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Vierzehntes Kapitel.
Bei dem Blutpfuhl Christi

Einige Tage nach der ärztlichen Untersuchung der Konskribierten traf die Marschorder in Kromlaix ein. Die Rekruten hatten zuerst nach Traonili, von dort nach Nantes zu gehen, wo sie ihrem Regiment eingereiht werden sollten, um dann direkt an den Rhein zu marschieren! Die Erfahrungen des verflossenen Jahres hatten Napoleon nicht weiser gemacht, er forderte das Schicksal noch einmal heraus, indem er einen neuen Krieg mit einer noch ungeheuereren Heeresmacht begann. Der Verlust von 500 000 Mann, samt Waffen, Munition und Kanonen hatte ihn nicht entmutigt, denn er brauchte nur den Finger zu rühren und die Gefallenen wurden durch Legionen neuer Kampflustigen ersetzt. Mittlerweile aber hatten sich Rußland und Preußen die Hände gereicht; der »Tugendbund« war ins Leben gerufen worden und ganz Deutschland hatte sich erhoben. Am 16. März erklärte Preußen den Krieg und der Patriotismus der teutonischen Jugend brach wie ein Vulkan hervor. An der Spitze des deutschen Heeres stand Blücher, ein Schüler Friedrichs des Großen. Und als ob dies noch nicht genug wäre, schloß sich auch Schweden den gegen Bonaparte Verbündeten an. Die Franzosen hatten bereits Berlin räumen und sich an die Elbe zurückziehen müssen.

Der Marschbefehl war gekommen, im Hause Derval ging alles drunter und drüber. Die Stimmung war eine sehr trübe. Am Vorabend des Abmarsches versammelte sich eine geschäftige Menge in der Küche des Korporals. Sergeant Pipriac mit seinen vom Schnaps geröteten Äuglein, Mikel Grallon und andere Freunde der Zwillinge waren gekommen, um ein Abschiedsgläschen mit den Rekruten zu trinken. Mutter Derval packte unter Thränen und Seufzern oben in ihrer Kammer die Habseligkeiten der Söhne zusammen. Vergebens bemühte sich Marcelle, sie zu trösten. In den meisten Häusern des Dorfes wurden in jener Nacht bittere Thränen vergossen.

Die Zwillinge schienen ihre gute Laune vollständig eingebüßt zu haben, denn sie ließen trotz des ermunternden Zuspruches und des kreisenden Bechers traurig die Köpfe hängen; selbst der alte Korporal war mißmutig, denn er kannte am besten die furchtbaren Zufälle des Krieges und er liebte seine Neffen aufrichtig.

»Eine unangenehme Sache wird euch, meine Jungens, wenigstens erspart bleiben: die harten Worte des Drillmeisters,« sagte er, wahre Dampfwolken aus seiner Pfeife paffend. »Ihr seid bereits fertige Soldaten. ›Rechts schaut! links schaut! präsentiert! Vorwärts! Marsch!‹ Das alles habt ihr schon in der kleinen Fingerspitze, denn ihr seid von einem alten Haudegen erzogen worden. Man wird mit euch zufrieden sein und ihr werdet rasch vorwärts kommen. Noch eines will ich euch lehren: wenn ihr mit Kavallerie zusammenstoßen solltet, dürft ihr eure Waffen nicht in der veralteten Weise gebrauchen, sondern so.« – Dabei fuchtelte er mit seinem Stock in der Luft herum, um seinen Neffen die Handgriffe praktisch zu demonstrieren. »Ihr werdet den Vorteil bald heraus haben.«

»Das kann schon sein,« brummte Gildas, »wenn nur die Russen und Preußen ihn nicht auch weg haben!«

»Wart', mein Junge, bis du den ersten Pulverdampf gerochen hast, dann kommt dein Mut schon wieder,« tröstete der Onkel. »Das beste dabei ist, daß dies sogleich geschehen wird, denn ihr marschiert direkt auf den Rhein los – mitten in die Komödie hinein!«

»Ich wollte, ich könnte mitgehen!« seufzte Alain. »Ich hab' halt immer Pech und werd' wohl nie aus diesem verdammten Nest herauskommen!«

»Flunkere doch nicht!« rief Hoël ärgerlich. »Du warst totenblaß, als man dich zur Urne rief und hättest gern deinen rechten Arm geopfert, wenn du keine Nummer hättest ziehen müssen.«

»Damals wußte ich ja noch nicht, daß ihr mitmarschieren werdet. Allein hätte ich freilich nicht gehen mögen.«

»Sei ruhig, mein Sohn, auch an dich wird die Reihe kommen und auch an dich, Jannick. Und nun will ich euch Rekruten noch einen guten Rat mit auf den Weg geben,« wandte er sich wieder an die Zwillinge. »Trachtet stets, mit dem Korporal auf gutem Fuße zu stehen, sucht euch ihn zum Freunde zu machen, ebenso den Sergeant; traktiert ihn hie und da mit einem Gläschen Schnaps. Dieser Lockung vermag keiner zu widerstehen. Vergeudet euer Geld nicht bei Marketenderinnen, indem ihr Kameraden traktiert, sondern bewirtet lieber euren Korporal und ihr werdet an ihm einen Freund in der Not haben. Laßt euch von seinem derben, brummigen Wesen nicht abschrecken, benehmt euch ihm gegenüber stets bescheiden und demütig, das wird ihm gefallen.«

»Ganz recht, Onkel Ewen; ich will sofort auf seine Gesundheit trinken, wer immer er auch sein mag!« bemerkte Gildas, sein Glas erhebend.

»Ich selbst habe nach eurem Schuhzeug gesehen, mes garz,« fuhr der Korporal fort, »jeder von euch hat zwei Paar Schuhe, aber keine ganz neuen – sie werden sich wie Samt an eure Füße schmiegen, denn sie sind vom weichsten Leder. Die meisten Rekruten sind lahm, ehe sie Nantes erreichen, weil sie die unerhörte Dummheit begehen, in neuen Schuhen zu marschieren. Anfangs werden euch auch die Tornister lästig sein; ihr müßt sie ganz fest auf die Schulter schnallen und nicht, wie unerfahrene Rekruten es stets thun, lose über den Rücken herunterhängen lassen. Merkt euch all das und ihr werdet euch viel Unbill ersparen.«

Der alte Korporal erteilte all diese Ratschläge in rührseliger Stimmung; er mußte sich sehr zusammennehmen, um die aufsteigenden Thränen zurückzudrängen. Übrigens war die ganze Gesellschaft sehr traurig. Den jungen Burschen erschienen die Zwillinge wie Opferlämmer, die man zur Schlachtbank führt. Nur Mikel Grallon lachte, war guter Laune und stieß immerfort mit den Rekruten an; aber selbst der Schnaps verfehlte heute seine Wirkung – er vermochte die Herzen nicht froh zu stimmen. Gildas und Hoël wußten, daß oben in ihrem Kämmerchen die Mutter bittere Thränen vergoß und daß auch Marcelle sich grämte; sie sahen klar, daß Onkel Ewen sich mit Gewalt zur Ruhe zwang und Sergeant Pipriac sie in seiner derben Weise bedauerte. Zum erstenmal sollten sie dem »Ruhm« entgegengehen, aber sie wären viel lieber zu Hause geblieben.

Während die Männer unten in der Küche fleißig das Glas kreisen ließen, plauderten und rauchten, schlich sich Marcelle aus dem Hause und eilte die Straße hinab, die aus dem Dorfe führte.

Es war Vollmond, aber dunkle Wolkenballen stiegen auf und verfinsterten sein mildes Licht. Von Zeit zu Zeit gab es leichte Regenschauer und der Mond drängte sich hinter die Wolken. Marcelle lief mehr als sie ging. Sie war in ihrem gewöhnlichen Hauskleide und ohne jede Umhülle. Sie stieg den Hügel empor, eilte an der Kirche, dem Friedhof und der Kalvarie vorbei, bekreuzigte sich rasch und lenkte dann, etwa hundert Schritte weiter, in die Straße ein, die zur offenen Haide führte. Sie spähte ängstlich nach allen Seiten, während sie ihren Weg in der Dunkelheit fortsetzte, der ihr nicht ganz fremd zu sein schien, obgleich sie einigemal, wenn sie zu Kreuzungen kam, unschlüssig stehen blieb.

Sie hatte bereits anderthalb Kilometer zurückgelegt und lief noch immer so rasch sie ihre Beine tragen mochten über die einsame Haide dahin, die dicht mit grauen Granitsteinen besäet war, als abermals ein heftiger Regenschauer kam und das Mondlicht auslöschte; dabei heulte der Wind ganz unheimlich. Mit heftig klopfendem Herzen tastete sich Marcelle durch die stockfinstere Nacht weiter. Als der Mond endlich wieder in seiner vollen Pracht aus den Wolken brach, fand sie, was sie so sehnsüchtig suchte.

Vom hellsten Mondschein beleuchtet, erhob sich ein ungeheures Granitkreuz mit der lebensgroßen Gestalt des Gekreuzigten, der das Haupt mit der Dornenkrone zum Himmel emporrichtete; die gebrochenen Augen starrten in das silberne Mondlicht. Um das Kreuz herum wucherte allerlei Unkraut – Brennesseln, Disteln, Lolch und Ginster.

Marcelle zitterte am ganzen Körper, als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte. Sie war so erschöpft, daß sie kaum noch die Kraft besaß, sich zum Fuße des Kreuzes zu schleppen, wo ein in der Mitte gesprungenes, blutrotes Granitbecken angebracht war, das der letzte Regenschauer bis zum Rande mit Wasser angefüllt hatte. Im hellen Mondlicht sah es wie frisches Blut aus.

Dieses rote Granitbecken wurde im Volksmunde der »Blutpfuhl Christi« genannt und galt als sehr heilig – heiliger als der Weihwasserkessel in der Kirche. Das Volk schrieb dem in das Becken fallenden Himmelsthau dieselben Eigenschaften zu, die dem Blute Christi innewohnen – er heilte Kranke, die an seine Wunderkraft glaubten. Noch mehr: wer den Mut besaß, bei Vollmond hierher zu kommen und irgend ein Kleidungsstück oder einen sonstigen Gegenstand, den er am Leibe trug, in das Becken zu tauchen, konnte sicher sein, daß der bewußte Gegenstand die Macht erhielt, von dem Träger jede Gefahr, sogar den Tod fernzuhalten. Nur eine Bedingung war an diesen Zauber geknüpft: das »Eintauchen« mußte in tiefster Einsamkeit vor sich gehen und kein lebendes Wesen durfte das Geheimnis kennen.

Marcelle kniete nieder, obgleich die Disteln und Nesseln ihre Haut verletzten, sprach ein kurzes Gebet und zog dann aus ihrem Mieder zwei Medaillen hervor, die sie mit ihrer rechten Hand vorsichtig in das wassergefüllte Becken gleiten ließ. Vor Ehrfurcht zitternd, schloß sie die Augen und wiederholte das für die Gelegenheit passende Gebet, die Namen Hoël und Gildas besonders betonend; dann fischte sie mit ihren weißen Fingern die Münzen heraus: »Christus sei mit mir,« sagte sie laut, indem sie sie wieder in ihr Mieder gleiten ließ.

Es waren ziemlich große Kupfermünzen, die sie vor langer Zeit vom Korporal geschenkt bekommen und sorgfältig aufbewahrt hatte. Jetzt, da ihre Brüder in den Krieg ziehen sollten, wollte sie sie ihnen als schützende Talismane mitgeben, ohne zu verraten, welcher Zauber ihnen innewohne. Jede der Münzen hatte eine Öse, durch die man eine Schnur ziehen konnte, so daß sie um den Hals zu tragen war. Auf der einen Seite befand sich der lorbeergekrönte Kopf Napoleons, auf der anderen das Miniaturbildchen einer Schlacht, mit der Inschrift: Austerlitz.

Kaum hatte Marcelle ihr Gebet beendet, als sie aufsprang und eilig den Rückweg antrat. Sie war noch keine hundert Schritte gegangen, als sie hinter sich Tritte hörte. Sie preßte die Hand aufs Herz und drehte sich scharf um, doch herrschte wieder eine solche Finsternis, daß sie nichts sehen konnte. Sie begann wie ein gehetztes Wild durch dick und dünn zu laufen, dann blieb sie einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen und siehe da, die Fußtritte waren jetzt dicht hinter ihrem Rücken hörbar. Ein Schauer durchrieselte ihren Körper, aber sie faßte sich Mut und drehte sich noch einmal um. Der Mond lugte für einen einzigen Augenblick aus dem Wolkenschleier hervor, doch lange genug, um ganz deutlich eine übernatürlich hohe Gestalt wahrnehmen zu können.

Ein weniger mutiges Geschöpf wäre unter dem Einfluß der Umgebung und des erregten Seelenzustandes unbedingt in Ohnmacht gefallen. In ganz Kromlaix gab es thatsächlich kein Weib, ja, kaum einen Mann, der es gewagt haben würde, zu einer solchen Stunde allein den »Blutpfuhl Christi« aufzusuchen. Auch Marcelle war im ersten Augenblick wie vom Schreck gelähmt, aber sie faßte sich schnell und ergriff abermals die Flucht. Die unheimliche Gestalt folgte ihr auf dem Fuße, immer näher und näher erschallten die Tritte. Sie lief und lief, bis ihr der Atem stockte und sie nicht mehr weiter konnte, dann blieb sie stehen – entschlossen, dem geisterhaften Verfolger kühn die Stirne zu bieten. Schon fühlte sie seinen heißen Atem, neben ihr stand ein Mann, dessen Antlitz so blaß schien, wie der Mond und ehe sie ihn deutlich sehen konnte, stammelte er kaum vernehmbar: »Marcelle!«

Sie erkannte die Stimme sofort und, o Unberechenbarkeit der Frauennatur, obgleich sie sich seit Tagen danach gesehnt, mit Rohan zusammenzutreffen, erschrak sie jetzt und war keines Wortes fähig. Der Mond trat wieder hell hervor und beleuchtete die Gestalt Rohans vom Kopf bis zu den Füßen. Er war barhaupt und barfuß, das Haar fiel ihm in wilden Strähnen ins Gesicht; sein Anzug war zerrissen. Das zitternde Mädchen glaubte ein Gespenst vor sich zu sehen, selbst seine Stimme klang unnatürlich und heiser.

»Marcelle! Erkennst du mich nicht? Ja, ich bin's, Rohan, und du fürchtest dich vor mir!«

»Ich fürchte mich nicht,« entgegnete Marcelle, sich fassend, »aber du hast mich erschreckt – ich dachte, du seist ein Geist.«

»Ich hielt mich drüben zwischen dem Ginster verborgen und sah dich zum ›Blutpfuhl Christi‹ kommen.«

»Du hast mich gesehen?! Dann hast du meinen Zauber gebrochen,« lautete ihre charakteristische Entgegnung.

»Durchaus nicht!« versicherte Rohan kühl. »Ich kenne weder dein Vorhaben, noch konnte ich dich sehen, während du knietest. Die Nacht ist zu unfreundlich, als daß du sie auswärts verbringen solltest. Du zitterst ja; schau', daß du nach Hause kommst.«

Er sagte das, als ob nie etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre und er mit einer Fremden spräche.

»Hoël und Gildas ziehen morgen in den Krieg und deshalb bin ich hierher gekommen. Meine Leute werden sich wundern, wo ich so lange bleibe,« bemerkte sie in demselben kühlen und fremden Ton, den er angeschlagen hatte. Sie machte Miene, zu gehen, er rührte sich nicht. Nachdem sie einige Schritte weiter gegangen war, blieb sie stehen und wandte ihr blasses Gesicht zurück: »Ich finde es so seltsam, dich hier zu treffen; ich dachte, du seist weit fort … Man sucht im Dorfe nach dir. Vor der Hausthüre deiner Mutter steht Tag und Nacht eine Wache, auch vor der unserigen. Gendarmen, an deren Spitze der alte Pipriac steht, suchen dich. An jedem Hause sind Proklamationen angebracht, dein Name steht darauf; man hat eine Belohnung auf deinen Kopf ausgeschrieben …«

»Das alles weiß ich,« erklärte er, noch immer kalt und ruhig. Er stand bewegungslos auf demselben Fleck und blickte zu ihr hinüber, wie auf das Grab seiner verlorenen Liebe. Sie konnte es nicht länger aushalten; ihre erheuchelte Gleichgültigkeit aufgebend, stand sie mit einem Sprung neben ihm, schlang leidenschaftlich die Arme um seinen Hals und rief schluchzend: »Rohan, Rohan, weshalb sprichst du so kalt zu mir? Wir wußten nicht, was plötzlich mit dir geschehen … Mein Herz ist vor Leid und Kummer fast gebrochen … Gildas und Hoël marschieren morgen direkt an den Rhein … Alle Welt ist hinter dir her, o, es ist furchtbar!«

»Und du

»Ich, mein Rohan, stand immer an deiner Seite. Sie behaupteten, du fürchtest dich; ich sagte ihnen, daß dies nicht wahr sei. Sie sind alle böse auf mich, weil ich dich verteidige. Küsse mich, mein Rohan! Willst du mich nicht küssen?« Als seine kalten Lippen die ihrigen schon fast berührten, hauchte sie freudetrunken: »Ah, mein Rohan, ich wußte, daß du Vernunft annehmen wirst. Es ist noch nicht zu spät, man wird dich begnadigen und du wirst mit den anderen abmarschieren. Komm, komm, laß uns ins Dorf gehen. Gott sei gedankt, daß dem so ist! Onkel Ewen wird die Geschichte vermitteln. Hoël und Gildas werden dir wieder die Hände reichen, alles wird noch gut werden. O, wie ich glücklich bin, mein Rohan!«

Ihr Gesichtchen strahlte wirklich hoffnungsfreudig; sie drückte ihre heißen weichen Lippen leidenschaftlich auf seinen Mund. Ihre vollen Arme hielten noch immer seinen Hals umklammert, als ob sie ihn für Zeit und Ewigkeit festhalten wollten, ihr Herz pochte an dem seinigen.

»Marcelle, Marcelle!« stöhnte er mit gebrochener Stimme. Es bedurfte übermenschlicher Kraft, um ihrem Lockrufe zu widerstehen.

»Mein Rohan!«

»Begreifst du denn noch immer nicht? Willst du mich nicht verstehen? Mein Gott, ich bin nicht schwankend geworden; ich kann nicht mit dir ins Dorf hinunter gehen, denn ich werde mich lebend niemals ergeben!«

Im Nu hatten sich ihre Arme gesenkt, sie trat einige Schritte zurück und starrte ihn entsetzt an.

»Wozu bist du dann nach Kromlaix zurückgekommen?«

»Wozu? Um dich zu sehen, um dich noch einmal zu sprechen, ehe es mit mir zu Ende geht!«

Zitternd und weinend nahm Marcelle seine eiskalte Rechte zwischen ihre warmen, weichen Hände: »Ich beschwöre dich bei allem, was dir heilig ist, begleite mich ins Dorf! Ich, deine Marcelle, bitte dich darum; thu's meinetwegen! Es bricht mir das Herz, wenn alle Welt dich einen Feigling nennt, ich kann es nicht länger ertragen! Und willst du es nicht meinetwegen thun, so thu's um deinetwegen. Du kannst den Häschern nicht entrinnen; sie machen Tag und Nacht Jagd auf dich und wenn sie dich erwischen, bist du des Todes! O, mein Rohan, glaube es mir, der Kaiser ist gut; er wird dich, wie ein Vater den verlorenen Sohn, liebevoll aufnehmen – –«

»Und in die Armee stecken!« unterbrach er sie bitter.

»Was weiter? Du wirst, wie Onkel Ewen, ruhmbedeckt aus dem Krieg heimkehren und jedermann wird dich als Helden verehren.«

»Und du

»Ich? Ich werde dein Weib sein und dich lieben und achten bis übers Grab hinaus – das schwöre ich, mein Rohan!«

»Aber wenn ich auf dem Schlachtfelde bleibe?«

»Dann werde ich dich doppelt lieben und dich betrauern, solange ich lebe. Ich werde Witwentrauer tragen und keinem anderen Manne zum Altar folgen. Du wirst als tapferer Soldat für Kaiser und Vaterland dein Leben auf dem Felde der Ehre ausgehaucht haben und im Himmelreich auf deine treue Marcelle warten. Ich werde dir bald nachkommen und wir werden uns in alle Ewigkeit lieben und küssen. Komm, komm, Geliebter!«

Ihre leidenschaftlichen Bitten und Küsse hätten sicherlich die Energie und die Entschlüsse jedes gewöhnlichen Erdensohnes gebrochen. Wie schön war sie doch in ihrer wilden Erregung! Ein überirdischer Glanz strahlte aus ihren Augen, Worte der Liebe flossen wie Honigseim von ihren Lippen, ihr Busen wogte vor leidenschaftlicher Erregung und Rohan sah das alles; sein Herz pochte zum Zerspringen, das Blut raste in seinen Adern, seine Augen flammten vor verhaltener Leidenschaft und er mußte seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um das zitternde Mädchen nicht an sein Herz zu drücken, aber – er blieb fest: »Marcelle, was du verlangst, ist unmöglich!«

»Rohan, Rohan, habe Erbarmen mit mir schwachem Weibe!« jammerte sie, daß es einen Stein hätte erweichen können.

Er wankte, seine Zähne klapperten wie im Fieber, er drückte die Hand aufs Herz und sank in die Kniee: »Ich kann nicht mit dir gehen, Marcelle, ein Eid bindet mich! Lebe wohl – auf ewig!«

Sie sah ihm lange forschend in die Augen, als ob sie in seiner Seele lesen wollte. Ein furchtbarer Gedanke blitzte ihr durchs Hirn: »Rohan, um der Barmherzigkeit willen! Steh' auf und sag' mir die Wahrheit! Die Leute behaupten, du habest Angst – ist dem wirklich so?«

Rohan sprang, wie von einer Schlange gestochen, auf und maß sie mit spöttischem Blick.

»Sprich, Rohan!«

»Ja, es ist wahr – –«

»Daß du dich fürchtest, daß du ein – –«

»Ja; alles, was die Leute sagen, ist wahr.« Wenn es Tag gewesen wäre, dann hätte sie das gequälte Lächeln, das um seine stolzen Lippen zuckte, eines Besseren belehrt. »Die Leute haben recht, ich will dem Kaiser nicht dienen, ich will nicht in den Krieg gehen, weil – nun, weil ich mich fürchte. Es wird am besten sein, wenn du endlich einmal begreifen lernst, daß ich niemals Soldat sein werde. Mein Herz lehnt sich dagegen auf und … und … daß ich vielleicht alles das bin, wofür mich die Menschen halten. Wäre es anders, Marcelle, dann würde mich deine Liebe in Versuchung führen, aber ich besitze den Mut nicht, zu thun, was du von mir verlangst. Wie du zitterst, Mädchen – es ist kalt. Spute dich, damit du nach Hause kommst.«

Sie knickte wie gebrochen zusammen. Kein Wort des Zornes, kein Wort der Verachtung entschlüpfte ihren Lippen, sie weinte nur still vor sich hin und diese Thränen brannten wie Feuertropfen in seiner Seele. Sie, die Rohan für den tapfersten, edelsten Menschen auf Erden gehalten hatte, mußte einsehen lernen, daß sie einen Feigling geliebt! O, wie weh das that! Freilich, wenn sie mehr Menschen- und Weltkenntnis besessen hätte, würde sie sich wohl gesagt haben, daß derjenige, der sich selbst mit den bösesten Namen brandmarkt, in den seltensten Fällen diese auch verdient. Aber Marcelle war nur ein einfaches, schlichtes Dorfmädchen und Rohan selbst hatte zugestanden, daß ihn die Dorfleute mit Recht der Feigheit beschuldigten – mußte sie seinen Worten nicht glauben, obgleich sich ihr Herz dagegen auflehnte?

Mit thränenüberströmtem Antlitz schlich sie davon.

»Marcelle, willst du mir nicht noch einmal deine Hand zum Abschied reichen? Willst du mir nicht Lebewohl sagen?« stammelte Rohan.

Sie blieb zaghaft stehen, brachte aber kein Wort hervor. Er faßte sie bei beiden Händen und küßte sie sanft auf jede Wange: »Gott mit dir, Marcelle! Du kannst mich nicht begreifen und ich tadle dich darob nicht. Aber ich bitte dich, falls mir etwas Schlimmes zustoßen sollte, nicht mit Zorn und Verachtung meiner zu gedenken. Vielleicht wird Gott so gnädig sein, dich eines Tages zu erleuchten, dann wirst du mich auch verstehen und besser von mir denken. Lebe wohl! Gott schütze dich!« Seufzend wandte er sich, um zu gehen; sie faßte ihn am Arm und rief leidenschaftlich: »Sie werden dich finden und töten – das wird entsetzlich sein! Wohin gehst du? Wo wirst du dich verstecken?«

»Gott wird meine Schritte lenken, ich stehe in seiner Hand. Ich glaube nicht, daß sie mich finden werden. Bewahre mir deine Liebe!«

Damit war er im Dunkel der Nacht verschwunden.

Eine Stunde nach jener seltsamen Begegnung beim »Blutpfuhl Christi« schlüpfte Marcelle wieder ungesehen in ihre Kammer. Mutter Derval saß noch immer weinend vor den gepackten Kofferchen ihrer Söhne und wollte sich nicht trösten lassen. Gegen Mitternacht ward es auch in der Küche still. Hoël und Gildas, die vor Tagesanbruch abmarschieren mußten, hatten sich in den Kleidern aufs Bett geworfen und waren sofort in tiefen Schlaf gesunken. Der Korporal legte sich gar nicht zur Ruhe; er saß vor dem Feuerherd mit der erkalteten Pfeife im Munde. Der Abschied von seinen beiden Neffen ging ihm näher, als er gedacht. Er blieb wach, um sie zur rechten Zeit wecken und ein Stück Weges begleiten zu können.

Mittlerweile wanderte Rohan Gwenfern wie ein düsteres Gespenst in der Dunkelheit dahin. Die Unterredung mit Marcelle, die er über alles liebte, hatte ihn wohl tief erschüttert, aber in seinem festen Entschluß nicht wankend gemacht. Die leidenschaftliche Liebe in seinem Herzen kämpfte einen harten Kampf gegen das kalte Ideal in seiner Seele. Er fühlte noch immer Marcelles heiße Umarmung und sagte sich, daß gar mancher Mann für weniger süße Küsse seiner Seele Seligkeit geopfert haben würde.

Seit zwei Tagen und Nächten hatte er kein Auge geschlossen und so gut wie nichts gegessen. Es regnete noch immer und mit jedem neuen Guß wurde es dunkler und dunkler. Erschöpft und todestraurig schleppte er sich zum Kreuz zurück, warf sich ins feuchte Gras, lehnte den Kopf gegen das Steinbecken, das ihn vor dem Regen schützte und verfiel in tiefen Schlaf.


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