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Fünfunddreißigstes Kapitel.
Die letzte Hoffnung

Als Rohan das Thor der Kapelle der Notre Dame de la Garde erreichte, trat gerade eine Frau mit bleichen, schreckverzerrten Zügen heraus. Es war Frau Gwenfern, die ängstlich umherspähte, dann seinen Arm ergriff und mühsam hauchte: »Flieh', mein Sohn, flieh'! Die Bluthunde sind wieder hinter dir her! Sie suchen dich von Haus zu Haus! Furchtbare Nachrichten sind eingetroffen, der Kaiser ist wieder in Paris und hat den Krieg erklärt.«

Es wurde Rohan dunkel vor den Augen, er schwankte und preßte die Hand aufs wild pochende Herz. Er hatte diese Botschaft zwar schon längst erwartet, nichtsdestoweniger traf sie ihn jetzt wie ein Keulenschlag.

»Gehen wir in die Kapelle!« stammelte er.

Das kleine Gebäude hatte sich seit jenem glücklichen Tage, da er an der Seite Marcelles, der er seine Liebe gestanden, ein Dankgebet hier verrichtete, in nichts geändert. Das Bildnis der Heiligen Jungfrau stand noch immer vor dem Altar und war von allerlei Gaben umringt; auch das Altarbild glänzte noch in grellen Farben und wurde von den letzten Sonnenstrahlen hell beleuchtet.

Mutter Gwenfern erzählte rasch die näheren Einzelheiten: das Dorf befand sich in nicht geringer Aufregung, da die Royalisten die Nachricht von dem vollkommenen Siege des Kaisers nicht glaubten. Eine Abteilung Gendarmerie sei jedoch von St. Gurlott herübergekommen, um »im Namen des Kaisers« nach Deserteuren zu fahnden. Das sei ganz sicher, denn sie hatten bereits bei ihr eine strenge Hausdurchsuchung gehalten. Man erinnerte sich auch an den Tod Pipriacs, der gerächt werden sollte.

In einigen Augenblicken war das zärtliche Liebeswerk von Monaten zerstört. Jenes wilde Leuchten seiner Augen, das Marcelle am Tage seiner Rückkehr so sehr erschreckt hatte, flammte während des Berichtes seiner Mutter in Rohans Augen wieder auf. Sein Hirn brannte, das Herz drohte ihm zu zerspringen. Kein Wort kam über seine Lippen, dafür aber ein hysterisches Lachen, wenn sich dieser Ausdruck auf einen Mann anwenden läßt. In diesem schrillen Lachen lag übrigens mehr als eine bloße nervöse Spannung: die Zeichen eines beginnenden Wahnsinns, der seinen Geist zu umnachten und seine Seele zu ersticken drohte, gaben sich darin kund.

»Rohan, Rohan, sprich doch ein Wort! Blick' mich nicht so furchtbar an! Sie sollen dich nicht kriegen, mein armes Kind!« jammerte die entsetzte Mutter, sich an seinen Arm klammernd.

Er starrte sie, ohne zu antworten, an und brach abermals in ein schrilles Lachen aus. – – – – – – – – –

Spät am Abend saß Onkel Ewen vor dem Kamin und las der Witwe und Marcelle die Zeitung vor: die eben aus Paris kommenden großen Neuigkeiten, daß Europa sich weigere, auf freundschaftlichem Wege mit dem Usurpator zu verhandeln und daß die riesigen Heere der Großmächte sich wie große Wolken an der Grenze erhoben, regten ihn sichtlich auf. Der Kongreß der Verbündeten tagte in Frankfurt, von dort die Bewegungen einer Million Soldaten dirigierend. Die Kaiser von Rußland und Österreich und der König von Preußen behaupteten wieder das Feld; England bot seine Hilfe in Form von 36 Millionen Pfund in Geld und einem kleinen Kontingent von 80 000 Mann unter Wellingtons Führung.

»Feiglinge!« preßte der Korporal zwischen den Zähnen hervor. »Eine Million Mann gegen Frankreich und den kleinen Korporal! Aber ihr werdet sehen, wie er sie auf einen Schlag niederschmettern wird! Ich habe einst einen kleinen Trommelschläger einen Riesengrenadier zur Erde schlagen gesehen. So wird es auch unser Kaiser machen!«

»Wird es also wieder Krieg geben?« seufzte Mutter Derval.

»Einen Krieg auf Leben und Tod,« entgegnete der Korporal feierlich. »Entweder muß der Kaiser diese Schufte umbringen oder sie bringen ihn um. Da giebt es keinen Pardon! Paris wird jetzt so befestigt, daß der Feind es auf keinen Fall einnehmen kann. In den nächsten Tagen wird Napoleon wieder die Obermacht gewinnen – – –«

»Hat niemand von euch Rohan gesehen?« fragte Gildas, in die Küche tretend. Er kam aus dem Wirtshaus, wo er seinen nimmer zu löschenden Durst zu stillen gesucht hatte. »Sie suchen ihn schon wieder.« Dabei deutete er über die Schulter hinweg zur Thüre, die er hinter sich offen gelassen.

»Sie waren schon hier,« entgegnete Derval, einen besorgten Blick auf die an allen Gliedern zitternde Marcelle werfend, »und ich versprach ihnen, die Geschichte zu ordnen. Rohan bietet sich jetzt die beste Gelegenheit, seinen guten Ruf für ewige Zeiten wieder herzustellen und sich dabei seine Haut zu sichern. Es giebt nur mehr diese letzte Rettung für ihn und die muß er ergreifen, ehe es zu spät ist.«

»Wie das?« forschte Marcelle.

»Zum Teufel! Der Kaiser braucht jetzt dringender denn je Soldaten – alle Wölfe der Welt lehnen sich gegen ihn auf – und derjenige, der ihm in dieser Zeit der Not freiwillig Hilfe anbietet, sühnt jede begangene Schuld. Rohan soll sich bei ihm oder, was dasselbe ist, bei der nächsten Militärstation freiwillig melden und erklären, daß er bereit sei, gegen die Feinde Frankreichs ins Feld zu ziehen und alles wird vergessen und vergeben sein!«

»Dessen bin ich nicht so sicher,« warf Gildas ein. »Ich habe eben mit dem Gendarmen Penvenn, einem Freunde Pipriacs, ein Gläschen getrunken und er behauptet, daß Rohan auf jeden Fall erschossen wird; das finde ich schmachvoll!«

»Penvenn ist ein Esel! Glaubst du, daß ich keinen Einfluß beim Kaiser habe? Ich sage dir, daß er begnadigt wird, wenn er sich als Soldat meldet. Was meinst du, Kleine? Ist dein Liebster noch immer ein Feigling?«

»Onkel, wie kannst du das sagen?« rief Marcelle mit zitternden Lippen.

»Du hast recht, mein Kind. Ich vergaß mich. Rohan ist ein braver, mutiger Junge, das hat er bei deiner Rettung bewiesen. Ach, wenn er uns jetzt enttäuschen sollte, wo die Vorsehung selbst ihm den Weg zur Rettung zeigt, wo der kleine Korporal so nötig seine Hilfe braucht und ihn wie den verlorenen Sohn willkommen heißen würde! – – –«

Ein Schrei Marcelles unterbrach den Redestrom des Alten. Sie sprang auf, denn mitten in dem Gemach stand Rohan – ein gebrochener Greis! Der plötzliche Schreck schien die Macht gehabt zu haben, ihn in seine frühere Gestalt zu verwandeln und ihm wieder den Ausdruck eines gehetzten, halbverhungerten Tieres zu verleihen. Auf dem abgehärmten Gesicht spiegelten sich seine Seelenqualen deutlich ab. Mit wilden, hungrigen Blicken starrte er von einem der Anwesenden zum anderen, ohne ein Wort zu sprechen.

»Rohan!« schrie der Alte, nach Atem ringend. »Gildas, schließe die Thüre!«

Dies geschah sofort. Zur Vorsicht schob der Held von Dresden auch noch den Riegel vor. Im Nu standen die beiden Frauen neben Rohan, die Witwe schluchzend, Marcelle totenblaß, aber trockenen Auges. Derval erhob sich schwerfällig und näherte sich taumelnd seinem Neffen: »Fürchte nichts, mein Junge; sie sind wohl hinter dir her, aber ich werde die Sache schon in Ordnung bringen. Du hast dich widerspenstig benommen, aber sie werden durch die Finger sehen, wenn du jetzt wie ein Mann handelst. Wir haben keine Minute zu verlieren. Kreuze den großen Sumpf und du wirst vor ihnen St. Gurlott erreichen. Geh' geradeaus in die Rosengasse und melde dich beim Hauptmann Figuier, sag' ihm, daß ich dich schicke – – – Großer Gott, ist der Junge verrückt?« schrie der alte Mann auf.

Die Frage schien ganz berechtigt, denn Rohan starrte, ohne ein Wort von dem zu hören, was er ihm sagte, in die Luft und lachte vor sich hin. Vor Angst zitternd, klammerte sich Marcelle an seinen Arm und sprach auf ihn ein: »Rohan! Verstehst du denn nicht? Sie sind wieder hinter dir her, und wenn du dich nicht freiwillig stellst, wirst du erschossen.«

»Und wenn ich mich stelle?« fragte er ruhig, aber mit heiserer Stimme.

»Dann wird man dir alles verzeihen,« nahm der Korporal wieder das Wort. »Man wird dir eine Flinte und einen Tornister geben, du wirst dich der großen Armee anschließen, dich mit Ruhm bedecken und, wenn der Krieg vorbei ist, als tapferer Mann zu uns zurückkehren. Meine kleine Marcelle wird dich erwarten und dir als Gattin in dein Haus folgen.«

Der alte Mann hatte sich ganz warm gesprochen, obgleich ihn die Haltung und der geistesabwesende Blick Rohans verwirrte.

»Und wenn ich mich nicht freiwillig stelle, was geschieht dann?« fragte Rohan, kein Auge von Marcelle wendend.

»Dann wird man dich wie einen tollen Hund erschießen; aber du wirst mit Gottes Hilfe nicht so unvernünftig sein, deinen letzten Rettungsanker nicht zu ergreifen,« bemerkte Onkel Ewen besorgt.

»Giebt es keinen anderen Ausweg?«

»Nein! Du vergeudest nur die kostbare Zeit, mein Junge!«

»Doch, es giebt einen,« erklärte Rohan mit derselben heiseren Stimme und demselben geistesabwesenden Blick. Als aller Augen sich fragend auf ihn richteten, fuhr er fort: »Wenn der Kaiser aus der Welt geschafft würde!«

Der Alte sank entsetzt in seinen Stuhl.

»Gott behüte ihn davor! Schon der Gedanke ist Verrat!«

Ohne die Worte des Onkels zu beachten, die Augen noch immer fest auf Marcelle gerichtet, flüsterte Rohan, als ob er nur mit ihr spräche: »Wenn man ihn allein, im Schlaf, von der Dunkelheit der Nacht geschützt, überraschen könnte, das wäre eine gute That! Es wäre ein Leben statt Hunderttausender und die Welt hätte ihren Frieden!«

»Rohan!« schrie Marcelle entsetzt auf und wich scheu vor ihm zurück, denn in seinen Augen lauerte der Mord; sein Antlitz war verzerrt, er umklammerte mit seinen Fingern ein unsichtbares Messer.

»Bei den Gebeinen des heiligen Triffine, er spricht vom Kaiser!« murmelte Gildas.

»Hinweg von seiner Seite, er lästert und ist gefährlich!« schrie der Korporal Marcelle zu.

»Das ist richtig,« entgegnete Rohan, sein totenbleiches Antlitz dem Korporal zuwendend, »aber du kannst ruhig sein, Onkel, ihr werde ich nichts thun – niemandem der hier Anwesenden! Gute Nacht, Onkel Ewen; lebe wohl, Tante Derval und auch ihr, Marcelle und Gildas! Ich gehe!«

»Bleib, Rohan!« schrie Marcelle, seinen Arm umklammernd. »Wohin gehst du?«

Er schüttelte sie ab und verließ, ohne zu antworten, das Gemach. Der Korporal stöhnte verzweifelt auf, Gildas ließ einen langgezogenen Pfiff zwischen seinen Zähnen ertönen, die Witwe schluchzte und Marcelle sank, die Hand aufs Herz gedrückt, in den nächsten Stuhl. Rohan war wie ein Geist aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Als die Abgesandten Bonapartes gegen Abend ihre Haussuchungen fortsetzten, konnten sie keine Spur von ihm finden.


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