Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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Vorrede zur ersten Ausgabe

Wenn die Menge der Schöpfungstage zwar nicht immer den Werken der Darstellung, aber allezeit den Werken der Untersuchung vorteilhaft ist: so darf der Verfasser nachstehendes Buch mit einiger Hoffnung übergeben, da er auf dasselbe so viel solcher Tage verwandte als auf alle seine Werke zusammengenommen, nämlich über zehntausend; indem es ebensowohl das Resultat als die Quelle der vorigen und mit ihnen in aufsteigender und in absteigender Linie zugleich verwandt ist.

Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern. Selten wird ein junger Mensch sein Honorar für ästhetische Vorlesungen richtig erlegen, ohne dasselbe nach wenigen Monaten vom Publikum wieder einzufordern für etwas ähnliches Gedrucktes; ja manche tragen schon mit diesem jenes ab.

Es ist sehr leicht, mit einigen abgerissenen Kunsturteilen ein Kunstwerk zu begleiten, d. h. aus dessen reichem gestirnten Himmel sich Sterne zu beliebigen Bildern der Einteilung zusammenzulesen. Etwas anderes aber als eine Rezension ist eine Ästhetik, obgleich jedes Urteil den Schein einer eignen hinterhaltigen geben will.

Indes versuchen es einige und liefern das, was sie wissenschaftliche Konstruktion nennen. Allein wenn bei den englischen und französischen Ästhetikern, z. B. Home, Beattie, Fontenelle, Voltaire, wenigstens der Künstler etwas, obgleich auf Kosten des Philosophen, gewinnt, nämlich einige technische Kallipädie: so erbeutet bei den neuern transzendenten Ästhetikern der Philosoph nicht mehr als der Künstler, d. h. ein halbes Nichts. Ich berufe mich auf ihre zwei verschiedene Wege, nichts zu sagen. Der erste ist der des Parallelismus, auf welchem Reinhold, Schiller und andere ebensooft auch Systeme darstellen; man hält nämlich den Gegenstand, anstatt ihn absolut zu konstruieren, an irgendeinen zweiten (in unserm Falle Dichtkunst etwa an Philosophie, oder an bildende und zeichnende Künste) und vergleicht willkürliche Merkmale so unnütz hin und her, als es z. B. sein würde, wenn man von der Tanzkunst durch die Vergleichung mit der Fechtkunst einige Begriffe beibringen wollte und deswegen bemerkte, die eine rege mehr die Füße, die andere mehr die Arme, jene sich nur mehr in krummen, diese mehr in geraden Linien, jene für, diese gegen einen Menschen etc. Ins Unendliche reichen diese Vergleichungen, und am Ende ist man nicht einmal beim Anfange. Möge der reiche warme Görres diese vergleichende Anatomie oder vielmehr anatomische Vergleichung gegen eine würdigere Bahn seiner Kraft vertauschen!Er hat es getan, z. B. in den Büchern über die indische Mythologie und über die altdeutschen Volkbücher; aber diesem Geiste sind durch die Fülle so verschiedener Kräfte und Kenntnisse fast überall und an entgegengesetzten Enden Flügel gewachsen, die ihm das Lenken erschweren.

Der zweite Weg zum ästhetischen Nichts ist die neueste Leichtigkeit, in die weitesten Kunstwörter – jetzo von solcher Weite, daß darin selber das Sein nur schwimmt – das Gediegenste konstruierend zu zerlassen; z. B. die Poesie als die Indifferenz des objektiven und subjektiven Pols zu setzen. Dies ist nicht nur so falsch, sondern auch so wahr, daß ich frage: was ist nicht zu polarisieren und zu indifferenzieren? –

Aber der alte unheilbare Krebs der Philosophie kriecht hier rückwärts, daß sie nämlich auf dem entgegengesetzten Irrwege der gemeinen Leute, welche etwas zu begreifen glauben, bloß weil sie es anschauen, umgekehrt das anzuschauen meint, was sie nur denkt. Beide Verwechslungen des Überschlagens mit dem Innestehen gehören bloß der Schnellwaage einer entgegengesetzten Übung an.

Hat nun hier schon der Philosoph nichts – was für ihn doch immer etwas ist –, so lässet sich denken, was der Künstler lieben möge, nämlich unendlich weniger. Er ist ein Koch, der die Säuren und Schärfen nach dem Demokritus zubereiten soll, welcher den Geschmack derselben aus den winklichten Anschießungen aller Salze (wiewohl die Zitronensäure so gut wie Öl aus Kugelteilen besteht) zu konstruieren suchte.

Ältere deutsche Ästhetiker, welche Künstlern nützen wollten, ließen sich statt des transzendenten Fehlers, den Demant der Kunst zu verflüchtigen und darauf uns seinen Kohlenstoff vorzuzeigen, den viel leichtern zu Schulden kommen, den Demant zu erklären als ein Aggregat von – Demantpulver. Man lese in Riedels unbedeutender Theorie der schönen Künste z. B. den Artikel des Lächerlichen nach, das immer aus einer »drollichten, unerwarteten, scherzhaften, lustigen Zusammensetzung« zusammengesetzt wird – oder in Platners alter Anthropologie die Definition des Humors, welche bloß in den Wiederholungen des Worts: Sonderbar besteht – oder gar in Adelung. Die heuristischen Formeln, welche der Künstler von undichterischen Geschmacklehrern empfängt, lauten alle wie eine ähnliche in Adelungs Buch über den StilB. II. S. 336.: »Briefe, welche Empfindungen und Leidenschaften erregen sollen, finden in der rührenden und pathetischen Schreibart Hülfsmittel genug, ihre Absicht zu erreichen«, sagt er und meint seine zwei Kapitel über die Sache. In diesen logischen Zirkel ist jede undichterische Schönheit-Lehre eingekerkert.

Noch willkürlicher als die Erklärungen sind die Einteilungen, welche das künftig erscheinende Geisterreich, wovon jeder einzelne vom Himmel steigende Genius ein neues Blatt für die Ästhetik mitbringt, abschneiden und hinaussperren müssen, da sie es nicht antizipieren können. Darum sind die säkularischen Einteilungen der Musenwerke so wahr und scharf als in Leipzig die vierfache Einteilung der Musensöhne in die der fränkischen, polnischen, meißnischen und sächsischen Nation; – welche Vierherrschaft (Tetrarchie) in Paris im Gebäude der vier Nationen wiederkommt. Jede Klassifikation ist so lange wahr, als die neue Klasse fehlt.

Die rechte Ästhetik wird daher nur einst von einem, der Dichter und Philosoph zugleich zu sein vermag, geschrieben werden; er wird eine angewandte für den Philosophen geben, und eine angewandtere für den Künstler. Wenn die transzendente bloß eine mathematische Klanglehre ist, welche die Töne der poetischen Leier in Zahlen-Verhältnisse auflöset: so ist die gemeinere nach Aristoteles eine Harmonistik (Generalbaß), welche wenigstens negativ tonsetzen lehrt. Eine Melodistik gibt der Ton- und der Dichtkunst nur der Genius des Augenblicks; was der Ästhetiker dazu liefern kann, ist selber Melodie, nämlich dichterische Darstellung, welcher alsdann die verwandte zutönt. Alles Schöne kann nur wieder durch etwas Schönes sowohl bezeichnet werden als erweckt.

Über die gegenwärtige Ästhetik hab' ich nichts zu sagen, als daß sie wenigstens mehr von mir als von andern gemacht und die meinige ist, insofern ein Mensch im druckpapiernen Weltalter, wo der Schreibtisch so nah' am Bücherschranke steht, das Wort mein von einem Gedanken aussprechen darf. Indes sprech' ich es aus von den Programmen über das Lächerliche, den Humor, die Ironie und den Witz; ihnen wünscht' ich wohl bei forschenden Richtern ein aufmerksames, ruhiges Durchblättern, und folglich der Verknüpfung wegen auch denen, die teils vor, teils hinter ihnen stehen, und andere sind ohnehin nicht da. Übrigens könnte jeder Leser bedenken, daß, wie ein gegebener Autor einen gegebenen Leser voraussetzt, so ein gebender einen gebenden, z. B. der Fernschreiber (Telegraph) stets ein Fernrohr. Kein Autor erdreistet sich, allen Lesern zu schreiben; gleichwohl erkeckt sich jeder Leser, alle Autoren zu lesen.

In unsern kritischen Tagen einer kranken Zeit muß Fieber, in der gegenwärtigen Reformation-Geschichte muß Bauernkrieg, kurz, jetzo in unserer Arche, woraus der Rabe wie über die alte Sündflut früher ausgeschickt wurde als die Taube, welche wiederkam mit einem grünen Zweig, muß der Zorn regieren; und vor ihm bedarf jeder einiger Entschuldigung, der in Milde hineingerät und wie Pythagoras und Numa statt lebendiges Fleisch und Blut nur Mehl und Wein zum Opfer bringt. Ich will nicht leugnen, daß ich im letzten Falle bin; ich weiß, wie wenig ich über berühmte Schriftsteller tadelnde Urteile mit jener schneidenden Schärfe gefällt, welche literarische Kopfabschneider und Vertilgung-Krieger fodern können. Spricht man von der Schärfe des Lachens, so gibt es allerdings keine zu große. Hingegen in Rücksicht des Ernstes, behaupte ich, ist an und für sich Melanchthons Milde so sittlich-gleichgültig als Luthers Strenge, sobald mir der eine wie der andere den Tadel ohne persönliche Freude – ungleich jetzigen Reich-Sturm-Fahnen-Junkern –, das Lob hingegen ohne persönliche Freude – ungleich schlaffem langen Gewürm, das Füße und den davon abgeschüttelten Staub leckt – austeilt. Nicht Unparteilichkeit ist dem Erden-Menschen anzusinnen, sondern nur Bewußtsein derselben, und zwar eines, das sich nicht nur eines guten Zieles, auch guter Mittel bewußt ist.

Da der Verfasser dieses lieber für jedes Du parteiisch sein will als für ein Ich: so befiehlt er seinen Lesern, nicht etwa in dieser philosophischen Baute ein heimliches ästhetisches Ehr- und Lehrgebäude, an meine biographischen Bauten angestoßen, eine Zimmermannbaurede oben auf dem Giebel des Gebäudes zu erwarten, sondern lieber das Gegenteil. Schneidet denn der Professor der Moral eine Sittenlehre etwa nach seinen Sünden zu? Und kann er denn nicht Gesetze zugleich anerkennen und übertreten, folglich aus Schwäche, nicht aus Unwissenheit? Das ist aber auch der Fall der ästhetischen Professuren.

Als rechte Unparteilichkeit rechnet er es sich an, daß er fast wenige Autoren mit Tadel belegte als solche, die großes Lob verdienen; nur diese sind es wert, daß man sie so wie Menschen, die selig werden, in das Fegfeuer wirft; in die Hölle gehören die Verdammten. Man sollte auf Mode-Köpfe so wenig als auf Mode-Kleider Satiren machen, da an beiden die Individualität so schnell verfliegt und nichts besteht als die allgemeine Narrheit; sonst schreibt man Ephemeriden der Ephemeren (Tagblätter der Eintagfliegen).

Sollt es' dem Werke zu sehr an erläuternden Beispielen mangelnDie Anmerkung ist bloß für die Gelehrten, welche in jedem Werke nichts lieber haben und nützen als ein anderes, nämlich die sogenannten Hasen-Öhrchen oder Gänseaugen und Gänsefüße, womit die Buchdrucker typisch genug die Anführ-Typen benennen.: so entschuldigt man es mit der Eigenheit des Verfassers, daß er selten Bücher besitzt, die er bewundert und auswendig kann. Wie Themistokles eine Vergessenheit-Kunst gegen Beleidigungen, so wünscht er eine gegen deren Gegenteil, die Schönheiten; und wenn Platner wahr bemerkt, daß der Mensch mehr seiner Freuden als seiner Leiden sich erinnere: so ist dies bloß schlimm bei ästhetischen. Oft hat er deswegen – um nur etwas zu haben – ein ausländisches Werk, das er unendlich liebte, in einer schlechtern Übersetzung oder im Original oder im Nach- oder im Prachtdruck wiedergelesen. Nie wird er daher – insofern es vom Willen abhängt – etwa wie Skaliger den Homer in 21 Tagen und die übrigen griechischen Dichter in vier Monaten auswendig gelernt hersagen, oder mit Barthius den Terenz im 9ten Jahre vor seinem Vater abbeten – eben aus Furcht, die Grazien zu oft nackt zu sehen, welche die Vergessenheit, wie ein Sokrates, reizend bekleidet.

Noch ist einiges zu sagen, was weniger den Leser des Werks als den Literator interessiert. Der Titel Vorschule, Proscholium, wo sonst den Schülern äußerlicher oder eleganter Unterricht im Schulhofe zukam, hatte anfangs Programmen oder Einladungschriften zu dem Proscholium oder der Vorschule einer Ästhetik (noch ist davon im Werk die Einteilung in Programmen) heißen sollen; indes da er – wie die gewöhnlichen Titel: Leitfaden zur, erste Linien einer, Versuch einer Einleitung in – mehr aus Bescheidenheit gewählt worden als aus Überzeugung: so hoff' ich wird auch der bloße abgekürzte einfache Titel »Vorschule der Ästhetik« nicht ganz unbescheiden das ausdrücken, was er sagen will, nämlich: eine Ästhetik.

Angefügt sind noch die drei Leipziger Vorlesungen für sogenannte Stilistiker und für Poetiker, d. h. von mir so genannt. Ich wünsche nämlich, daß die prosaische Partei im neuesten Kriege zwischen Prose und Poesie – der kein neuer, nur ein erneuerter, aber vor- und rückwärts ewiger ist – mir es verstatte, sie Stilistiker zu nennen, unter welchen ich nichts meine als Menschen ohne allen poetischen Sinn. Dichten sie (will ich damit sagen), so wirds symmetrisch ausgeteilte Dinte, nachher in Druckerschwärze abgeschattet; – leben sie, so ists spieß- und pfahlbürgerlich in der fernsten Vorstadt der sogenannten Gottes-Stadt; – machen sie Urteile und Ästhetiken, so scheren sie die Lorbeerbäume, die Erkenntnis- und die Lebensbäume in die beliebigen Kugelformen der gallischen Vexier-Gärtnerei, z. B. in runde, spitze Affen-Köpfe (»o Gott,« sagen sie, »es ahme doch stets die Kunst dem Menschen nach, freilich unter Einschränkung!«).

Diesen ästhetischen Piccinisten stehen nun gegenüber die ästhetischen Gluckisten, wovon ich diejenigen die Poetiker nenne, die nicht eben Poeten sind. Meine innigste Überzeugung ist, daß die neuere Schule im Ganzen und Großen recht hat und folglich endlich behält – daß die Zeit die Gegner selber so lange verändern wird, bis sie die fremde Veränderung für Bekehrung halten – und daß die neue polarische Morgenröte nach der längsten Nacht, obwohl einen Frühling lang ohne Phöbus oder mit einem halbenBekanntlich geht die halbjährige Winter-Nacht am Pole durch immer längere Morgenröten endlich in den Gleicher-Tag über, wo sich die Sonne als halbe Scheibe um den ganzen Horizont bewegt. täglich erscheinend, doch nur einer steigenden Sonne vortrete. Ebenso ist seit der Thomas-Sonnen-Wende von und in Kant endlich die Philosophie so viele winterliche Zeichen vom dialektischen Steinbock an bis durch die kritischen Wassermänner und kalten Fische durchlaufen, daß sie jetzo wirklich unter den Frühlingszeichen den Widder und Stier hinter sich hat, wenn man zwei bekannte Häupter hinter dem Oberhaupt Kant so nennen will, welche sich gegenseitig Lehrer, Nachahmer, Freunde und Widerleger geworden – und in das Zeichen der Zwillinge, der Vermählung der Religion und Philosophie, aufsteigt. Früher stand Jacobi einsam da und voraus; jetzo schlingt der Deutsche immer vielfacher um Philosophie und Religion ein Band, und Clodius, der Verfasser der allgemeinen Religionslehre, ist nicht der letzte; die Poesie feiert diese Vermählung mit ihrem großen Hochzeitgedicht auf das All.

Was übrigens gleichwohl wider die Poetiker zu sagen ist – nun, die zweite Vorlesung hats ihnen schon in der Ostermesse gesagt. Denn es ist wohl klar, daß sie jetzo – weil jede Verdauung (sogar die der Zeit) ein Fieber ist – umgekehrt jedes Fieber für eine Verdauung (nämlich keiner bloßen Krankheitmaterie, sondern eines Eßmittels) ansehen. –

Wenn Bayle strenge, aber mit Recht das historische Ideal mit den Worten: »la perfection d'une histoire est d'être desagréable à toutes les sectes« aufstellt: so glaubt' ich, daß dieses Ideal auch der literarischen Geschichte vorzuschweben habe; wenigstens hab' ich darnach gerungen, keiner Partei weniger zu mißfallen als der andern. Möchten doch die Parteien, die ich eben darum angefallen, unparteiisch entscheiden (es ist mein Lohn), ob ich das Ziel der Vollkommenheit errungen, das Bayle begehrt.

Möge diese Vorschule nicht in eine Kampf- oder Trivialschule führen, sondern etwa in eine Spinn-, ja in eine Samenschule, weil in beiden etwas wächst.

Baireuth, den 12. August 1804.

Jean Paul Fr. Richter


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