststück fertig bringen kann, dort hinauf zu gelangen. Nichtsdestoweniger,« fuhr er, zu seinen Leuten gewendet, mit Donnerstimme fort, »wollen wir versuchen, den Vogel zu überraschen. Pierre, du bist ein treffsicherer Schütze, nimm dir dort den Kamin zum Ziel. Feuer!«

Der Gendarm erhob seine Flinte und richtete sie auf das schwarze Loch hoch oben. In der nächsten Minute wiederhallte der Schuß tausendfach von den schroffen Granitwänden, zahllose Möwen und Tauben flatterten, von dem furchtbaren Getöse erschreckt, über den Köpfen der Anwesenden. Einen Moment hatte es den Anschein, als ob all diese Steinkolosse zusammenstürzen und die zwerghaften Gestalten unten zermalmen wollten.

»Noch einmal!« kommandierte der Sergeant.

Das Getöse wiederholte sich, erneute Legionen von Seevögeln flatterten erschreckt umher, aber kein anderes Zeichen ward sichtbar.

»Genug der Komödie!« schrie Pipriac, ganz rot vor Verdruß. »Man hätte glauben können, daß der Himmel einstürzt. Ich sage, er ist nicht oben. Gehen wir!«

Die hinaufstarrenden Gendarmen stießen in diesem Augenblick einen Schrei der Überraschung aus, denn in der Öffnung des Kamins erschien ein unförmlicher Kopf, aus welchem zwei große leuchtende Augen verwundert in die Tiefe starrten. Nach genauer Beobachtung stellte es sich jedoch heraus, daß es kein menschlicher Kopf, sondern der einer Ziege sei, und zwar der der braven Jannedik, die, auf ihre beiden Vorderfüße gestemmt, zu fragen schien, was denn der ungewohnte Lärm da unten zu bedeuten habe. Grallon knirschte vor Wut und stieß die bösesten Verwünschungen gegen das arme Tier aus; Pierre riß sein Gewehr von der Schulter und zielte auf Jannedik, deren letztes Stündlein geschlagen zu haben schien; aber Pipriac schrie den Gendarmen an, die Ziege der armen Witwe zu schonen; dann wandte er sich voll Hohn an Grallon: »Also das ist dein Deserteur? Eine armselige Ziege mit Bart und Hörnern! Zum Teufel, sieh' doch, sogar das Tier lacht dich aus, ich sehe ganz deutlich die weißen Zähne blitzen.«

»Wenn die Bestie dort oben ist, kann auch ihr Besitzer nicht weit entfernt sein,« antwortete der Fischer zornig. »Wenn ich doch nur eine Leiter hätte, dann würdet ihr alle schon sehen – – – Ich wollte mein Boot, meine Netze, alles, was ich besitze, darauf verwetten, daß der Kerl sich dort oben versteckt; aber er ist zu feige, sich zu zeigen. Was thäte die Ziege oben in dem dunkeln Loch, wenn ihr Herr nicht dort wäre? Ich bin nicht vergebens Tag und Nacht auf der Lauer gelegen und weiß bestimmt, daß er oben ist. Wenn er uns diesmal entwischt, ist es nicht meine Schuld, sondern die Ihrige, Sergeant Pipriac!«

Dieser hielt es nicht der Mühe wert, dem fanatischen Fischer zu antworten, sondern kommandierte zum Rückzug. Er und seine Leute hatten fast den Ausgang erreicht, als plötzlich von oben eine feste, klare Stimme sagte: »Ja, Mikel Grallon, ich bin hier!«

Alle blickten vor Überraschung starr in die Höhe. In der Mündung des Trichters, des Kamins oder der Grotte – man nenne es, wie man wolle – stand, kerzengerade aufgerichtet, mit verwildertem Haar und Bart, zerfetzter Kleidung, abgezehrt und halb verhungert, der Mann, nach dem sie fahndeten. Seine hohe Gestalt hob sich in dem hellen Sonnenschein scharf von dem dunkeln Hintergrunde ab, so daß man ganz deutlich die sich in seinen Zügen ausprägende seelische und physische Qual sehen konnte. Aber aus seinen Augen flammte noch eine andere Leidenschaft – der plötzlich erwachte Haß und die tiefste Verachtung. Und diese, wie heiße Kohlen glühenden Augen bohrten sich in diejenigen Mikel Grallons. Im ersten Augenblick schien es, als ob Rohan sich auf den Spion stürzen wolle, doch wäre das von dieser ungeheueren Höhe sein sicherer Tod gewesen. Er besann sich daher eines Besseren und blieb keuchend und zornsprühend in der schwarzen Mündung stehen, während Grallon unter den Flammenblicken sich vor Angst und Entsetzen in sich selbst verkroch. Pipriac und seine Leute starrten die Vision wie betäubt an und waren unfähig, ein Wort hervorzubringen.

»Heilige Jungfrau, das ist er wirklich!« keuchte endlich der alte Haudegen, nach Atem schnappend; dann rief er mit festerer Stimme hinauf: »Also dort oben bist du, mon garz?!«

Rohan antwortete nicht und hielt seine Augen andauernd fest auf Mikel gerichtet.

»Wir haben lange auf dich gewartet und freuen uns, dich endlich zu Hause zu finden. Was thust du dort oben, so hoch in der Luft? Diable, es scheint, als ob du wie ein Vogel fliegen könntest! Sei gescheit, mein Junge, komm herunter und ergieb dich – im Namen des Kaisers fordere ich dich dazu auf!«

So parlamentierte Pipriac mit verlegener Miene. Die Gendarmen stellten sich in Positur, erhoben ihre Flinten, bereit, auf das Kommando ihres Führers loszufeuern. Es war eine sehr aufregende Scene; aber Rohan strich sich das wirre Haar aus den Augen, lächelte und rührte sich nicht von seinem exponierten Platz.

»Hörst du mich, Rohan?« fuhr Pipriac erregter fort. »Ich werde, wenn du dich noch lange besinnst, nicht viel Worte mehr machen. Du hast das Spiel verloren, wir haben deine letzte Karte abgetrumpft und du kannst nur wenig dabei gewinnen, wenn du darauf beharrst, wie ein Vogel in seinem Neste dort oben zu bleiben. Ergieb dich, Rohan Gwenfern, ergieb dich, damit wir nicht noch mehr unnütze Zeit verlieren!«

»Was wollt ihr von mir?« fragte Rohan mit hohler Stimme.

»Was wir wollen?! … Hört ihn doch nur! … Zum Teufel, haben wir denn zu unserem Vergnügen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dich zu finden? Das ist wirklich ein kostbarer Spaß, zu fragen, was wir von ihm wollen! Der Kerl macht sich über uns noch lustig! Im Namen des Kaisers, ergieb dich!« schrie der jähzornige Pipriac. Wie auf Kommando erhoben alle Gendarmen die Flinten und riefen: »Ergieb dich oder wir schießen!«

»Ihr vergeudet vergebens eure Zeit, lebend werdet ihr mich nicht erwischen,« lautete die feste, klare Antwort von oben.

»Unsinn! Komm herab oder –« hier blickte der Führer hilflos auf die steilen, glatten Granitwände – »oder wir kommen hinauf, um dich zu holen.«

»Kommet!« entgegnete Rohan lachend.

Pipriac war ein Mensch, der unter seiner rauhen Hülle ein warmes Herz verbarg, aber eines vermochte er nicht zu ertragen: sich lächerlich zu machen, und er hatte das unbestimmte Gefühl, als spiele er jetzt eine lächerliche Rolle. Das machte ihn nervös und fuchsteufelswild. Ein Gemisch der widersprechendsten Gefühle beherrschte ihn. Es verdroß ihn, den Deserteur entdeckt zu haben, denn er bedauerte Rohan aufrichtig – war er doch der einzige Sohn seines besten Freundes! Dann sagte er sich, daß er während des ganzen Streifzuges mit Nachsicht und Milde verfahren sei, so daß er sich beinahe dem Verdacht ausgesetzt habe, nicht genug eifrig gewesen zu sein; ein bitterer Groll gegen Grallon stieg in ihm auf, der ihn mit seinen Spiondiensten in diese Patsche gehetzt, ihm seine Nachtruhe geraubt und, was das Schlimmste von allem war, ihn um sein gewohntes Frühstück gebracht hatte. Seine Lippen lechzten förmlich nach einem guten Tropfen; dazu kam das herausfordernde Benehmen Rohans. Was Wunder, wenn ihn der Jähzorn übermannte und er, den Hahn seiner Flinte spannend, wutschnaubend hinaufrief: »Ich gebe dir eine Minute Bedenkzeit; wenn du dich bis dahin nicht ergiebst, schieße ich! Sei kein Narr; ich meine, was ich sage und werde dich niederknallen, als ob du eine Krähe wärst!«

Rohan rührte sich nicht. Er blickte mit überlegenem Lächeln auf seine Peiniger hinab. Wie er so dastand, mit gekreuzten Armen und zurückgeworfenem Haupte, bildete er eine gute Zielscheibe für die auf ihn gerichtete Flinte.

»Ich frage dich noch einmal im Namen des Kaisers, bist du bereit?«

»Ich werde mich niemals ergeben,« lautete die bestimmte Antwort.

Noch ehe die Worte recht verhallt waren, krachte ein Schuß. Der Pulverdampf verzog sich und Rohan stand unverletzt und in derselben Haltung auf seinem Platze, als ob nichts geschehen wäre. Ob nun Pipriac absichtlich falsch gezielt oder ob die Kugel zufällig ihr Ziel verfehlt hatte, wer kann das genau wissen? Aber kaum sahen die Gendarmen, daß Rohan unverletzt geblieben, als sie wie ein Mann ihre Flinten erhoben und auf ihn richteten: »Halt!« brüllte der Sergeant. »Wer feuert, ehe ich kommandiere, wird es büßen,« und zu Rohan gewendet: »Du lebst noch? Vielleicht nimmst du doch Vernunft an und kommst ruhig herunter! Hör' mal, ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde für dich thun, was ich kann! Auf jeden Fall bist du verloren, wenn du dich weigerst, freiwillig herunterzukommen, denn du kannst uns nicht entrinnen, die Kathedrale ist von allen Seiten von unseren Leuten umzingelt. Ich gebe dir noch eine Minute Bedenkzeit – – –«

»Ich werde nie Soldat werden!«

»Dazu ist es ohnehin zu spät,« bemerkte Grallon spöttisch, sich an Pipriac wendend. »Nun, ist er nicht ein Feigling?«

Jedes Wort drang klar und deutlich zu Rohan hinauf. Wieder schien es, als ob er sich auf seinen Feind stürzen wollte, aber er beherrschte sich mit fast übermenschlicher Willenskraft und richtete seine Antwort an den Sergeanten und seine Mannschaft: »Ihr vergeudet vergeblich eure Zeit. Vielleicht bin ich wirklich ein Feigling, wie der ehrenwerte Mikel Grallon behauptet; aber eins ist sicher: ich werde nie in den Krieg ziehen und mich nie lebend ergeben.«

»Lebend oder tot – du entrinnst uns nicht!«

»Vielleicht doch!«

»Sei vernünftig und glaub' dem alten Pipriac, du bist von allen Seiten umzingelt.«

»Wenn ich umzingelt bin, so seid ihr es auch!« rief Rohan und begleitete seine Worte mit einem bitteren Lachen, das sich aus einem verzweifelten Herzen rang.

Wie von einer Viper gestochen, drehten sich alle um und siehe da – durchs Thor des heiligen Gildas wälzte sich schäumend und gurgelnd die Flut in die Kathedrale – noch einige Minuten und der Rückzug war abgeschnitten. Grallon stürzte, ohne sich weiter um Rohan zu kümmern, dem Ausgang zu. Pipriac, bei kleinen Provokationen leicht aus dem Häuschen geratend, verlor, wenn es sich um wirkliche Gefahren handelte, nie die Geistesgegenwart. Er wandte sich wieder ruhig der Grotte zu, aber Rohan war verschwunden.

»Zum Teufel, weg ist er! Macht nichts, wir wollen ihn zum Abschied mit einer Salve bedenken. Feuert!«

Die Kathedrale wiederhallte von dem furchtbaren Flintengeknatter; noch ehe der Pulverdampf verraucht war, suchten die Gendarmen ihr Heil in der Flucht, denn die Kathedrale füllte sich immer höher mit der smaragdgrünen Flüssigkeit. Es war die höchste Zeit, denn sie mußten brusthoch im Wasser waten, ehe sie das trockene Plätzchen dicht an der Leiter des heiligen Triffine erreichen konnten, wo sie eine Schar neugieriger Männer, Weiber und Kinder erwartete. Unter diesen befanden sich auch die Brüder Derval und Marcelle. Sie hatte dem Drange ihres Herzens nicht widerstehen können und war, fast willenlos, wie im Traume, der Menge gefolgt. Mit Grauen hatte sie das Steigen der Flut beobachtet und als gar aus dem Innern der Kathedrale das donnerähnliche Getöse erklang, kauerte sie zu Tode erschrocken nieder. Was mochten die Schüsse zu bedeuten haben? Hatte man »ihn« entdeckt und verteidigte er sein Leben oder schossen sie ihn unbarmherzig nieder? Sie bedeckte ihr entsetztes Gesicht mit beiden Händen und lauschte mit angehaltenem Atem, bis sie endlich das Plätschern des Wassers zum Aufblicken veranlaßte. Sie sprang, als sie die Gendarmen durch die Flut waten sah, erregt auf und beobachtete gespannt ihre Gesichter. Fluchend und pustend bahnte sich Pipriac einen Weg durch die kreischende und Fragen stellende Menge, aber weder er, noch seine Leute ließen ein Wort von dem Vorgefallenen verlauten. Mikel Grallon folgte ihnen auf dem Fuße und fühlte sich am Arm festgehalten. Ärgerlich wollte er den Zudringlichen abschütteln, erkannte aber, sich umwendend, Marcelle: »Sprich, Grallon, was ist geschehen? Hat man ihn gefunden? Ist er erschossen worden?« keuchte sie in einem Atem hervor, bemüht, ihm mit ihren brennenden Augen auf den Grund der Seele zu blicken.

»Nichts von alledem! Er ist geborgen, drüben in der Kathedrale des heiligen Gildas.«

»In der Kathedrale?«

»Ja, oben im Trou!«

Obgleich die Worte an Marcelle gerichtet waren, wurden sie doch auch von den neugierigen Gaffern vernommen, die Rufe der Verwunderung und des Entsetzens ausstießen. Marcelle, die den Arm Grallons krampfhaft umklammert gehalten hatte, ließ ihn jetzt los, so daß er seinen Weg fortsetzen und sich wieder den Gendarmen anschließen konnte, die in einiger Entfernung in eine Beratung vertieft standen.

Wie eine Quelle, die plötzlich ihr unterirdisches Gefängnis durchbricht, so brach sich die langunterdrückte Liebe Marcelles Bahn und sprudelte mit überwältigender Macht aus der Tiefe ihres Herzens empor. Sie vergaß alles um sich herum, nur das eine nicht, daß Rohan lebte und daß er sein Leben gegen eine große Übermacht zu verteidigen hatte. Sie dachte im Augenblick nicht einmal daran, daß er sich gegen den Kaiser auflehnte und sich weigerte, Soldat zu sein. Ihr Herz war nur von dem einen beseligenden Gefühl erfüllt – er lebt! Noch vor wenigen Stunden hatte sie sich wie ein Schatten ihres früheren Ichs bewegt. Ihre Seele war von einem unaussprechlichen Schmerz erfüllt, etwas in ihr gestorben. Nun war es wieder zu neuem Leben erwacht. Sie, die stillergeben und wie erstarrt ihren Kummer getragen, schüttelte sich wie ein Baum im Sturme, als der erste Hoffnungsstrahl die Eiskruste ihres Herzens aufthaute.

Nicht ohne Stolz dachte sie jetzt an die Kraft ihres Liebsten, der sich bisher so tapfer verteidigt hatte. Ohne Waffen, in nächster Nähe des Feindes und es war ihm doch gelungen, zu entkommen! Irgend ein Zauber mußte ihn schützen – vielleicht liebte ihn der allgütige Gott doch und erbarmte sich seiner Not …

Die Nachricht, daß Rohan Gwenfern sich in dem schwarzen Loch der vom heiligen Gildas verfluchten Kathedrale verstecke, daß er seit vielen Wochen dort oben, von allen Menschen abgeschnitten, ein einsames Dasein friste, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorfe. Alle Welt glaubte, daß der schreckliche Ort von Gespenstern und Geistern heimgesucht sei, die allnächtlich dort ihr Unwesen trieben. Selbst die beherztesten Männer von Kromlaix hatten es noch nie gewagt, die Kathedrale zur Nachtzeit zu betreten. Wer den Mut besaß, Nacht um Nacht dort zuzubringen, mußte entweder mit dem Bösen einen Bund geschlossen haben oder unter dem besonderen Schutze Gottes und aller Heiligen stehen.

Die Meinungen waren geteilt. Einige Schwarzseher behaupteten steif und fest, Rohan müsse sich dem Teufel mit Haut und Haar verschrieben haben und dieser wache nun in dem »Teufelsnest« oben über seinem Leben. Die Mehrheit aber neigte der Ansicht zu, daß Rohan unter dem Schutze eines guten Geistes – des heiligen Gildas selbst – stehe, denn es herrschte eine starke kaiserfeindliche Gegenströmung, die in unverkennbarem Mitleid mit dem Deserteur und in der Meinung, daß er unter göttlichem Schutze stehe, zum Ausdruck kam.

Pipriac entschloß sich nach kurzer Beratung mit seinen Untergebenen, sofort einen Boten nach St. Gurlott mit der Bitte um Verstärkung der Mannschaft zu entsenden. Die überschwemmte Kathedrale wurde von allen Seiten umlagert, so daß eine Flucht aus dem »schwarzen Loch« unmöglich schien.

»Er ist in der Falle,« knurrte Pipriac, »und nur Gott oder der Teufel kann ihn retten.«


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